OGH 12Os114/98

OGH12Os114/981.10.1998

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. Oktober 1998 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rzeszut als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler, Dr. E. Adamovic, Dr. Holzweber und Dr. Philipp als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Urban als Schriftführer, in der Strafsache gegen Johann L***** wegen des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1, Abs 2 erster Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 39 E Vr 715/97 des Landesgerichtes Innsbruck, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 26. November 1997, AZ 6 Bs 521/97, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Fabrizy, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Verfahren AZ 39 E Vr 715/97 des Landesgerichtes Innsbruck verletzt das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 26. November 1997, AZ 6 Bs 521/97 (GZ 39 E Vr 715/97-27), durch die Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 17. November 1997, GZ 39 Vr 2573/97-11, das Gesetz im § 31 Abs 1 StGB.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 5. Mai 1997, GZ 39 E Vr 715/97-18, wurde Johann L***** mehrerer strafbarer Handlungen schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Infolge von Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft erwuchs dieses Urteil zunächst nicht in Rechtskraft.

Bei anhängigen Rechtsmittelverfahren wurde der Verurteilte mit sogleich in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 17. November 1997, GZ 39 Vr 2573/97-11, wegen (überwiegend) einschlägiger Straftaten, welche er teils vor, teils nach dem Urteil vom 5. Mai 1997 begangen hatte, zu achtzehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.

Nachdem der Angeklagte in der Berufungsverhandlung seine Berufung gegen das eingangs bezeichnete Urteil zurückgezogen hatte, gab das Oberlandesgericht Innsbruck mit Urteil vom 26. November 1997, AZ 6 Bs 521/97 (GZ 39 E Vr 715/97-27 des Landesgerichtes Innsbruck), der Berufung der Staatsanwaltschaft nicht Folge und sprach aus, daß die Freiheitsstrafe von acht Monaten unter Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 17. November 1997, GZ 39 Vr 2573/97-11, gemäß §§ 31, 40 StGB als Zusatzstrafe verhängt wird.

Rechtliche Beurteilung

Dieser Ausspruch steht, wie von der Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, inhaltlich der Beschwerdeargumentation allerdings ersichtlich mit entgegengesetzter (auf Beschwerdeverwerfung ausgerichteter) Intention, geltend gemacht, mit dem Gesetz nicht im Einklang, denn die Bedachtnahme gemäß § 31 StGB durch das Rechtsmittelgericht auf ein nach der angefochtenen Entscheidung gefälltes Urteil setzt voraus, daß die Tatzeiten der damit abgesprochenen Straftaten zur Gänze vor dem angefochtenen Erkenntnis liegen (Leukauf/Steininger Komm3 RN 12, Foregger/Kodek StGB6 Anm II und III, je zu § 31 StGB; EvBl 1989/51, 1984/124). Eine Zusatz-"Strafe bei nachträglicher Verurteilung" im Sinn des § 31 StGB hat nämlich nach Maßgabe der gesetzlich geforderten theoretischen Möglichkeit gemeinsamer Tataburteilung in dem früheren Verfahren begriffsessentiell zur Bedingung, daß die der Letztsanktion unterfallende Tat nach dem Vorurteil abgeurteilt wird, was wegen der untrennbaren Verknüpfung von Schuld- und Strafausspruch jedenfalls dann ausscheidet, wenn sich der Strafausspruch - wie hier - auf einen bereits vor der Folgetat gefällten Schuldspruch bezieht.

Die Generalprokuratur vermag insgesamt keinen stichhältigen Grund darzutun, der ein Abgehen von der dieser wortlautkonformen Gesetzesauslegung entsprechenden stän- digen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gerecht- fertigt erscheinen ließe.

Die Anwendung des § 31 StGB mit seinen einschneidenden materiellen Rechtsauswirkungen hat objektiv gesicherten, für jeden Verurteilten gleichen Kriterien, nicht aber - wie auch die Generalprokuratur, wenngleich aus anderer Sicht einräumt - dem Parteieneinfluß unterliegenden prozessualen Zufallskonstellationen, wie hier der Anfechtung des Strafausspruchs durch die Anklagebehörde oder einer bestimmten fallbezogenen Verteidigungsstrategie des jeweiligen Angeklagten, Rechnung zu tragen.

Gerade letzteres aber wäre zwangsläufige Folge der von der Beschwerde angestrebten Gesetzesinterpretation, weil es darnach unabhängig von der durchwegs objektiv determinierten Frage, ob zwei (oder mehrere) Straftaten vorübergehend einer gemeinsamen Aburteilung offenstanden, dem Belieben des Verurteilten überlassen bliebe, durch eine Anfechtung des erstgerichtlichen Sanktionsausspruches selbst dann die Verhängung einer ihn jedenfalls begünstigenden Zusatzstrafe unter Bedachtnahme auf seine nach Fällung des Ersturteils begangenen und vor der Berufungsentscheidung rechtskräftig abgeurteilten Straftaten zu erzwingen, wenn sein Rechtsmittel gänzlich erfolglos bliebe. Die dadurch bedingte Schlechterstellung des - in der Regel geständigen - Straftäters, der ein gegen ihn ergangenes Strafurteil unangefochten läßt, könnte keineswegs, wie die Generalprokuratur vermeint, durch erschwerende Berücksichtigung der Straffälligkeit während des anhängigen Rechtsmittelverfahrens eliminiert werden. Denn mit der Anwendung des § 31 StGB sind weitere gesetzliche Begünstigungen, etwa der Ausschluß einer gesonderten Berücksichtigung beider Verurteilungen als rückfallsbegründend im Sinne des § 39 StGB und eine tilgungsrechtliche Besserstellung (§ 4 Abs 5 TilgG), zwingend verbunden. Speziell zur Strafschärfung bei Rückfall ist dem Gesetzgeber ein derartiger Favorisierungswille vorweg nicht zusinnbar, weil deren kriminalpolitische Ausrichtung die strengere Ahndung von Deliktshandlungen solcher Täter, die sich nicht einmal - wie hier - von einer sie betreffenden strafgerichtlichen Verurteilung samt anhängigem Rechtsmittelverfahren beeindrucken lassen, akzentuiert miteinschließt.

