OGH 10ObS5/03p

OGH10ObS5/03p18.2.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Georg Eberl (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann S*****, Triebfahrzeugführer, ***** vertreten durch Dr. Walter Hasibeder und Dr. Josef Strasser, Rechtsanwälte in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen, 1061 Wien, Linke Wienzeile 48-52, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner ua Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1. Oktober 2002, GZ 12 Rs 120/02g-86, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgericht vom 21. März 2002, GZ 19 Cgs 64/99d-75, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger zu Handen der Klagevertreter die mit EUR 333,12 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin EUR 55,52 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen vom 8. 3. 1999 wurde der Antrag des Klägers vom 22. 9. 1998 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgelehnt.

Mit der gegen diesen Bescheid rechtzeitig erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zahlung der Berufsunfähigkeitspension in der gesetzlichen Höhe ab dem 1. 10. 1998.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Begehrens.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger könne zwar nicht mehr seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Triebfahrzeugführer bei einer Privatbahn oder die Tätigkeit eines Lokführers verrichten, es sei ihm aber unter der Voraussetzung, dass er sich einem operativen Eingriff im Kniegelenksbereich (Herstellung einer zementfreien Knietotalarthroplastik) unterziehe, eine Tätigkeit als Triebfahrzeugführer bei den Wiener Lokalbahnen möglich. Dafür gebe es einen ausreichenden Stellenmarkt. Bei der Frage der Zumutbarkeit eines operativen Eingriffs zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit sei nach den Umständen des Einzelfalles auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten der Operation, die Schwere des Eingriffs und seine Folgen Bedacht zu nehmen. Dem Kläger sei die Duldung des erwähnten operativen Eingriffs zumutbar und er sei im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht auch dazu verpflichtet.

Dagegen erhob der Kläger Berufung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise beantragte der Kläger die Zuerkennung einer befristeten Berufsunfähigkeitspension bis zu einem vom Berufungsgericht festzulegenden Zeitpunkt, allenfalls bis 30. 9. 2004.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge und änderte das Ersturteil im Sinne des Eventualantrages dahin ab, dass es das Klagebegehren auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension in der gesetzlichen Höhe für den Zeitraum vom 1. 10. 1998 bis 30. 9. 2004 als zu Recht bestehend erkannte und der Beklagten für diesen Zeitraum die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von EUR 200,-- monatlich auftrug. Eine (ausdrückliche) Abweisung des Klagebegehrens für den Zeitraum ab 1. 10. 2004 unterblieb. Ausgehend von den in der Rechtsprechung zur Frage, ob ein operativer Eingriff zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zumutbar sei oder die Grenze des Zumutbaren überschreite, entwickelten Kriterien vertrat das Berufungsgericht die Auffassung, dass zwar nicht die Knieprothesenoperation an sich, wohl aber deren Durchführung im Lebensalter des Klägers, der zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung knapp 45 Jahre alt gewesen sei, unzumutbar sei. Im Hinblick auf die mit 15 Jahren begrenzte Haltbarkeit des Knieimplantats und der nur einmaligen Reoperationsmöglichkeit lasse sich ein Operationserfolg nur auf eine absehbare Dauer von etwa 30 Jahren erzielen. Einer bereits jetzt erzielbaren wesentlichen Zustandsbesserung stehe die Aussicht einer gravierenden Beeinträchtigung der Mobilität und damit ein empfindlicher Verlust an Lebensqualität in einem Alter gegenüber, in dem der Mensch im Normalfall noch mit einem Ausmaß an Vitalität ausgestattet sei, das ihm die Führung eines selbstbestimmten Lebens ermögliche. Die Pflicht zur Duldung eines Heilverfahrens oder einer Operation bedeute eine Einschränkung des Rechtes der körperlichen Integrität. Je gravierender der durch die in Frage stehende Heilbehandlung oder Operation bedingte Eingriff sei, umso mehr werde dabei das Recht des Versicherten auf körperliche Integrität in den Vordergrund treten und letztlich die Obliegenheit zur Duldung von Eingriffen beschränken. Das Recht des Einzelnen auf körperliche Integrität gebiete es im vorliegenden Fall, die Entscheidung des Klägers zu respektieren, die Operation noch hinauszuschieben, um die im Alter zu erwartenden nachteiligen Operationsfolgen auf einen späteren Zeitpunkt zu verlagern, in dem sie weniger drückend empfunden werden.

