OGH 10ObS89/94

OGH10ObS89/946.12.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Friedrich Hötzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Stöcklmayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dobrivoje A*****, Versehrtenrentner, *****, vertreten durch Dr. Karl Muzik, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter- Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram und Dr. Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Juni 1993, GZ 32 Rs 32/93-37, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2. September 1992, GZ 13 Cgs 97/91-33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Oberste Gerichtshof stellt beim Verfassungsgerichtshof nach Art. 89 Abs 2 B-VG den

Antrag,

§ 2 Abs 1 der Richtlinien über die Leistung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213 a ASVG, erlassen von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, SozSi 1991, 137, nach Art. 139 B-VG als gesetzwidrig aufzuheben.

Text

Begründung

Der Kläger erlitt am 26.11.1986 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte gewährte ihm eine Versehrtenrente, die vorerst mit 30 v.H. und ab 1.11.1988 mit 20 v.H. der Vollrente bemessen wurde. Mit Bescheid vom 30.4.1991 wies die Beklagte den Antrag des Klägers vom 9.4.1990, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalles eine Integritätsabgeltung gemäß § 213 a ASVG zu gewähren, ab.

Das Erstgericht wies das dagegen auf Gewährung einer Integritätsabgeltung im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klagebegehren ab, weil es zu dem Ergebnis gelangte, daß ein Integritätsschaden von wenigstens 50 v.H. nicht vorliege. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 30 v.H. und dieser Hundertsatz sei nach § 2 Abs 1 Z 2-4 der Richtlinien um jeweils 5 v.H. zu erhöhen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es sprach aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes S 50.000,-- nicht übersteige und daß die Revision nach § 46 Abs 1 Z 1 ASGG zulässig sei, weil zur Bestimmung des § 213 a ASVG eine gesicherte Rechtsprechung des Höchstgerichtes fehle. Das Berufungsgericht billigte die Auffassung des Erstgerichtes, daß der Integritätsschaden des Klägers als Folge des Arbeitsunfalles unter Anwendung des § 2 Abs 1 der Richtlinien selbst bei einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. nur 45 v.H. betrage und damit die Mindestgrenze von 50 v.H. nicht erreicht werde.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens, hilfsweise auf Aufhebung und Zurückverweisung an das Gericht erster oder zweiter Instanz.

Rechtliche Beurteilung

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Einer sachlichen Erledigung dieses Rechtsmittels steht jedoch vorerst entgegen, daß der Oberste Gerichtshof gegen die von ihm anzuwendende Bestimmung des § 2 Abs 1 der von der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt erlassenen Richtlinien über die Leistung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213 a ASVG, kundgemacht SozSi 1991, 137, folgende Bedenken aus dem Grunde der Gesetzwidrigkeit hat:

Durch die 48. Novelle zum ASVG, BGBl 1989/642, wurde in den Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung eine völlig neuartige Leistung aufgenommen, nämlich die sogenannte Integritätsabgeltung. Deren besondere Anspruchsvoraussetzungen, Höchstausmaß und Kriterien für die Abstufung der Abgeltungshöhe innerhalb dieses Höchstausmaßes sind im ebenfalls neu eingefügten § 213 a ASVG normiert. Primäre Anspruchsvoraussetzung ist demnach die Verursachung des Arbeitsunfalls bzw. der Berufskrankheit durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften. Diese Leistung ist im Konkurrenzbereich zwischen ziviler Haftpflichtordnung und Sozialversicherung angesiedelt. Ihr Zweck ist es, durch eine Geldleistung einen gewissen Ausgleich für körperliche Schmerzen, Leid, verminderte Lebensfreude, Beeinträchtigung des Lebensgenusses und ähnliche Ursachen seelischen Unbehagens wie etwa dauernde Verunstaltung zu bieten. Damit wird ihre Verwandtschaft mit den immateriellen Schadenersatzansprüchen des ABGB deutlich (SSV-NF 6/61 mwN; ebenso SSV-NF 6/89 = DRdA 1993, 289 [Ivansits]). Die Integritätsabgeltung wird als einmalige Leistung gewährt; sie darf das Doppelte des bei Eintritt des Versicherungsfalles nach § 178 Abs 2 ASVG jeweils geltenden Betrages nicht überschreiten (§ 213 a Abs 2 Satz 1 ASVG). Die näheren Bestimmungen zur Durchführung, insbesondere über das Ausmaß der Leistung, sind im vom Vorstand im Einvernehmen mit der Kontrollversammlung des Versicherungsträgers zu erlassenden Richtlinien zu regeln, die der Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Soziales bedürfen. Die Richtlinien haben auf das wirtschaftliche Bedürfnis der Versicherten sowie auf den Grad der Beeinträchtigung von Körperfunktionen, den Grad der Verunstaltung des äußerlichen Erscheinungsbildes des Versicherten sowie den Grad einer unfall- oder berufskrankheitsbedingten seelischen Störung Bedacht zu nehmen (§ 213 a Abs 4 ASVG).

