Spruch:
Der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten wird Folge gegeben, das bekämpfte Urteil, das in seinem freisprechenden Teil als unangefochten unberührt bleibt, im schuldigsprechenden Teil aufgehoben und die Strafsache zu neuer Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Bezirksgericht Zell am See verwiesen. Darauf werden die Staatsanwaltschaft mit ihrer Nichtigkeitsbeschwerde sowie der Angeklagte mit seiner Berufung verwiesen.
Text
Gründe:
I. Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Angeklagte Gerhard F*** des Vergehens der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs. 1 und 2 StGB schuldig erkannt (und zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt). Darnach hat er in der Zeit von September 1972 bis August 1976 in Zell am See, Bensberg, Krekel und andernorts im Rückfall (§ 39 StGB) dadurch, daß er für seine am 1.Juli 1965 geborene außereheliche Tochter Sonja Elfriede B*** keine Unterhaltszahlungen leistete, seine im Familienrecht begründete Unterhaltspflicht gröblich verletzt und dadurch bewirkt, daß der Unterhalt der Unterhaltsberechtigten gefährdet war bzw. ohne Hilfe von anderer Seite gefährdet gewesen wäre. Vom weiteren Anklagevorwurf, eine Unterhaltspflichtverletzung gegenüber Sonja Elfriede B*** auch in der Zeit vom 1.April 1966 bis August 1972 und vom September 1976 bis zum Dezember 1979 begangen zu haben, wurde er (von der Anklagebehörde unangefochten und somit rechtskräftig) gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Dieses Urteil wird vom Angeklagten im Schuldspruch mit einer auf die Z 1 a, 3, 9 lit. a und 10 des § 281 Abs. 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde, im Strafausspruch mit Berufung angefochten; die Anklagebehörde bekämpft es (zugunsten des Angeklagten) mit Nichtigkeitsbeschwerde aus dem Grund der Z 10 des § 281 Abs. 1 StPO.
II. Die eingangs des Rechtsmittels des Angeklagten erwähnte, in der Tat dem Ansehen der österreichischen Justiz überaus abträgliche Tatsache (vgl. hg Ds 6/86), daß zwischen der Verkündung des Urteils und der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung mehr als sechs (!) Jahre verstrichen, war bereits Gegenstand einer Entscheidung von nach dem Richterdienstgesetz hiezu berufenen Organen. Dieser vom Vorsitzenden des Schöffengerichtes verschuldete Mißstand ist jedoch für die Rechtsmittelentscheidung des Obersten Gerichtshofes in der vorliegenden Sache ohne rechtserhebliche Bedeutung, zumal er - mag auch dadurch allenfalls Art. 6 Abs. 1 MRK verletzt worden sein - nicht vom Katalog der taxativ aufgezählten Nichtigkeitsgründe umfaßt wird (vgl. Mayerhofer/Rieder, Nebenstrafrecht 2 E 15 a zu Art. 6 MRK und E 4 zu Art. 13 MRK). Eine Reaktion hierauf muß anderen Entscheidungsorganen überlassen werden.
Rechtliche Beurteilung
III. Unzutreffend ist die auf § 281 Abs. 1 Z 9 lit. b StPO gestützte Rechtsrüge des Angeklagten insoweit, als dem Erstgericht die Unterlassung einer (amtswegigen) Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen der Amnestie 1985 (BGBl. 1985/204) nach Fällung des Urteils erster Instanz zum Vorwurf gemacht wird. Denn die Entscheidung darüber obliegt gemäß § 4 Abs. 1 Amnestie 1985 nach Anmeldung eines Rechtsmittels dem Rechtsmittelgericht. Die demnach vom Obersten Gerichtshof vorgenommene amtswegige Prüfung der aufgeworfenen Frage ergab, daß die Voraussetzungen für die Anwendung der Amnestie 1985 im vorliegenden Fall nicht gegeben sind und für eine vom Angeklagten der Sache nach angestrebte Teileinstellung kein Raum ist. Denn ihm fällt nach dem insoweit weiter aufrechten Anklagevorwurf Verletzung der Unterhaltspflicht bis August 1976 zur Last, somit über den 15. Mai 1975 - den hier maßgeblichen Stichtag - hinaus (§ 1 Abs. 1 Z 3 Amnestie 1985). Nach dem Ziel dieses Gesetzes, nur solche Personen zu begünstigen, die vor dem jeweils aktuellen Stichtag in bestimmter Weise straffällig geworden sind, sowie im Einklang mit den Verfahrensbestimmungen (§ 4) ist eine bloß teilweise Einstellung von Strafverfahren, die auch nach den Stichtagen begangene strafbare Handlungen zum Gegenstand haben, bloß in Ansehung solcher Straftaten, die für sich allein amnestierbar wären, nicht vorgesehen (so bereits 10 Os 85/85); dies ganz abgesehen davon, daß es sich vorliegend um nur ein Vergehen handelt.
