Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Text
Entscheidungsgründe:
Die damals 47 Jahre alte Klägerin zog sich bei einem Arbeitsunfall am 24.7.1975 einen Speichenbruch an typischer Stelle links mit Abbruch des Griffelfortsatzes der Elle zu. Für die Folgen dieses Unfalles stand sie zuletzt im Genuß einer Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente. Bei einem weiteren Unfall am 9.11.1988 zog sich die Klägerin einen Bruch des inneren Knöchels rechts zu, der zunächst nicht erkannt worden ist. Es entwickelte sich eine sudeksche Dystrophie.
Der Speichenbruch an typischer Stelle links aus dem Arbeitsunfall vom 24.7.1975 ist leicht schief verheilt. Der Griffelfortsatz der Elle springt stärker hervor. Die Konturen des Gelenkes sind geringfügig verstrichen, die Finger und der Daumen sind frei beweglich. Das Heben der Hand gelingt seitengleich, das Senken ist 10 Grad eingeschränkt. Die Seitenbewegungen sind nur mehr spurenweise behindert. Alle übrigen Armgelenke sind frei beweglich. Gefühlsstörungen und Muskelschwäche liegen nicht vor, wenn man von physiologischen Umfangdifferenzen absieht. Die Beweglichkeit des Handgelenkes hat seit Feststellung der Dauerrente nach allen Richtungen wesentlich zugenommen. Gewöhnung und Anpassung an Unfallfolgen sind eingetreten. Die relativ kräftige Hohlhandbeschwielung läßt auf einen sehr guten Gebrauch schließen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt aufgrund der wesentlichen Besserung ab 1.10.1990 unter 10 vH; es sind jedoch Folgen nach dem Unfall zurückgeblieben. Bei der Gesamtrentenbildung ist die hiedurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 5 vH einzuschätzen.
Das rechte Sprunggelenk ist nach dem Arbeitsunfall am 9.11.1988 deutlich verstrichen, ein seitlicher Anschlag besteht nicht. Die Fußgewölbe sind vollkommen durchgesunken, die Fußpulse sind tastbar. Die Beweglichkeit des oberen Sprunggelenkes ist nach beiden Richtungen mäßig eingeschränkt. Das untere Sprunggelenk bleibt nur spurenweise zurück. Unfallunabhängig leidet die Klägerin an mobilen Senkspreizfüßen, X-Knie und einer Kniearthrose rechts mit rezidivierenden Ergüssen. Die Gangleistung ist daher in geringem Maß wegen der Unfallfolgen und in wesentlich stärkerem Ausmaß wegen unfallfremder Leiden behindert. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt ab 1.10.1990 20 vH. Bei einer Gesamtbeurteilung nach den Unfällen im Jahr 1975 und 1988 ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 25 vH ab 1.10.1990 für dauernd einzuschätzen.
Mit Bescheid vom 7.8.1990 entzog die beklagte Partei die der Klägerin für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 24.7.1975 mit Bescheid vom 22.3.1990 zuerkannte Versehrtenrente in der Höhe von 20 vH der Vollrente mit Ablauf des Monates September 1990 mit der Begründung, daß die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf ein Maß gesunken sei, welches keinen weiteren Anspruch auf Versehrtenrente begründe. Mit weiterem Bescheid vom 7.8.1990 wurde die für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 9.11.1988 in der Höhe von zuletzt 30 vH der Vollrente festgestellte vorläufige Versehrtenrente mit Wirkung ab 1.10.1990 unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH neu festgestellt ausgesprochen, daß die Rente ab 1.10.1990 gem § 203 ASVG in einer monatlichen Höhe von 490,10 S gebühre sowie gemäß § 99 ASVG iVm § 205 a ASVG die Zusatzrente entzogen. Dies mit der Begründung, daß nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung in den Verhältnissen, die für die letzte Feststellung der Versehrtenrente maßgeblich waren, eine wesentliche Änderung eingetreten sei, weshalb die Versehrtenrente neu festzustellen gewesen sei. Da die nunmehr festgestellte Erwerbsminderung nach den Unfällen vom 24.7.1975 und 9.11.1988 weniger als 50 vH betrage, sei für die Rentenberechnung nur mehr die einfache Bemessungsgrundlage heranzuziehen sowie der Anspruch auf die Zusatzrente nicht mehr gegeben. Gegen beide Bescheide erhob die Klägerin Klage. Die Klagen wurden vom Erstgericht zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Im Zug der mündlichen Streitverhandlung modifizierte die Klägerin ihre ursprünglichen Begehren und begehrt letztlich die Gewährung einer Gesamtrente von 25 vH der Vollrente.