Aus den Materialien zur 48. ASVG-Novelle (1142 BlgNR 17. GP, 2) ergibt sich klar, daß die Integritätsabgeltung einen Ausgleich für jene schadenersatzrechtlichen Ansprüche darstellen soll, die der Arbeitnehmer gemäß § 333 ASVG gegen den Dienstgeber nicht geltend machen kann. Die Integritätsabgeltung ist daher dem Schmerzengeld (§ 1325 ABGB) und der Verunstaltungsentschädigung (§ 1326 ABGB) funktions- gleich. Es muß sich somit um einen Schaden handeln, der nicht schon durch die Gewährung der Versehrtenrente abgedeckt ist. Die Integritätsabgeltung ist demgemäß ein Aliud zum Erwerbsschaden. Die Materialien führen insbesondere aus, daß die Art des unfallbedingten Gesundheitsschadens eine dauernde und essentielle körperliche bzw. seelische Beeinträchtigung der Lebensführung des Versicherten verursachen müsse. Ein solcher Dauerschaden werde durch die Gewährung einer Versehrtenrente nicht abgegolten. Die Schwere des Schadens sei an der eingetretenen Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität zu messen.

Das Schmerzengeld soll ideellen Schaden abgelten; es dient der Abgeltung von Schmerzempfindungen körperlicher und seelischer Art. Zu den seelischen Schmerzen gehören Unlustgefühle wegen Verstümmelung, Lähmungen, Fehlgeburten, Beeinträchtigung der Sexualsphäre, Behinderung bei der Sportausübung, Minderwertig- keitskomplexe udgl. Sowohl körperliche als auch seelische Schmerzen können vorübergehend oder dauernd auftreten. Eine infolge Schmerzen gegebene Beeinträchtigung der Integrität iS des § 213 a ASVG liegt nur bei auf Dauer bestehenden Schmerzen vor. Auf den Dauercharakter ist auch bei der im § 213 a Abs 4 ASVG genannten Verunstaltung Bedacht zu nehmen. Während Verunstaltungsentschädigung nach § 1326 ABGB auch bei vorübergehenden behebbaren Beeinträchtigungen des äußeren Erscheinungsbildes gebührt, setzt die Integritätsabgeltung hier eine dauernde Beeinträchtigung voraus. Von einer Verunstaltung ist immer dann zu sprechen, wenn das äußere Erscheinungsbild erheblich und nachteilig verändert ist; dazu gehören etwa Gehbehinderungen, Gleichgewichtsstörungen, Beinamputation, Gesichtsnarben, Sprachstörungen udgl. Die Verunstaltung muß allerdings bei einem normal gekleideten Menschen nicht sichtbar sein; das Gesetz verlangt bloß die abstrakte Möglichkeit der Verhinderung besseren Fortkommens. Besseres Fortkommen ist die Gewinnung einer günstigeren Lebenslage, vor allem im Hinblick auf einen möglichen beruflichen Aufstieg (vgl zu all dem Reischauer in Rummel ABGB2 II Rz 43 ff zu § 1325 und Rz 2 ff zu § 1326 mit zahlreichen Judikaturhinweisen).