IV. Unzutreffend ist auch der auf § 281 Abs. 1 Z 1 a StPO gestützte Einwand des Angeklagten.
Unbestrittenermaßen war in der zur Urteilsfällung führenden Hauptverhandlung vom 23.Juni 1980 ein Verteidiger anwesend. Diese Hauptverhandlung stellt sich jedenfalls als Wiederholung gemäß § 276 a StPO dar, weil zuvor die letzte (und einzige) Hauptverhandlung am 16.Juli 1974 (ONr. 32) durchgeführt wurde (am 31. Oktober 1972 und am 4.April 1977 - ONr. 17 und 47 - kam es nicht zur Durchführung von Hauptverhandlungen).
Die Tatsache aber, daß bei der Hauptverhandlung vom 16.Juli 1974 - nach dem damals geltenden Prozeßrecht zulässig - kein Verteidiger einschritt, begründete nach der damaligen Gesetzeslage keine Nichtigkeit nach § 281 Abs. 1 Z 1 a StPO. Durch die Erneuerung der Hauptverhandlung wären übrigens selbst allfällige Nichtigkeiten, die sich im Zusammenhang mit einer ursprünglich durchgeführten Hauptverhandlung ergeben haben könnten, obsolet geworden (Mayerhofer-Rieder, StPO 2 , E 8 zu § 276 a).
V. Berechtigung kommt der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten aber jedenfalls insoweit zu, als eine Nichtigkeit nach Z 3 des § 281 Abs. 1 StPO geltend gemacht wird.
Nach dem Inhalt des vom Vorsitzenden des Schöffengerichtes und von der Schriftführerin unterfertigten Protokolls über die Hauptverhandlung vom 23.Juni 1980, das die Vorgänge in der Hauptverhandlung beurkundet (§ 271 Abs. 1, zweiter Satz, StPO), wurde in dieser (gemäß § 276 a StPO wegen geänderter Senatszusammensetzung und überdies wegen Zeitablaufes) neu durchgeführten Hauptverhandlung die Anklageschrift nicht verlesen. Der im hier verwendeten Formular StPOForm Prot. 11 vorgesehene Vordruck über eine Verlesung der Anklageschrift wurde vielmehr ausdrücklich gestrichen.
Der Vorsitzende des Schöffengerichtes erklärte hiezu in einem
Anhang zu seinem Vorlagebericht an den Obersten Gerichtshof vom
17. November 1986 (S 60/II), daß die Anklageschrift "mit Sicherheit"
verlesen worden sei, die erwähnte Durchstreichung eine
"offensichtliche Gedankenlosigkeit der damaligen Schriftführerin"
sei und "im übrigen .... wohl das Unterbleiben der Verlesung der
Anklage sowohl vom Verteidiger als auch vom Staatsanwalt sofort
gerügt worden (wären) und .... die Staatsanwaltschaft Salzburg
diesen Nichtigkeitrgund in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde ausgeführt (hätte)".
Trotz dieser Bemerkung ließ aber der Vorsitzende des Schöffengerichtes das Protokoll über die Hauptverhandlung vom 23. Juni 1980 mit den darin enthaltenen Beurkundungen unberichtigt. Für den Obersten Gerichtshof ist grundsätzlich das Hauptverhandlungsprotokoll in seiner beurkundeten Form, das insoweit vollen Beweis über die Vorgänge in der Hauptverhandlung macht, maßgeblich (RZ 1984/44 uva). Dem Obersten Gerichtshof steht es allerdings zu, gemäß § 285 f StPO tatsächliche Aufklärungen über behauptete Formverletzungen einzuholen, wozu auch ein - wenngleich nicht aufgetragener - Bericht des Vorsitzenden des Schöffensenates dienlich sein kann.
Die vorliegende Äußerung des Vorsitzenden des Schöffensenates bietet jedoch für den Obersten Gerichtshof keine Grundlage dafür, das Protokoll über die Hauptverhandlung vom 23.Juni 1980 als unzutreffend anzusehen.