Das Erstgericht gab dem Begehren der Klägerin statt. Eine Gesamteinschätzung der Folgen beider Unfälle ergebe eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 vH, sodaß ihrem Begehren Berechtigung zukomme.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Bei Zusammentreffen mehrerer Arbeitsunfälle bestehe ein Anspruch auf Entschädigung nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 210 ASVG vorlägen. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine vorläufige Versehrtenrente seien aber andere als die für eine Dauerrente. Werde ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt, und betrage die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH, so sei die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 des § 210 ASVG festzustellen, soferne die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH erreiche. Die Feststellung der Gesamtrente habe nach § 210 Abs 2 ASVG spätestens vom Beginn des 3. Jahres nach dem Eintritt des neuerlichen Versicherungsfalles nach dem Grad der durch alle Versicherungsfälle verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erfolgen. § 210 Abs 2 ASVG verweise im Gegensatz zu § 210 Abs 4 ASVG nicht auf den Abs 1 des § 210 ASVG, sehe aber für die Festsetzung der Gesamtrente die immer eine Dauerrente sei, vor, daß sie nach dem "Grad der durch alle Versicherungsfälle verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit" festzustellen sei. Das bedeute, daß nicht mehr Anspruch auf Entschädigung der einzelnen Unfälle nebeneinander selbständig bestehe. Da es sich um eine Feststellung einer Gesamtrente handle, sei es nicht erforderlich, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit aus einem Unfall mindestens 10 vH erreiche. Die 10 %-Grenze spiele nur für die Festsetzung der vorläufigen Versehrtenrente nach § 210 Abs 1 und Abs 4 ASVG eine Rolle, da hiebei die Folgen der mehreren Unfälle nebeneinander zu entgelten seien. Die Feststellung der Dauerrente sei dagegen an die Grundlagen für die Berechnung der vorläufigen Rente nicht gebunden. Es müsse vielmehr die durch beide Unfälle verursachte Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit erhoben werden. Diese betrage im vorliegenden Fall 25 vH, sodaß das Begehren der Klägerin berechtigt sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß der Klägerin eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH zugesprochen und das Mehrbegehren abgewiesen werde.
Die Klägerin hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Die beklagte Partei vertritt den Standpunkt, die Folgen des Unfalles vom 24.7.1975 hätten bei der Bemessung der Gesamtrente außer Betracht zu bleiben, weil sie nur eine 10 vH nicht erreichende Minderung der Erwerbsfähigkeit bedingen; derart geringe Schädigungen seien bei Bildung der Gesamtrente überhaupt auszuscheiden. Dem kann nicht beigetreten werden.
Teschner, MGA ASVG 47.ErgLfg. 1042 FN 3 - hierauf hat die Revisionswerberin in ihrer Berufung Bezug genommen - führt aus, daß frühere Arbeitsunfälle auszuschalten seien, deren Bedeutungslosigkeit feststehe oder die vorher niemals geltend gemacht worden oder infolge rascher Wiederherstellung nicht näher aufgeklärt worden seien. Daher seien Unfälle nicht zu berücksichtigen, wenn die Rente infolge Sinkens der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf einen nicht meßbaren Grad wie etwa auf unter 10 vH entzogen worden sei und beruft sich dazu auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.5.1950, P 62/49. Dabei handelt es sich offenbar um ein Fehlzitat, weil die genannte Entscheidung keinen Fall einer Gesamtrentenbildung betrifft. Eine ausführliche Wiedergabe der früheren Judikatur zu dieser Frage findet sich bei Leitner, SozSi 1961, 129 ff [131]. Zitiert werden an dieser Stelle unter anderem die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes vom 13.6.1950, P 30/49, ÖJZ 1950, 585 und vom 17.5.1950, P 21/59, JBl. 1950, 417. Der Verwaltungsgerichtshof sprach in der Entscheidung ÖJZ 1950, 585 aus, gemäß § 559 a Abs. 3 RVO werde, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge eines Unfalles um weniger als 20 vH gemindert sei, ene Rente gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit auch infolge eines anderen Unfalles gemindert sei und die Hundertsätze der durch die einzelnen Unfälle verursachten Minderung zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Dabei sei ein Unfall dann nicht zu berücksichtigen, wenn die Rente wegen Sinkens der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf einen nicht mehr meßbaren Grad - wie etwa unter 10 vH - entzogen worden sei, während Unfälle, für die eine Rente aufgrund förmlicher Feststellungen nicht mehr gewährt worden sei, weil der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit zwar unter 20 vH, jedoch nicht unter 10 vH gesunken sei, als "andere Unfälle" zu berücksichtigen seien. Auf diese Entscheidung beziehen sich offenbar auch die oben zitierten Ausführngen von Gehrmann-Rudolph-Teschner aaO. In der Entscheidung JBl. 1950, 417 wird ausgesprochen, daß Voraussetzung für die Berücksichtigung der Folgen eines Unfalles bei der Gesamtrentenbildung sei, daß die Unfallsfolgen meßbar seien; dies sei bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 10 vH gegeben. Die in diesen Entscheidungen getroffenen Aussagen basieren jedoch auf einer anderen Rechtslage. § 559 a Abs 3 RVO bestimmte in der damals maßgeblichen Fassung, daß dann, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Unfalles um weniger als 1/5 gemindert sei, die Rente nur gewährt werde, solange die Erwerbsfähigkeit auch infolge eines anderen oder mehrerer anderer Unfälle gemindert sei und die Hundertsätze der durch die einzelnen Unfälle verursachten Minderung zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Andere Unfälle seien hiebei dann zu berücksichtigen, wenn für sie ein Anspruch auf Krankengeld oder Rente bestehe oder der Verletzte wegen einer Teilrente von mehr als 10 vH abgefunden worden sei oder wenn eine Rente weggefallen oder mangels hinreichender Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund förmlicher Feststellung nicht oder nicht mehr gewährt worden sei. Ob diese Judikatur (insbesondere im Hinblick auf die Bestimmung des § 559 a Abs 5 RVO) im Gesetz gedeckt war, ist hier nicht zu untersuchen. Auch die Rechtsprechung in der BRD kam bei damals gleicher Gesetzeslage zum selben Ergebnis (siehe auch Brackmann, Handbuch 56. Nachtrag 570 m). Diese Rechtsprechung wurde in der BRD im weiteren durch das Unfallversicherungsneuregelungsgesetz im Gesetz festgeschrieben. Gemäß § 581 Abs 3 Satz 2 RVO (nF) sind bei der Bildung der Gesamtrente die Folgen eines Arbeitsunfalles nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 vH mindern (siehe dazu die Ausführungen bei Brackmann aaO). Einen anderen Weg ist der Gesetzgeber des ASVG gegangen. Gemäß § 210 Abs 1 ASVG ist dann, wenn ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt wird und die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH beträgt, die Entschädigung aus diesen mehreren Versicherungsfällen nach Maßgabe der Abs 2 bis 4 festzustellen, sofern die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH .... erreicht. Während für den neuerlichen Unfall eine wenigstens 10 %ige Minderung der Erwerbsfähigkeit ausdrücklich gefordert wird, wenn § 210 ASVG überhaupt zur Anwendung kommen soll (diese Bedingung gilt im übrigen abweichend von der Ansicht des Berufungsgerichtes auch für den Fall der Festsetzung der Gesamtrente, weil § 210 Abs 1 ASVG die grundsätzlichen Voraussetzungen für alle Fälle festlegt - arg nach Maßgabe der Abs 2-4) fehlt die gleiche Anforderung hinsichtlich der übrigen Unfälle. Will man nun nicht etwa annehmen, der Gesetzgeber habe rein zufällig eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 10 vH nur für die neuerliche Schädigung gefordert, so muß daraus geschlossen werden, daß als andere Unfälle (außer der neuerlichen Schädigung) auch solche in Betracht kommen, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 10 vH hinterlassen haben (idS Leitner aaO 131). Es sind daher alle Vorunfälle bei Bildung der Gesamtrente zu berücksichtigen, die für sich allein eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit bedingen. Es kann aber nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß Folgen eines Unfalles, die eine unter 10 vH liegende Minderung der Erwerbsfähigkeit bedingen, nicht meßbar seien. Den Entscheidungen des Oberlandesgerichtes Wien, die dies zugrundelegten (zB SVSlg 21.673), kann insoweit nicht gefolgt werden. Allein der Umstand, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch den zweiten Unfall allein 20 vH beträgt, die Folgen beider Unfälle zusammen jedoch 25 vH betragen, steht dem Argument, die durch den ersten Unfall eingetretene Minderung der Erwerbsfähigkeit sei nicht meßbar, entgegen.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher frei von Rechtsirrtum.
Kosten wurden nicht verzeichnet.
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