OGH 11Os37/92-5

OGH11Os37/92-514.4.1992

Der Oberste Gerichtshof hat am 14.April 1992 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Piska als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Walenta, Dr. Rzeszut, Dr. Hager und Dr. Schindler als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kohout als Schriftführer in der Strafsache gegen Ing. Andreas M***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 15. November 1991, AZ II Bl 412/91, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, des Generalanwaltes Dr. Jerabek, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 15. November 1991, AZ II Bl 412/91, verletzt das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 473 Abs. 2, 475 Abs. 1 und 476 StPO iVm § 3 StPO.

Dieses Urteil und der gleichzeitig (gemäß dem § 494 a Abs. 1 Z 2 und Abs. 7 StPO) gefaßte Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck vom 15.November 1991, AZ II Bl 412/91, werden aufgehoben und es wird dem Landesgericht Innsbruck aufgetragen, über die Berufung des öffentlichen Anklägers sowie über dessen Anträge (ON 6) neuerlich zu verhandeln und zu entscheiden.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 10.September 1991, GZ 10 U 271/91-5, wurde der am 29.November 1965 geborene Bauleiter Ing. Andreas M***** von dem wider ihn wegen § 88 Abs. 1 StGB erhobenen Anklagevorwurf gemäß dem § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Das Erstgericht stellte hiezu fest, daß er am 17. Juni 1991 als Lenker eines LKW auf das Abbremsmanöver des vor ihm fahrenden, von Ing. Andreas K***** gelenkten PKW zu spät aufmerksam wurde und diesem Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von "unter 5 km/h" auffuhr, wodurch Ing. Andreas K***** ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule erlitt und drei Wochen (die letzte Woche nicht mehr durchgehend) eine Schanzkrawatte tragen mußte. Den Freispruch stützte das Erstgericht auf § 42 StGB. Über die Beweisanträge der Verteidigung auf Einholung eines kraftfahrzeugtechnischen Sachbefundes "zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung" des Fahrzeuges des Ing. K***** und auf Einholung eines medizinischen Sachbefundes über Art und Dauer der Verletzung des Genannten unter Verwertung der Ergebnisse des technischen Gutachtens erkannte das Erstgericht nicht.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung des öffentlichen Anklägers wegen Nichtigkeit gab das Landesgericht Innsbruck mit Urteil vom 15.November 1991, AZ II Bl 412/91 (GZ 10 U 271/91-10 des Bezirksgerichtes Innsbruck), Folge, hob das angefochtene Urteil als nichtig auf und erkannte in der Sache selbst, indem es Ing. Andreas M***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach dem § 88 Abs. 1 StGB schuldig sprach. Das Berufungsgericht nahm selbst keine Beweisaufnahme vor, sondern legte den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt seiner Entscheidung zugrunde.

Das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck steht mit dem Gesetz nicht im Einklang. Das Berufungsgericht darf nach Aufhebung eines freisprechenden Urteils - aus welchen Gründen immer - nur dann in der Sache selbst entscheiden, wenn es im Urteil die Tatsachen, die bei richtiger Anwendung des Gesetzes dem Erkenntnis zugrunde zu legen wären, nach einem mängelfreien Verfahren mit unbedenklicher Begründung festgestellt findet (siehe SSt. 37/22, 51/2 = RZ 1980/21, 12 Os 61,62/70, 9 Os 118/79, 10 Os 172/80). Andernfalls muß es - von dem im § 470 Z 3 StPO geregelten Fall abgesehen - in der Berufungsverhandlung, die den Charakter einer neuen, mit erhöhten Garantien für die Ermittlung der Wahrheit und des Rechts ausgestatteten Hauptverhandlung hat (siehe EvBl. 1981/177 = JBl. 1981, 445, Foregger-Serini4, Erl. III zu § 463 StPO), den Grundsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gemäß, das vom Erstgericht durchgeführte Beweisverfahren wiederholen und ergänzen (so 9 Os 118/79). Dies ergibt sich schon aus der Erwägung, daß eine Prozeßpartei, die durch die Entscheidung erster Instanz nicht beschwert wurde und daher kein Anfechtungsrecht hatte, nicht schlechter gestellt werden darf als jene Prozeßpartei, gegen die schon in erster Instanz ein (schuldigsprechendes) Urteil ergangen ist und die daher in der Lage war, eine Verfahrens- und Mängelrüge zu erheben (siehe SSt. 37/22). Nur so kommt das Gericht seiner im § 3 StPO niedergelegten Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit nach (vgl. neuerlich EvBl. 1981/177 = JBl. 1981, 445).

Im vorliegenden Fall hatte der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung zwar schuldig bekannt, doch dahin verantwortet, daß Ing. K***** ihm gegenüber erklärt habe, nicht verletzt zu sein. Im Zusammenhalt mit dieser Verantwortung zielten die erwähnten Beweisanträge unmißverständlich auf den Ausschluß einer Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit von mehr als dreitägiger Dauer ab. Durch die Unterlassung der begehrten Beweisaufnahmen wurde der Angeklagte in seinen Verteidigungsrechten verletzt. Weiters gab das Erstgericht - im Hinblick auf den Freispruch - keine ausreichenden Gründe für seine Tatsachenfeststellungen an. Dabei hätte es sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die von ihm festgestellte Verletzung des Ing. K***** mit der angenommenen Auffahrgeschwindigkeit von "unter 5 km/h" in Einklang zu bringen ist. Dem Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck haftet daher zum Nachteil des Angeklagten der Nichtigkeitsgrund des § 468 Abs. 1 Z 3 (§ 281 Abs. 1 Z 4 und 5) StPO an, den der Angeklagte mangels Beschwer infolge seines Freispruches nicht mit einem Rechtsmittel geltend machen konnte.

Da sich die vom Erstgericht getroffenen Sachverhaltsfeststellungen somit nicht als verfahrens- und begründungsmängelfrei erweisen, hätte das Berufungsgericht - um seiner Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit (§ 3 StPO) zu entsprechen - ohne Wiederholung und Ergänzung des vom Erstgericht vorgenommenen Beweisverfahrens (vgl. die §§ 473 Abs. 2, 475 Abs. 1, 476 StPO in ihrem Zusammenhalt mit § 3 StPO) nicht in der Sache selbst erkennen dürfen.

Der von der Generalprokuratur gemäß dem § 33 Abs. 2 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes war daher stattzugeben und gemäß dem § 292 StPO wie im Spruch zu erkennen. Aus Anlaß der kassatorischen Entscheidung war auch der mit dem aufgehobenen Strafausspruch in untrennbarem sachlichen Zusammenhang stehende Beschluß des Berufungsgerichtes vom 15. November 1991, AZ II Bl 412/91, mit welchem zwar vom Widerruf der bedingten Nachsicht der mit Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 29.Dezember 1989, AZ 10 U 1072/89, verhängten Geldstrafe ungeachtet der neuerlichen Verurteilung gemäß dem § 494 a Abs. 1 Z 2 StPO abgesehen, jedoch die Probezeit auf fünf Jahre verlängert (§ 494 a Abs. 7 StPO) wurde, aufzuheben.

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