OGH 10ObS54/93

OGH10ObS54/9318.3.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Dietmar Strimitzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Karl Dirschmied (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria W*****, vertreten durch Dr.Wolfgang Jeannee und Dr.Peter Lösch, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Hilflosenzuschusses infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23.November 1992, GZ 32 Rs 157/92-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 16.Juni 1992, GZ 16 Cgs 14/92-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Berufung, der Beteiligung der Klägerin an der Berufungsverhandlung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 25.März 1913 geborene Klägerin bezieht von der Beklagten seit 1. Jänner 1979 eine Alterspension, deren Ausmaß im ersten Halbjahr 1992 3.861,90 S monatlich betrug.

Mit Bescheid vom 24.Oktober 1991 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 13.September 1991 auf Hilflosenzuschuß ab, weil sie nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe.

Die rechtzeitige, erkennbar auf den abgelehnten Zuschuß gerichtete Klage stützt sich im wesentlichen darauf, daß die Klägerin wegen Schmerzen im Kreuz und Knie und Schwindelgefühls beim Bücken zB den Boden nicht aufwischen und die Fenster nicht putzen könne. Sie könne auch nicht mehr allein baden und habe auch Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen in bzw. aus Straßenbahn und Bus. Wegen Durchblutungsstörungen könne sie zeitweise die rechte Hand nicht bewegen, zeitweise würden die Finger steif.

Bei der Befundaufnahme durch den Sachverständigen für Innere Medizin erwähnte die Klägerin u.a. Herzbrennen, häufiges Herzstechen und unregelmäßige Herztätigkeit, Schwankschwindel, Benommenheit, die Umgebung drehe sich. Diese Zustände würden bei Wetterwechsel, bei Kopfbewegungen und insbesondere bei Lagewechsel auftreten (ON 4 AS 7).

In der Tagsatzung vom 7.April 1992 ergänzte die Klägerin, daß sie wegen starker Rückenschmerzen und Schmerzen in den Beinen kein öffentliches Verkehrsmittel besteigen und sich wegen Hammerzehen nur in Leinenschuhen fortbewegen könne (ON 6 AS 15).

Bei der Untersuchung durch den Sachverständigen für Orthopädie gab die Klägerin an, daß überall Schmerzen bestünden, aber vor allem im Kreuz, in beiden Kniegelenken und in beiden Füßen (ON 8 AS 19).

In der Tagsatzung vom 16.Juni 1992 ergänzte die Klägerin, daß sie für Reinigungsarbeiten in der Wohnung, Versorgung der Wäsche und, weil der Ölofen im Winter oft nicht ausreiche, für die Beheizung der Kamine Hilfe benötige, wofür ein monatlicher Aufwand von 4.000 S erforderlich sei (ON 11 AS 29).

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Die Klägerin leidet an hochgradigem Übergewicht, Herzmuskelschaden im Stadium der Dekompensation, Anfällen von echten Herzschmerzen (Angina pectoris), Leberschaden, Thrombocytose, Sideropenie; Lumbalgie, mittelgradiger Einschränkung der Lendenwirbelsäule, hochgradigen Abnützungen beider Kniegelenke mit schmerzhafter Beugehemmung in den Endlagen und statischer Insuffizienz.

Mit diesem seit der Antragstellung bestehenden Zustand kann sich die Klägerin selbständig an- und ausziehen, oberflächlich waschen, die Toilette aufsuchen und sich anschließend reinigen, eine komplette Mahlzeit zubereiten und die dafür notwendigen Lebensmittel bis zu einem Gewicht von zwei kg herbeischaffen. Sie kann nur einfache Reinigungsarbeiten wie Staubwischen in Tischhöhe ausführen, benötigt aber für größere Reinigungsarbeiten und die Versorgung der großen Wäsche Hilfe. Bei der Beheizung kann nur der vorhandene Ölofen gewartet werden, doch muß das Heizmaterial zur Verfügung gestellt werden.

Die Klägerin wohnt (allein) in einer aus vier Zimmern und Nebenräumen, darunter Bad und WC, bestehenden Wohnung im ersten Stock eines Lifthauses. Ein Gasherd und ein Eiskasten sind vorhanden. Das nächste Lebensmittelgeschäft ist fünf, die nächste Apotheke zehn Gehminuten entfernt.

Den monatlichen Zeitaufwand einer Hilfskraft schätzte das Erstgericht für die schwierigen Tätigkeiten des täglichen Lebens mit zehn bis fünfzehn Stunden, für die mindestens jeden zweiten Tag erforderliche Ganzkörperreinigung in der Dauer einer Viertelstunde mit vier bis viereinhalb Stunden, für die Reinigungsarbeiten mit zehn Stunden und für die Beistellung des Heizmaterials während der sechsmonatigen Heizperiode im Jahresdurchschnitt mit fünf Stunden, insgesamt also mit 29 bis etwa 34 Stunden ein. Bei einem Stundensatz von 80 S ergebe sich daher ein monatlicher Aufwand von 2.320 bis 2.720 S.

Weil diese Kosten den "derzeitigen" durchschnittlichen (Mindest)Hilflosenzuschuß von 3.200 S - dieser Wert bezog sich auf das zweite Halbjahr 1991, im ersten Halbjahr 1992 betrug er 3.368 S - nicht erreiche, gebühre der Klägerin kein Hilflosenzuschuß.

Das Berufungsgericht gab der wegen "Verfahrensrüge", Tatsachen- und Beweisrüge und Rechtsrüge erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge.

