OGH 11Os14/17v

OGH11Os14/17v21.3.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 21. März 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Melounek als Schriftführerin in der Strafsache gegen Igor R***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 24. November 2016, GZ 15 Hv 73/16z‑53, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0110OS00014.17V.0321.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Igor R***** jeweils mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I./) und der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB idF BGBl 60/1974 (II./) sowie der Vergehen der pornographischen Darstellungen Minderjähriger nach § 207a Abs 3 zweiter Fall, Abs 4 Z 1 StGB (III./1./), nach § 207a Abs 3 erster Fall, Abs 4 Z 3 lit a erster Fall StGB (III./2./) und nach § 207a Abs 3 erster und zweiter Fall, Abs 4 Z 3 lit b StGB (III./3./) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Hinsichtlich der Taten I./, II./, III./1./ und III./3./ wurde er nach § 21 Abs 2 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Ausschließlich gegen den Ausspruch nach § 21 Abs 2 StGB richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3, Z 4 und Z 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

Dr. Franz S***** erstattete im Ermittlungsverfahren im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein Gutachten aus dem Fachgebiet der Psychiatrie, in welchem er dem Angeklagten eine Störung der Sexualpräferenz im Sinn einer Pädophilie sowie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestierte, das Vorliegen eines „hochpathologischen Verhaltens im Sinn einer schweren seelischen Abartigkeit höheren Grades“ jedoch ebenso verneinte wie eine mit einer solchen zusammenhängende höhere Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten (ON 25, 40).

In der Hauptverhandlung bestellte das Gericht Univ.‑Prof. Dr. Manfred W***** zum Sachverständigen (ON 46 S 9; ON 47, 48; ON 52 S 7 ff) und lehnte Anträge des Angeklagten auf „Beiziehung und Ladung des Sachverständigen Dr. S*****“ (ON 52 S 2 f) sowie auf Verlesung dessen „Gutachtens aus dem Ermittlungsverfahren“ „gemäß § 252 Abs 1 Z 4 StPO“ (ON 52 S 6 f) und „gemäß § 252 Abs 2 StPO“ (ON 52 S 11 ff) ab.

Ebenso wurde der Antrag des Angeklagten „auf Beiziehung eines weiteren Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und Neurologie zum Beweis dafür, dass beim Angeklagten kein hochpathologisches Verhalten im Sinne einer schweren Abartigkeit höheren Grades angenommen werden kann“, abgewiesen (ON 52 S 11 ff).

Die Anordnung einer Maßnahme nach § 21 StGB stellt einen Ausspruch nach § 260 Abs 1 Z 3 StPO dar, der grundsätzlich mit Berufung und nach Maßgabe des § 281 Abs 1 Z 11 StPO auch mit Nichtigkeitsbeschwerde bekämpft werden kann. Dabei sind Überschreitung der Anordnungsbefugnis (§ 281 Abs 1 Z 11 erster Fall StPO) und Ermessensentscheidung innerhalb dieser Befugnis zu unterscheiden. Gegenstand der Nichtigkeitsbeschwerde ist jedenfalls die Überschreitung der Anordnungsbefugnis, deren Kriterien der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades beruhende Zustand, dessen Einfluss auf die Anlasstat sowie deren Mindeststrafdrohung nach § 21 StGB sind. Hinsichtlich von für die Sanktionsbefugnis entscheidenden Tatsachen ist neben der Berufung auch die Bekämpfung mit Verfahrens-, Mängel- und Tatsachenrüge (§ 281 Abs 1 Z 11 erster Fall iVm Z 2 bis 5a StPO) zulässig. Werden die gesetzlichen Kriterien für die Ermessensentscheidung (Gefährlichkeitsprognose) verkannt oder wird die Prognosetat verfehlt als solche mit schweren Folgen beurteilt, kommt auch eine Anfechtung aus § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO in Betracht (vgl zum Ganzen Ratz in WK² StGB Vor §§ 21 bis 25 Rz 8 ff mwN). In diesem Fall liegt Nichtigkeit vor, wenn die in Frage gestellte Gefährlichkeitsprognose zumindest eine der in § 21 Abs 1 StGB genannten Erkenntnisquellen vernachlässigt oder die aus den gesetzlich angeordneten Erkenntnisquellen gebildete Feststellungsgrundlage die Ableitung der Befürchtung, also der rechtlichen Wertung einer hohen Wahrscheinlichkeit für die Sachverhaltsannahme, der Rechtsbrecher werde eine oder mehrere bestimmte Handlungen begehen, welche ihrerseits rechtlich als mit Strafe bedroht und entsprechend sozialschädlich (mit schweren Folgen) zu beurteilen wären, als willkürlich erscheinen lässt. Der Gefährlichkeitsprognose zugrunde liegende Feststellungen können aus Z 11 zweiter Fall – anders als bei Sachverhaltsannahmen zur Beurteilung der Sanktionsbefugnis (Z 11 erster Fall) – mit Verfahrens‑, Mängel- oder Tatsachenrüge nicht bekämpft werden (RIS‑Justiz RS0118581, RS0113980; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 715 ff).

Der Beschwerdekritik (nominell „Z 3“, der Sache nach Z 11 erster Fall iVm Z 3 [vgl Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 120; RIS‑Justiz RS0118923]) zuwider liegt im Unterbleiben der Verlesung des Gutachtens Dris. S***** in der Hauptverhandlung weder ein Nichtigkeit (iSd der taxativen Aufzählung in § 281 Abs 1 Z 3 StPO) bewirkender Verstoß gegen § 252 Abs 1 Z 4 StPO noch ein solcher gegen § 252 Abs 2 StPO.

