Spruch:
Die Urteile des Bezirksgerichtes Abtenau vom 13.September 1989, GZ U 16/89-17, und des Landesgerichtes Salzburg als Berufungsgericht vom 6.Dezember 1989, AZ 43 Bl 144/89, verletzen jeweils das Gesetz in den Bestimmungen des § 88 Abs. 1 und Abs. 4, erster Fall, iVm § 6 StGB.
Beide Urteile werden aufgehoben, und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Gründe:
Mit dem Urteil des Bezirksgerichtes Abtenau vom 13. September 1989, GZ U 16/89-17, wurde der am 12.März 1986 geborene kaufmännische Angestellte Andreas R*** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 und Abs. 4, erster Fall, StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe sowie zur Bezahlung eines (Teil-)Schmerzengeldbetrages von 1.000 S an den Privatbeteiligten Willi W*** verurteilt, weil er als Schiläufer am 27. Jänner 1989 auf der Piste des Lärchenkoglliftes (Abfahrt: Zwieselalm-Riedlkar) "unter Außerachtlassung der erforderlichen Aufmerksamkeit und Sorgfalt seine Fahrgeschwindigkeit und Fahrweise nicht dem vorderen, langsameren Schiläufer Willi W*** anpaßte und zu diesem beim Überholen keinen angemessenen Sicherheitsabstand einhielt, den Genannten, den er dabei streifte und zu Sturz brachte, wodurch dieser einen Bruch des linken äußeren Knöchels sowie eine Prellung des linken Knies, sohin teils schwere Verletzungen erlitt", fahrlässig am Körper verletzte.
Die von Andreas R*** gegen dieses Urteil erhobene Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe wurde mit Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom 6.Dezember 1989, AZ 43 Bl 144/89 (ON 21 der erstgerichtlichen Akten), als unbegründet zurückgewiesen. Beide Urteile stehen mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Die Gerichte gingen von folgendem Sachverhalt aus:
Die am Unfall Beteiligten waren als zumindest gute Schiläufer einzustufen, die kontrolliertes Fahren beherrschten. Zur Unfallszeit bestanden gute Sicht und ausgezeichnete Schneeverhältnisse (Pulverschnee); die (im Unfallsbereich) ca 20 m breite Piste wahr sehr gut präpariert. Die Unfallstelle lag im Bereich des Überganges von einem Steil- in ein Flachstück (siehe S 15 d.A und das in der Panoramakarte S 23 d.A eingezeichnete rote Kreuz etwa im letzten Viertel der Piste 13).
Als der Angeklagte Andreas R*** ungefähr 100 m oberhalb (vor) der späteren Unfallstelle losgefahren war, hatte er Willi W*** erstmals beobachtet, der in der Folge - wie der Angeklagte ferner wahrnahm - mit weit ausholenden Schwüngen zwischen dem rechten Pistenrand und der Pistenmitte abfuhr, während der Angeklagte etwa 5 bis 8 m oberhalb (hinter) W*** im linken Pistenbereich mit Parallelschwüngen in einem Breitenbedarf von etwa 5 m zu Tal fuhr. Der Längsabstand der beiden Schiläufer verjüngte sich sodann immer mehr, bis der Angeklagte zu W*** aufschloß. Kurz vor dem Übergang des Steilstücks in das Flachstück fuhr W*** nach einem Linksbogen in einem Winkel von etwa 45 Grad zur Fallinie schräg nach links unten in Richtung Pistenmitte. R***, der nach einem Rechtsschwung in Richtung rechts unten fuhr, versuchte noch unmittelbar vor dem Unfall durch einen Linksschwung auszuweichen. Dies gelang ihm jedoch nicht, und er rammte W***, der im Zuge der Kollision im Bereich des "linken Außenschenkels" (gemeint: der Außenseite des linken Unterschenkels) einen Schlag verspürte, zu Sturz kam und sich hiedurch die erwähnten Verletzungen zuzog. Hätte R*** seine Geschwindigkeit und Fahrweise dem vorderen, langsameren Schiläufer angepaßt und beim Überholen einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten, wäre der Zusammenstoß vermeidbar gewesen.
Rechtliche Beurteilung
Soweit beide Instanzen bei Prüfung der objektiven Sorgfaltswidrigkeit gemäß dem Begriff der Fahrlässigkeit (§ 6 StGB) die sogenannten FIS-Regeln - das sind die vom Internationalen Schiverband (FIS) geforderten (zehn) Verhaltensregeln - sowie den Pistenordnungsentwurf (POE) des Österreichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit im Sinn von Verkehrsnormen (Verkehrssitte) als Beurteilungsmaßstab heranziehen, welche die der gefahrengeneigten Tätigkeit des Schilaufs immanenten Sorgfaltsgrundsätze zusammenfassen, ist den Gerichten zuzustimmen (vgl Burgstaller im WK Rz 46, 57 zu § 6 StGB; Pichler-Holzer, Handbuch des österreichischen Skirechts, 149 ff mwN; Lamprecht-Schröcksnadel-Wagner, Die Verkehrssicherungspflicht auf Skiabfahrten, 10 f).
Es fehlt aber - der Auffassung des Berufungsgerichtes zuwider - im Ersturteil an deutlichen und ausreichenden Feststellungen tatsächlicher Natur, die den Sorgfaltsverstoß des Angeklagten R*** auf der Grundlage der erwähnten Verkehrsnormen bejahen ließen (§ 281 Abs. 1 Z 5 und 9 lit a StPO):
Dem Urteil ist weder zu entnehmen, worin der dem Angeklagten im Spruch vorgeworfene Aufmerksamkeitsmangel bestanden habe, noch (mit der erforderlichen Deutlichkeit), an welcher ungefähren Stelle im Verhältnis zur Pistenmitte (oder zum Pistenrand) der Zusammenstoß stattfand und ob das Erstgericht der Verantwortung des Angeklagten, wonach W*** unvermutet in seine Fahrspur in der linken Pistenhälfte geraten sei (vgl S 21, 78 f, 92 d.A), oder der anderslautenden Darstellung des W*** folgte, derzufolge ihn, ohne daß er seine Fahrlinie oder Fahrweise geändert hätte, der Angeklagte mit überhöhter Geschwindigkeit von hinten gerammt habe (siehe S 19, 80 f, 94 d.A).