Die ärztlichen Gutachten seien nicht unvollständig. Die Sachverständigen hätten die körperlichen Einschränkungen, wegen der die Klägerin auf Wartung und Hilfe angewiesen sei, so ausreichend dargestellt, daß eine richtige Betragsschätzung nach § 273 Abs 1 ZPO möglich sei. Durch die mögliche oberflächliche Körperreinigung vermindere sich der Zeitaufwand für die jeden zweiten Tag durchzuführende Ganzkörperreinigung. Die übrigen Maßnahmen der Körperpflege (Haarwäsche, Maniküre, Pediküre) seien nur in größeren zeitlichen Abständen erforderlich. Der Zeitaufwand für die erforderlichen Betreuungsmaßnahmen sei vom Erstgericht iS der Rechtsprechung (SSV-NF 3/114, 4/25) richtig eingeschätzt worden. Der Zeitaufwand für die Wohnungsreinigung sei nicht für die Vier-Zimmer-Wohnung, sondern nur für die für die Klägerin notwendigen Räume zu veranschlagen.

Gegen das Berufungsurteil richtet sich die nicht beantwortete Revision der Klägerin wegen "Mangelhaftigkeit des Verfahrens" und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit den Anträgen, das angefochtene Urteil durch Zuerkennung des Hilflosenzuschusses in gesetzlicher Höhe ab dem Antragstag abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist iS des Eventualantrages berechtigt.

Die bisherigen Feststellungen lassen nämlich aus folgenden Gründen eine gründliche Beurteilung, ob der Klägerin nach § 105 a Abs 1 ASVG ab 13.September 1991 zur Alterspension ein Hilflosenzuschuß gebührt, nicht zu.

Ob jemand iS der zit. Gesetzesstelle derart hilflos ist, daß er ständig der Wartung und Hilfe bedarf, hängt nach der seit SSV-NF 1/46 stRsp des erkennenden Senates davon ab, daß er nicht in der Lage ist, auch nur einzelne dauernd wiederkehrende lebensnotwendige Verrichtungen selbst auszuführen, die nicht allgemein von dritten Personen besorgt, sondern auch von nicht eingeschränkten Personen gewöhnlich selbst erledigt werden. Ein Bedürfnis nach ständiger Wartung und Hilfe ist allerdings nur dann anzunehmen, wenn die für die notwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis des Zuschußwerbers üblicherweise aufzuwendenden und daher nicht bis ins einzelne, sondern nur überschlagsmäßig (vgl § 273 ZPO) festzustellenden Kosten im Monatsdurchschnitt mindestens so hoch sind wie der begehrte Hilflosenzuschuß.

Die Beurteilung, welche der in der zit E demonstrativ aufgezählten lebensnotwendigen Verrichtungen ein Zuschußwerber nicht mehr selbst ausführen kann, ist nur möglich, wenn die Einschränkungen seiner für diese Tätigkeiten maßgeblichen körperlichen und geistigen Funktionen so genau festgestellt sind, daß auch Nichtmediziner beurteilen können, ob und inwieweit diese Funktionseinschränkungen die selbständige Ausführung der lebensnotwendigen Verrichtungen, deren Ablauf allerdings insbesondere bei Arbeits- und Sozialgerichten offenkundig sein wird, behindern.

Solche eindeutigen Feststellungen fehlen im vorliegenden Fall, was die Klägerin insbesondere im Rahmen des Rechtsmittelgrundes "Verfahrensrüge" inhaltlich als Rechtsrüge schon in der Berufung zutreffend ausgeführt hat und auch in der Revision mit Recht geltend macht.

Das Fehlen dieser eindeutigen Feststellungen ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die teilweise erläuterungs- und ergänzungsbedürftigen schriftlichen Gutachten der ärztlichen Sachverständigen nicht ausreichend erörtert wurden.

Im Sinn der obigen Ausführungen werden daher auch Feststellungen über die von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden, vor allem die Schwindelerscheinungen bei Wetterwechsel, Kopfbewegungen und Lagewechsel (Bücken) zu treffen sein, die insbesondere für die Durchführbarkeit der vollständigen Körperreinigung und des vollständigen An- und Auskleidens sowie für die Vornahme von Wohnungsreinigungs- und anderen Hausarbeiten, zB Bettenmachen, Bedeutung haben könnten. (Zur Frage des An- und Auskleidens hat sich der Sachverständige für Innere Medizin überhaupt nicht geäußert.)

Weiters wird zu klären sein, warum sich die Klägerin zwar selbständig (gänzlich, also auch hinsichtlich der Strümpfe und Schuhe) an- und auskleiden, aber nur oberflächlich waschen kann und zur Ganzkörperreinigung Hilfe braucht, wie sich die Diagnosen hochgradiges Abnützungsleiden beider Kniegelenke und statische Insuffizienz auswirken und in welcher Weise (allenfalls nur mit Stockhilfe ?) und wie weit sich die Klägerin fortbewegen kann. Im Zusammenhang mit den diagnostizierten Fußleiden wird auch festzustellen sein, ob die Klägerin besonderes Schuhwek braucht und ob sie dieses allein an- und ausziehen kann. Es werden weitere Feststellungen zur Ausführbarkeit von nicht in Reinigungsarbeiten bestehenden Hausarbeiten, zB Bettenmachen, erforderlich sein. Schließlich wird zu klären sein, was unter "Wartung des vorhandenen Ölofens" zu verstehen ist.

Erst nach Klärung dieser Umstände kann verläßlich beurteilt werden, ob die Klägerin ständig der Wartung und Hilfe bedarf.

Erst dann werden aber auch die für die notwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis der Klägerin üblicherweise aufzuwendenden Kosten abzuschätzen sein.

Wegen der dargestellten Feststellungsmängel waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und war die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen (§§ 496, 499, 503 Z 4, 510, 511 und 513 ZPO).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung, der Beteiligung der Klägerin an der Berufungsverhandlung und der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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