Geht man nun davon aus, daß die Integritätsabgeltung funktionell den Ansprüchen nach §§ 1325 letzter Halbsatzund 1326 ABGB gleicht, dann ist bei ihrer Bemessung eine Bezugnahme auf die Höhe der Versehrtenrente nicht sachgerecht. Soweit durch die Integritätsabgeltung ideeller Schaden abgegolten wird, fehlt die Verbindung zum Erwerbsschaden, soweit die Integritätsabgeltung einen potentiellen Vermögensschaden ersetzt (§ 1326 ABGB), besteht zwar ein Konnex zur Versehrtenrente, doch ist zu beachten, daß der Vermögensschaden in der Unfallversicherung nach anderen Kriterien als im allgemeinen Schadenersatzrecht ersetzt wird. Demgegenüber stellt § 2 Abs 1 Z 1 der Richtlinien einen gleichsam untrennbaren Zusammenhang des Grades des Integritätsschadens mit dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit her. Anspruch auf Versehrtenrente besteht nach § 203 Abs 1 ASVG, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder eine Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 v.H. vermindert ist; die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. Wie bereits ausgeführt, haben die Richtlinien, bei denen es sich um eine auch die Sozialgerichte bindende Rechtsverordnung handelt, auf das wirtschaftliche Bedürfnis der Versicherten sowie auf den Grad der Beeinträchtigung von Körperfunktionen, den Grad der Verunstaltung des äußerlichen Erscheinungsbildes des Versicherten sowie den Grad einer unfall- oder berufskrankheitsbedingten seelischen Störung Bedacht zu nehmen. Hingegen ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit als Erwerbsschaden iS des § 203 Abs 1 ASVG kein Kriterium für die Ausmessung der Integritätsabgeltung und scheint auch folgerichtig im Gesetzestext nicht auf. Die Beeinträchtigung von Körperfunktionen, die Verunstaltung des äußerlichen Erscheinungsbildes und die seelische Störung werden aber nach § 2 Abs 1 Z 2 bis 4 der Richtlinien nur in Form von Zuschlägen zu dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit berücksichtigt. Diese Erhöhung des sich aus der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergebenden Hundersatzes beträgt bei schwerer Beeinträchtigung, Verunstaltung oder seelischer Störung jeweils 10 v.H., bei mittlerer Beeinträchtigung, Verunstaltung oder seelischer Störung jeweils 5 v.H. Daraus folgt, daß ein Integritätsschaden von 50 v.H. selbst bei schwerster Beeinträchtigung von Körperfunktionen, schwerster Verunstaltung und schwersten seelischen Störungen nur dann erreicht werden kann, wenn der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit wenigstens 20 v.H. beträgt. Dieser von den Richtlinien aufgestellte untrennbare Zusammenhang des Anspruches auf Integritätsabgeltung mit dem Ersatz des Erwerbsschadens durch eine Versehrtenrente ist im Hinblick auf das Legalitätsprinzip bedenklich, weil das Gesetz ungeachtet des Umstandes, daß die Integritätsabgeltung einen Anspruch auf Versehrtenrente voraussetzt (§ 213 a Abs 1 ASVG), keinen Anhaltspunkt dafür liefert, daß die Höhe des Erwerbsschadens bei der Ausmessung der Integritätsabgeltung zu berücksichtigen sei (ähnlich auch Dörner, Die Integritätsabgeltung nach dem ASVG [1994], 85, 90 f).

Da die genannte Bestimmung der Richtlinien als Verordnung für die Erledigung der vorliegenden Revision präjudiziell ist, dagegen aber aus dem Grund der Gesetzwidrigkeit erhebliche Bedenken bestehen, sieht sich der Oberste Gerichtshof veranlaßt, einen entsprechenden Verordnungsprüfungsantrag an den Verfassungsgerichtshof zu stellen (Art. 89 Abs 2 und Art 139 B-VG).

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