Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahren und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der am 30.4.1929 geborene Kläger ist bei der beklagten Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft pensionsversichert. Am 28.3.1991 stellte er den Antrag auf Gewährung der Alterspension.
Die beklagte Partei wies mit Bescheid vom 1.7.1991 den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, daß dieser das 65.Lebensjahr nicht vollendet habe und daher die Voraussetzungen für diese Leistung gemäß § 130 GSVG nicht erfüllt seien.
Das Erstgericht wies das auf Gewährung einer Alterspension ab 1.5.1991 gerichtete Begehren des Klägers ab; dieser habe das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet, so daß der begehrte Anspruch nicht zu Recht bestehe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Den vom Kläger geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken hielt es entgegen, daß nach dem im Verfassungsrang stehenden Art I des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten, BGBl 1991/627, gesetzliche Regelungen über verschiedene Altersgrenzen, durch die sich der Kläger beschwert erachte, zulässig seien. Wohl habe der Verfassungsgerichtshof gesetzliche Bestimmungen über unterschiedliche Altersgrenzen von Männern und Frauen zuvor nur in anderen Sozialversicherungsgesetzen, nicht jedoch im GSVG als verfassungswidrig aufgehoben, doch sei durch die im Verfassungsrang stehende Bestimmung des zitierten Bundesgesetzes auch die Regelung des § 130 GSVG saniert.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern. Dabei wiederholt der Kläger im wesentlichen die in der Berufung vorgetragenen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 130 GSVG.
Rechtliche Beurteilung
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Da der Oberste Gerichtshof Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 130 GSVG in der im hier maßgeblichen Zeitpunkt in Kraft gestandenen Fassung hatte, stellte er an den Verfassungsgerichtshof den Antrag, im § 130 Abs 1 GSVG BGBl 1978/560 idF des Sozialrechtsänderungsgesetzes 1991 BGBl 157 die Wortfolge "nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte" als verfassungswidrig aufzuheben oder auszusprechen, daß in der angeführten Bestimmung diese Wortfolge in der Zeit vom 1.4.1991 bis 30.11.1991 verfassungswidrig war.
Mit Erkenntnis vom 2.12.1992, G 190/92-6, sprach der Verfassungsgerichtshof aus, daß die Wortfolge "nach Vollendung des 65. Lebensjahres, die Versicherte" im § 130 Abs 1 des Bundesgesetzes vom 11.Oktober 1978, BGBl 560/1978, über die Sozialversicherung der in der gewerblichen Wirtschaft selbständig Erwerbstätigen (Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz - GSVG) idF des Art II Z 6 lit a des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991, BGBl 157/1991 bis zum Ablauf des 30.11.1991 verfassungswidrig war.
An den Spruch des Verfassungsgerichtshofes sind nach Art 140 Abs 7 B-VG alle Gerichte und Verwaltungsbehörden gebunden. Die Bestimmung, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde, ist nach Art 140 Abs 7 B-VG auf alle in ihren Geltungsbereich fallenden Tatbestände mit Ausnahme des Anlaßfalles anzuwenden. Anlaßfall ist dabei die Rechtssache, die den Verfassungsgerichtshof zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bewogen hat (VfSlg 3103). Die Rückwirkung des Ausspruches des Verfassungsgerichtshofes für den Anlaßfall besteht darin, daß dieser so zu entscheiden ist, als ob die aufgehobene Bestimmung im für die Entscheidung des Anlaßfalles maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr bestanden hätte (VfSlg 3961, 4072), so daß sie im Anlaßfall nicht mehr anzuwenden ist (VfSlg 8934).
Damit ergibt sich für den vorliegenden Fall, daß der Umstand, daß der Kläger das 65.Lebensjahr noch nicht vollendet hat, dem erhobenen Anspruch auf vorzeitige Alterspension nicht entgegensteht. Die altersmäßige Voraussetzung für die begehrte Leistung ist erfüllt, weil der Kläger am Stichtag das 60.Lebensjahr überschritten hatte.
Es fehlen jedoch die für eine Beurteilung des Vorliegens der übrigen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch erforderlichen Feststellungen. In diesem Punkt erweist sich das Verfahren ergänzungsbedürftig. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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