Der weiteren Rüge (nominell Z 4; der Sache nach Z 11 erster Fall iVm Z 4) zuwider konnten die Verlesung des Gutachtens und die Vernehmung des Dr. S***** ebenso ohne Verletzung von Verteidigungsrechten unterbleiben wie die Bestellung eines weiteren Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und Neurologie.

Die entsprechenden Anträge der Verteidigung zielten darauf ab, die gutachterlichen Schlussfolgerungen des im Hauptverfahren vom Gericht bestellten Sachverständigen Univ.‑Prof. Dr. W*****, der von einer tat‑(mit‑)bestimmenden (schweren) Störung der Sexualpräferenz und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit dependenten und narzisstischen Anteilen sowie einer damit einhergehenden hohen Wahrscheinlichkeit einer Tatwiederholung ausging (ON 48 [insbesondere S 23 ff], ON 52 S 7 ff), zu entkräften.

Gemäß § 127 Abs 3 erster Satz StPO ist – soweit im gegebenen Zusammenhang bedeutsam – ein weiterer Sachverständiger nur dann beizuziehen, wenn der Befund unbestimmt oder das Gutachten widersprüchlich oder sonst mangelhaft ist und sich die Bedenken nicht durch Befragung des Experten beseitigen lassen. Erachtet das Gericht – wie hier – diese Voraussetzungen als nicht gegeben, muss in einem auf Beiziehung eines weiteren Sachverständigen gerichteten Antrag (§ 55 Abs 1 StPO) fundiert dargetan werden, warum Befund oder Gutachten aus Sicht des Antragstellers dennoch im beschriebenen Sinn mangelhaft sein sollen. Ein Befund ist unbestimmt, wenn die Erörterungen des Sachverständigen nicht verständlich oder nicht nachvollziehbar sind oder ihnen nicht zu entnehmen ist, welche Tatsachen der Sachverständige als erwiesen angenommen hat, ferner wenn der Befund in sich widersprüchlich ist oder wenn er nicht erkennen lässt, aus welchen Gründen der Sachverständige zu den darin festgestellten Tatsachen kommt. Ein Gutachten ist „sonst“– nämlich außer dem Fall der Widersprüchlichkeit – „mangelhaft“ im Sinn des § 127 Abs 3 erster Satz StPO, wenn es unschlüssig, unklar oder unbegründet ist, den Gesetzen der Logik widerspricht oder nicht mit den gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft übereinstimmt (vgl 13 Os 141/11a [13 Os 160/11w] ua).

Da der Beschwerdeführer in seinem Antrag auf Bestellung eines anderen Sachverständigen Mängel der dargestellten Art in Befund oder Gutachten des vom Gericht bestellten Experten nicht einmal ansatzweise behauptete, wurde dieses Begehren zu Recht abgewiesen.

Gleiches gilt für die Anträge auf Einbringung des im Ermittlungsverfahren eingeholten Gutachtens Dris. S***** sowie auf die Vernehmung des Genannten. Denn einerseits wurde dieser vom Erkenntnisgericht nicht zum Sachverständigen (§ 126 Abs 3 erster Satz letzter Fall StPO iVm § 210 Abs 2 StPO) bestellt. Bei einer Vernehmung als (sachverständiger) Zeuge wiederum hätten gerade nicht– wie vom Beschwerdeführer angestrebt – die subjektiven Schlussfolgerungen des Genannten („Gutachtenserstattung“ iSd § 125 Z 1 zweiter Fall StPO) den Gegenstand der Befragung bilden dürfen (RIS‑Justiz RS0097540). Da es sich bei den diesbezüglichen (schriftlichen) „gutachterlichen“ Ausführungen des nicht vom Erkenntnisgericht bestellten Experten in ON 40 – ebenso wie bei einem von der Verteidigung beigebrachten „Privatgutachten“ (RIS‑Justiz RS00115646) – nicht um ein für die Sache bedeutsames „Schriftstück anderer Art“ im Sinn des § 252 Abs 2 StPO handeln kann, bestand insoweit auch keine (mit allfälliger Nichtigkeit aus Z 4 bewehrte) Pflicht zu deren Verlesung (vgl Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 40, 122, 124, 128 ff). Dass es dem Beschwerdeführer mit seinem Begehren auf Beweisaufnahme um die „Befundaufnahme“ (§ 125 Z 1 erster Fall StPO) und gerade nicht um das „Gutachten“ (§ 125 Z 1 zweiter Fall StPO) des von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren beigezogenen Sachverständigen gegangen wäre, ließen die in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträge nicht erkennen. Ebensowenig wird solches in der Beschwerde – die sich ausschließlich auf die Schlussfolgerungen Dris. S***** bezieht – behauptet.

Die Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall) kritisiert das Fehlen von Feststellungen zur (Mit‑)Ursächlichkeit einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades für die Anlasstat(en), nimmt aber prozessordnungswidrig nicht an den einen solchen Einfluss in Ansehung aller einweisungsrelevanten Taten ausdrücklich bejahenden Urteilsfeststellungen Maß (US 7, 13, 17).

Mit der bloßen Behauptung, das Urteil enthalte keine „über die verba legalia hinausgehenden Feststellungen zur Gefährlichkeitsprognose“, wird der angesprochene Nichtigkeitsgrund (Z 11 zweiter Fall) schon mangels Darlegung, welcher Feststellungen es über die – im Übrigen mit ausreichendem Sachverhaltsbezug (US 4, 7, 13, 17; vgl RIS-Justiz RS0119090) – getroffenen hinaus zur willkürfreien Beurteilung der Ermessensentscheidung bedurft hätte, nicht prozessförmig zur Darstellung gebracht (RIS‑Justiz RS0099810, RS0113980).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der Äußerung des Angeklagten hiezu – schon bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Kompetenz des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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