Die von der Generalprokuratur angeregte Auslegung des § 31 StGB, der nichts anderes bezweckt, als den Verurteilten vor sanktionsrechtlichen Nachteilen durch eine zwar theoretisch mögliche, im Einzelfall jedoch unterbliebene gemeinsame Verfahrensführung zu bewahren, vor allem aber keine "Gesamtregelung der Straffrage" im Auge hat, wäre der von der Beschwerde an sich zu Recht geforderten rationalen und nicht von aleatorischen Momenten geprägten Strafrechtsanwendung weit weniger dienlich als jene, die der dazu ergangenen Judikatur zugrundeliegt.

Darnach kommt eine originäre Bedachtnahme durch das Rechtsmittelgericht auf ein seiner Entscheidung zeitlich vorgelagertes Strafurteil - von dem in jeder Hinsicht unbedenklichen Fall abgesehen, daß es die nach der Zeit der Tatbegehung an sich schon dem Erstgericht möglich gewesene Verhängung einer Zusatzstrafe infolge mittlerweile einge- tretener Rechtskraft der betreffenden Entscheidung lediglich nachholt - nur dann und insoweit unvermeidlich (wenn auch mit einer außerhalb des Gesetzeszweckes liegenden Besserstellung des Straftäters verbunden) in Betracht, wenn das angefochtene Urteil infolge Fehlerhaftigkeit zunächst durch Kassierung beseitigt werden mußte. Demgegenüber würde durch die angestrebte Gesetzesinterpretation der Anwendungsbereich des § 31 StGB für das Berufungsgericht darüber hinaus auf alle Fälle der Entscheidung über eine Berufung gegen den Strafausspruch, sei sie positiv oder - wie im konkreten Fall - nicht, ausgedehnt und gerade in diesem - die Fälle zweiter Rechtsgänge nach Urteilskassierung der Zahl nach weit übersteigenden - Anwendungsbereich von der zufälligen Anfechtung durch die Anklagebehörde oder der Prozeßtaktik des Angeklagten abhängig.

Eine derartige Auslegung verbietet sich daher sinnfällig auch aus Gründen der Teleologie. Dies umsomehr, als - wie oben bereits angesprochen - der unmißverständliche Gesetzeswortlaut eine ausdehnende Anwendung des § 31 StGB im Sinne der Beschwerde keineswegs nahelegt. Ungeachtet des Fehlens eines (schon bei Inkrafttreten dieses Gesetzes nicht mehr in Geltung gestandenen) Neuerungsverbotes im Berufungsverfahren liegt nämlich eine nachträglichen Verurteilung im Sinne dieser Norm dann nicht vor, wenn das Berufungsgericht - möglicherweise sogar negativ - bloß über eine Sanktionsanfechtung entscheidet. Die davon abweichend angeregte extensive Interpretation widerspricht vielmehr dem erklärten Willen des historischen Gesetzgebers, welcher mit der Regelung des § 31 StGB gegenüber der Vorgängerbestimmung des § 265 aF StPO, ohne von dem insoweit für die Anwendung maßgeblichen Zeitpunkt des Urteils erster Instanz abzurücken, keine inhaltliche Änderung normieren wollte (RV 30 BlgNR XIII.GP, 120, 158, 159).

Somit beruht die von der Generalprokuratur kritisierte Rechtsprechung zu § 31 StGB keinesfalls "auf einer unkritischen Übernahme der zum alten Recht ergangenen Judikatur", sondern auf einer - vor allem aus der Sicht materiellrechtlich relevanter Zusammenhänge - teleologisch fundierten und im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut stehenden Auslegung, welche insbesondere auch wesentliche staatliche Tatahndungsinteressen im sensiblen Bereich der Rückfallskriminalität gebührend berücksichtigt.

Die durch Aufhebung des Neuerungsverbotes im Berufungsverfahren bereits vor Jahrzehnten normierte prozessuale Änderung bietet demnach keinen berechtigten Grund dafür, von der - auch im Sinne der Generalprokuratur grundsätzlich von manipulierbaren prozessualen Unabwäg- barkeiten zu lösenden - bisherigen Auslegung dieser materiellrechtlichen Norm abzugehen, schon gar nicht durch Bezugnahme auf die damit in keinerlei Sinnzusammenhang stehende Gesamtregelung der Straffrage nach §§ 494a f StPO und durch die Unterstellung eines (hier gesetzesfremden) Regelungszweckes zur Begünstigung solcher (gravierend auffälliger) Wiederholungstäter, die sich nicht einmal von einem anhängigen Rechtsmittelverfahren von weiterer Straffälligkeit abhalten lassen.

Die Gesetzesverletzung, die dem Verurteilten zum Vorteil gereicht, war daher in Stattgebung der zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde festzustellen.

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