Hänge das Ende der Berufsunfähigkeit von einer Duldung oder Mitwirkung des Versicherten ab, zu der er verpflichtet sei, so sei erst die schuldhafte Verletzung der Pflicht für das Ende seines Anspruches auf Berufsunfähigkeitspension maßgebend. Die Leistung sei daher für jenen Zeitraum zuzuerkennen, in dem die Berufsunfähigkeit bestanden hätte, wenn er seiner Duldungs- oder Mitwirkungspflicht ordnungsgemäß nachgekommen wäre. Aus den dargelegten Gründen erachte das Berufungsgericht die Durchführung der Knieprothesenoperation innerhalb des vom Kläger im Eventualantrag genannten Zeitraumes bis 30. 9. 2004 für nicht zumutbar. Dem Kläger könne daher keine schuldhafte Verletzung der Duldungs- und Mitwirkungspflicht vorgeworfen werden. Da feststehe, dass der Kläger nur unter der Voraussetzung einer erfolgreichen Kniegelenksoperation den einzigen festgestellten Verweisungsberuf eines Triebfahrzeugführers bei der Wiener Lokalbahn verrichten könnte, seien die Voraussetzungen für den erhobenen Anspruch für den Zeitraum vom 1. 10. 1998 bis 30. 9. 2004 erfüllt.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragte in seiner Revisionsbeantwortung die Bestätigung des angefochtenen Urteiles.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die beklagte Partei verweist in ihren Revisionsausführungen darauf, dass durch die in Frage stehende Knieoperation eine wesentliche Zustandsbesserung erreichbar und die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für den genannten Verweisungsberuf möglich wäre. Der operative Eingriff wäre mit einem stationären Aufenthalt von lediglich 14 Tagen und einem anschließenden Heilverfahren in der Dauer von drei bis vier Wochen verbunden. Eine Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit wäre dem Kläger nach einem solchen Eingriff bereits nach drei bis fünf Monaten möglich. Die Erfolgsaussichten einer derartigen Knieoperation seien beim Kläger sehr hoch. Unter der Annahme einer erfolgreichen Operation sei mit einer beträchtlichen Abnahme der Bewegungs- und Belastungsschmerzen, aber auch mit einer Kniebandstabilisierung zu rechnen. Das Risiko der Knieoperation hebe sich nicht von jenen Risken ab, die mit jeder Operation schlechthin verbunden seien. Mit der in den Feststellungen dargestellten Knieoperation seien lediglich vier Tage starke Schmerzen, drei bis vier Wochen mittelstarke und 10 bis 12 Wochen leichte Schmerzen verbunden, wobei allerdings zumindest leichte Schmerzen auch beim jetzigen Zustandsbild des Klägers anzunehmen seien, da der Sachverständige auf Grund des schlechten Zustandsbildes des Klägers von einer absoluten Indikation für die Knieoperation bereits zum jetzigen Zeitpunkt spreche. Es sei daher trotz des Einwandes des Klägers, die Knieprothese weise nur eine Haltbarkeit von etwa 15 Jahren auf und es sei derzeit eine Knieoperation nicht zumutbar, bereits seit geraumer Zeit, dh jedenfalls ohne weiteren Aufschub eine absolute Indikation für die Knieoperation gegeben, während ein bestimmtes Datum oder Alter, zu dem eine Operation noch nicht zumutbar wäre, nicht festgestellt werden könne. Die Zumutbarkeit der Kniegelenksoperation zwecks Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers sei daher bereits zum jetzigen Zeitpunkt gegeben.

Diesen Ausführungen ist zunächst entgegenzuhalten, dass nach der bereits vom Berufungsgericht zitierten ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates auch im Bereich des Sozialversicherungsrechtes nur eine schuldhafte, also eine zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Mitwirkungspflicht für das Bestehen eines Anspruches von Bedeutung ist. Grundsätzlich ist daher dem Versicherten dann, wenn die Möglichkeit besteht, den bestehenden Leidenszustand durch eine an sich zumutbare Operation entscheidend zu bessern, gerechnet von dem Zeitpunkt, in dem er erstmals die Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit der Operation ernstlich in Betracht ziehen musste, eine bestimmte Überlegungsfrist, die in der bisherigen Rechtsprechung in der Regel mit vier Wochen angenommen wurde, einzuräumen. Der Versicherte muss in dieser Zeit vor allem auch Gelegenheit haben, sich mit einem Arzt seines Vertrauens zu beraten. Erst nach Ablauf dieser Frist kann es dem Versicherten als Verschulden angelastet werden, dass er sich einer zweckmäßigen und zumutbaren Operation nicht unterzieht. Die Leistung ist in diesem Fall für jenen Zeitraum zuzuerkennen, in dem die Berufsunfähigkeit bestanden hätte, wenn er seiner Duldungs- oder Mitwirkungspflicht ordnungsgemäß nachgekommen wäre (SSV-NF 14/100 mwN ua; RIS-Justiz RS0084370).