Nur bei der letzten Version könnte der in den Urteilen beider Instanzen erhobene Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit durch überhöhte, nicht dem vorderen Schiläufer angepaßte Geschwindigkeit (Verstoß gegen die FIS-Regeln 1 bis 3 und § 8 POE - s auch Pichler-Holzer aaO 170 ff) aufrechterhalten werden. Einer solchen Sachverhaltsvariante steht allerdings die Urteilsannahme entgegen, daß der Angeklagte ca 100 m vor der Unfallstelle etwa 5 bis 8 m "oberhalb" (gemeint wohl hinter) W*** fuhr und letztlich (offenbar) erst kurz vor der Unfallstelle (also nach etwa 100 m) zu ihm aufschloß (S 90 f d.A), woraus - zumal W*** sich weiter in Fahrt befand - denknotwendig eine nur sehr geringe Geschwindigkeitsdifferenz und damit noch keine Unangepaßtheit der Geschwindigkeit im Verhältnis zu jener des vorderen Schiläufers folgt.
Hätte aber der Angeklagte bei der ersten Sachverhaltsvariante W*** mit nur geringfügig höherer Geschwindigkeit zu überholen versucht, dann käme es entscheidend auf das Ausmaß des Seitenabstandes an, in dem unter Beibehaltung der bisherigen Fahrweisen, insbesondere auch des Breitenbedarfes der Schiläufer, das Überholen vor sich gegangen wäre.
Beim Überholen handelt es sich um ein im Pistenschilauf sehr häufiges Fahrmanöver, das nach Punkt 4 der FIS-Regeln (der § 9 POE entspricht - Pichler-Holzer aaO, 178) aus sämtlichen Fahrpositionen, nämlich sowohl von oben oder unten, als auch von rechts oder links durchgeführt werden darf, sofern nur ein
solcher - angemessener - (Seiten-) Abstand eingehalten wird, der dem überholten Schifahrer für alle seine Bewegungen genügend Raum läßt. Diese Umschreibung des Seitenabstandes bedarf im konkreten Fall einer orts- und situationsbezogenen Relativierung durch eine Reihe von Faktoren: Breite, Steilheit, Präparierungszustand der Piste, Schneebeschaffenheit, Fahrkönnen, Geschwindigkeiten und Fahrweise der Schiläufer, Sichtverhältnisse, Verkehrsdichte. Von der Gesamtheit dieser Voraussetzungen hängt die aktuelle mit der Ausübung des Schisports wesensmäßig verbundene Gefahr ab. Je geringer der Gefährlichkeitsgrad ist, umso eher kann ein Überholen im Schilauf für zulässig angesehen werden und umso geringer kann gegebenenfalls auch der angemessene (§ 9 POE)
Sicherheits- (= Seiten-) Abstand sein, der dem Überholten für seine Bewegungen genügend Raum läßt.
Unter den vom Erstgericht als erwiesen angenommenen günstigen Voraussetzungen - ausgezeichnete Schnee- und Pistenverhältnisse, gute Sicht, offenbar geringe Verkehrsdichte, guter Leistungsstandard der Schiläufer, die beide kontrolliertes Fahren
beherrschten - durfte der Angeklagte an sich im Vertrauen darauf überholen, daß der von ihm beobachtete W*** seine kontrollierte Fahrweise in der rechten Pistenhälfte beibehalten werde (vgl zum Vertrauensgrundsatz im Pistenschilauf: mwN aaO Burgstaller Rz 54; Pichler-Holzer 159 f). Im Falle eines geringen Geschwindigkeitsunterschiedes und einer auch absolut nicht hohen Geschwindigkeit wäre ein verhältnismäßig kurzer - bei der Pistengesamtbreite von (bloß) 20 m jedoch noch
einhaltbarer - Seitenabstand für zulässig anzusehen. Beide Instanzen beschränken sich insofern auf den
unsubstantiierten Vorwurf mangelnder Angemessenheit des Sicherheitsabstandes, ohne daß aus dem Urteilssachverhalt ersichtlich wäre, in welchem ungefähren Seitenabstand das Überholen unter Annahme der Beibehaltung der Fahrweisen und der Fahrtrichtung beider Schiläufer vonstatten gegangen wäre und worin die Unangemessenheit des Seitenabstandes zu sehen ist.
Zu Recht hat daher der Angeklagte in seiner Berufung den Mangel einer entsprechenden Tatsachenfeststellung der Sache nach als materielle Nichtigkeit nach dem § 281 Abs. 1 Z 9 lit a (§ 468 Abs. 1 Z 4) StPO geltend gemacht. Nur bei Substantiierung des Vorwurfs der Unangemessenheit des Seitenabstandes (im Fall zulässigen Überholens) käme dem Angeklagten der Vertrauensgrundsatz nach der herrschenden Auffassung nicht zugute (Pichler-Holzer aaO 159 ua). Somit hätte das Berufungsgericht schon aus dem Grund der erwähnten materiellen Nichtigkeit des Urteils der Berufung des Angeklagten Folge zu geben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die erste Instanz zu verweisen gehabt. Der von der Generalprokuratur gemäß dem § 33 Abs. 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher stattzugeben und wie im Spruch zu erkennen.
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