Schon die (überlange) Zeitdauer zwischen der Hauptverhandlung und der nunmehrigen Äußerung läßt es überaus fraglich erscheinen, ob der Bericht, die Anklageschrift sei (trotz nach wie vor bestehender gegenteiliger Beurkundung) "mit Sicherheit" verlesen worden, noch dem Inhalt einer konkreten Erinnerung entsprechen kann, für welchen Fall es überdies unerfindlich bliebe, weshalb der Vorsitzende des Schöffengerichtes als (mit) zur Beurkundung der Vorgänge in der Hauptverhandlung berufenes Organ (§ 271 Abs. 1 StPO) eine - seinem nunmehrigen Bericht zufolge - "offensichtliche Gedankenlosigkeit" in der Beurkundung der Schriftführerin nicht, wie es bis zur Entscheidung der Rechtsmittelinstanz möglich ist (SSt. 32/108 u.a.), richtigstellte. Hält man dazu, daß dem Vorsitzenden des Schöffengerichtes nicht nur im vorliegenden Fall, sondern in einer Reihe weiterer Fälle ähnliche weitreichende Verzögerungen in der Herstellung von Entscheidungsausfertigungen unterlaufen sind (hg AZ Ds 6/86), es sich somit vorliegend nicht um einen vereinzelten und allein deshalb signifikanten Fall handelt, und daß er sich letztlich selbst im Vorlagebericht in dieser Strafsache veranlaßt sah, zur Stützung seiner Darlegungen in Spekulationen über wahrscheinliche Verhaltensweisen des Verteidigers und der Anklagebehörde einzutreten, so zeigt sich insgesamt, daß die den Vorlagebericht begleitende Äußerung des Vorsitzenden des Schöffengerichtes keine verläßliche Grundlage für die Annahme bietet, das Protokoll vom 23.Juni 1980 entspräche nicht den tatsächlichen Vorgängen in dieser Hauptverhandlung. Die Unterlassung der Verlesung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung vom 23.Juni 1980 begründet jedoch Urteilsnichtigkeit nach § 281 Abs. 1 Z 3 StPO iVm § 244 StPO. Da auch keineswegs unzweifelhaft erkennbar ist, daß diese Formverletzung auf die Entscheidung keinen dem Angeklagten nachteiligen Einfluß üben konnte (vgl. EvBl. 1961/192), war, ohne daß es eines Eingehens auch noch auf die weiteren geltend gemachten Nichtigkeitsgründe bedürfte, der vom Angeklagten ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde sofort bei der nichtöffentlichen Beratung Folge zu geben und das angefochtene Urteil im schuldigsprechenden Teil aufzuheben sowie insoweit die Verfahrenserneuerung anzuordnen (§ 285 e StPO). Darauf waren die Staatsanwaltschaft mit ihrer Nichtigkeitsbeschwerde und der Angeklagte mit seiner Berufung zu verweisen.
VI. Die Strafsache war jedoch nicht an das Landesgericht Salzburg zurückzuverweisen, sondern sogleich an das Bezirksgericht Zell am See zu verweisen.
Die Rechtsansicht des Schöffengerichtes, daß die Rückfallsvoraussetzungen des § 198 Abs. 2 StGB ungeachtet der zwischenzeitlichen Tilgung der Vorstrafen des Angeklagten dennoch vorlägen, weil sie zu Beginn der Tatzeit im September 1972 noch ungetilgt waren (US 9), ist nämlich rechtsirrig.
Wie sowohl die Staatsanwaltschaft in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde als auch der Angeklagte im bezüglichen Teil seiner Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigen, widerspricht die Ansicht des Schöffengerichtes der Bestimmung des § 1 Abs. 2 TilgG 1972, wonach mit der Tilgung einer Verurteilung alle nachteiligen Folgen erlöschen, die kraft Gesetzes mit der Verurteilung verbunden sind. Die (absolute) Wirkung der Tilgung tritt mit dem Ablauf der Tilgungsfrist kraft Gesetzes ein. Getilgte Vorstrafen dürfen weder zur Begründung der Anwendung der Rückfallsbestimmungen bei der Qualifikation der Tat noch bei Bemessung der Strafe verwertet werden, und zwar auch dann nicht, wenn sie erst in der Zeit zwischen Begehung der Tat und der Urteilsfällung getilgt wurden (vgl. Mayerhofer/Rieder, Nebenstrafrecht 2 , E 8 zu § 1 TilgG). Eine Beurteilung der Tat des Angeklagten nach § 198 Abs. 2 StGB kommt demnach im Hinblick darauf, daß bereits nach der Strafregisterauskunft vom 12.Juni 1980 im Strafregister keine Verurteilung mehr aufschien (S 189/I), nicht in Frage, sodaß nur mehr die bezirksgerichtliche Zuständigkeit gegeben ist. Hiefür kam das Bezirksgericht Zell am See in Betracht, weil dieses jenes örtlich zuständige inländische Bezirksgericht war, das in der vorliegenden Strafsache zuerst Verfolgungshandlungen gesetzt hat (S 3/I).
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