Hier wäre auf Grund der Verfahrensergebnisse wohl davon auszugehen, dass der Kläger erstmals in der Tagsatzung vom 3. 12. 2001 die Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit der Knieoperation schon zum derzeitigen Zeitpunkt ernstlich in Betracht ziehen musste. Der Sachverständige hat zwar schon zu früheren Zeitpunkten auf die Möglichkeit einer solchen Operation hingewiesen, er hat sich aber erst in der mündlichen Erörterung seines Gutachtens in der Tagsatzung vom 3. 12. 2001 mit der auch von ihm als entscheidungswesentlich erachteten (vgl seine diesbezüglichen Ausführungen in der Tagsatzung vom 2. 7. 2001) gegenteiligen Stellungnahme des behandelnden Facharztes des Klägers inhaltlich auseinandergesetzt. Zu berücksichtigen wäre weiters nach Ablauf der Überlegungsfrist die ab der Anmeldung bis zu einem Operationstermin liegende Zeit sowie die Zeit der notwendigen Nachbehandlung. Bis zum Ablauf des gesamten Behandlungszeitraumes und der medizinischen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit wäre daher nach zutreffender Ansicht des Klägers die Berufsunfähigkeitspension auf alle Fälle zuzuerkennen, da in diesem Zeitraum unbestritten Berufsunfähigkeit bestanden hat.

Auf Grund des allein von der beklagten Partei erhobenen Rechtsmittels ist im Revisionsverfahren nur zu prüfen, ob dem Kläger darüber hinaus eine zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Mitwirkungspflicht bis zu dem vom Berufungsgericht festgesetzten Zeitpunkt 30. 9. 2004 anzulasten ist. Es wird auch von der Revisionswerberin nicht in Abrede gestellt, dass das Berufungsgericht in seiner Entscheidung die Kriterien, nach denen zu beurteilen ist, ob ein operativer Eingriff zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zumutbar ist, im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zutreffend dargelegt hat (SSV-NF 13/122 mwN uva; RIS-Justiz RS0084353). Danach kann diese Frage nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls entschieden werden, wobei insbesondere auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten der Operation, die Schwere des Eingriffs und seine Folgen unter Berücksichtigung auch einer erforderlichen Nachbehandlung sowie die damit verbundenen Schmerzen Bedacht zu nehmen ist. Die Grenzen der Zumutbarkeit einer Krankenbehandlung würden in den Fällen überschritten, in denen für den deutschen Rechtsbereich § 65 SGB eine Ausnahme von der dort durch andere Bestimmungen allgemein angeordneten Untersuchungs- und Behandlungspflicht statuiere (vgl SSV-NF 6/13 mwN ua).

Die Ausführungen in der Revision betreffen vorwiegend die Frage, ob dem Kläger der dargestellte operative Eingriff zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich zumutbar ist. Diese Frage wurde vom Berufungsgericht ohnedies im Sinne des Prozessstandpunktes der beklagten Partei bejaht. Der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, dem zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erst knapp 45 Jahre alten Kläger sei innerhalb des festgesetzten Zeitraumes bis 30. 9. 2004 die Duldung der Durchführung einer Knieprothesenoperation nicht zumutbar, weil die Kniegelenksprothese nur eine Haltbarkeit von etwa 15 Jahren habe und nur eine einmalige Reoperationsmöglichkeit bestehe, vermag die Revisionswerberin keine inhaltlichen Argumente entgegenzusetzen. Ob eine Mitwirkung dem Leistungsberechtigten zuzumuten ist, ist unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu entscheiden. Dies bedeutet, dass die Frage der Zumutbarkeit nicht generell, sondern nur individuell für den jeweiligen Betroffenen beurteilt werden kann, da es allein darauf ankommt, ob dem Betroffenen persönlich die Mitwirkung zumutbar ist. Eine Mitwirkungspflicht besteht insbesondere dann nicht, wenn die Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. Unter einem wichtigen Grund sind die die Willensbildung bestimmenden Umstände zu verstehen, die die Weigerung entschuldigen und sie als berechtigt erscheinen lassen. Liegt ein wichtiger Grund vor, so ist zu prüfen, ob dieser die Ablehnung der Mitwirkung für dauernd oder nur für eine bestimmte Zeit rechtfertigt (vgl Seewald in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht38 I Rz 9 f zu § 65 SGB I; Hauck, SGB I 16. Lfg K § 65 Rz 7 f; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung I/1 80g II mwN ua).

In Anbetracht des Umstandes, dass der den Kläger seit Jahren behandelnde Facharzt den operativen Eingriff derzeit jedenfalls für verfrüht hält und auch der gerichtliche Sachverständige in der Tagsatzung vom 17. 1. 2000 im Hinblick auf das Alter des Klägers noch die Auffassung vertrat, dass man mit der Operation "noch einige Jahre zuwarten müsse, weil noch nicht bzw nicht genau bekannt sei, wie lange eine Knieprothese halten werde", erscheint bei der festgestellten Haltbarkeit einer solchen Prothese von etwa 15 Jahren und einer bloß einmaligen Reoperationsmöglichkeit auch nach Auffassung des Revisionsgerichtes die Weigerung des Klägers, sich der vom Sachverständigen vorgeschlagenen Knieprothesenoperation zu unterziehen, für den vom Berufungsgericht festgesetzten Zeitraum bis 30. 9. 2004 als berechtigt. Das Berufungsgericht hat daher dem Klagebegehren insoweit zu Recht stattgegeben.

Der Revision war damit ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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