OGH 10ObS31/22i

OGH10ObS31/22i21.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Hofrätin Dr. Faber als Vorsitzende, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Birgit Riegler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch Mag. Harald Brandstätter, Rechtsanwalt in St. Johann im Pongau, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. Jänner 2022, GZ 12 Rs 108/21 w‑18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 2. September 2021, GZ 59 Cgs 130/21h‑9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00031.22I.0621.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 209,39 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 34,90 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die 1943 geborene Klägerin ist deutsche Staatsbürgerin, ihr gewöhnlicher Aufenthalt ist in Österreich. Die Klägerin bezieht seit 1. 1. 2015 ausschließlich eine Regelaltersrente von der Deutschen Rentenversicherung, Bayern Süd, zuletzt seit 1. 7. 2020 in Höhe von 88,23 EUR monatlich. Die Klägerin bezieht keine österreichische Pensionsleistung. Sie ist mit ihrem Ehemann in der Krankenversicherung der Österreichischen Gesundheitskasse mitversichert. In Deutschland besteht keine Krankenversicherung.

[2] Mit Bescheid vom 30. 3. 2021 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung von Pflegegeld ab, weil die Klägerin der Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland zugehörig sei.

[3] Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zuerkennung von Pflegegeld in gesetzlicher Höhe. Sie scheine aktuell nicht in der Krankenversicherung der AOK in Deutschland auf und sei bei ihrem Ehegatten mitversichert, sodass die Beklagte zur Gewährung von Pflegegeld zuständig sei.

[4] Die Beklagte wandte ihre fehlende Zuständigkeit zur Gewährung von Pflegegeld ein, weil die Klägerin ausschließlich eine deutsche Altersrente beziehe.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Erhalte der Pflegebedürftige vom Wohnortstaat keine Rente (Pension) und kein sonstiges Einkommen, aber eine Rente (Pension) aus einem anderen Mitgliedstaat (EU, EWR, Schweiz), dann falle er in die Zuständigkeit des Gesundheitssystems dieses Staats (Art 29 iVm Art 24 Abs 2 lit a VO [EG] 883/2004). Ein Pflegegeldanspruch im Wohnortstaat gebühre daher nicht.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach § 3a Abs 1 BPGG seien allein die Kollisionsregeln der VO (EG) 883/2004 heranzuziehen. Da die Klägerin eine Rente (nur) aus einem anderen Mitgliedstaat der Union beziehe liege die Leistungszuständigkeit für Leistungen bei Krankheit, zu denen das Pflegegeld gehöre, beim pensionsauszahlenden Staat. Der Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 sei eröffnet, weil die Klägerin als deutsche Staatsbürgerin mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich die Zuerkennung einer Leistung des österreichischen Systems der sozialen Sicherheit begehre. Eine aufrechte Sozialversicherung sei hingegen kein Anknüpfungspunkt im Sinn der Art 2 und 3 VO (EG) 883/2004 . Daher komme es auf die Mitversicherung der Klägerin nach § 123 ASVG nicht an, die der Klägerin überdies keinen eigenen Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung vermittle. Eine Diskriminierung der Klägerin liege nicht vor, weil idente Sachverhalte durch die VO (EG) 883/2004 gleich behandelt würden und ein österreichischer Staatsbürger in der Situation der Klägerin nicht anders behandelt würde als sie. Ob jener Staat, der kollisionsrechtlich nach der VO (EG) 883/2004 für Leistungen bei Krankheit und somit auch für Pflege‑(geld‑)leistungen zuständig sei, tatsächlich Pflegeleistungen erbringe, sei für die Bestimmung der Leistungszuständigkeit ohne Bedeutung. Daher spiele der Umstand, dass die Klägerin in Deutschland tatsächlich gar nicht versichert sei bzw gewesen sei, kollisionsrechtlich keine Rolle.

[7] Die Revision sei zulässig, weil bei Anwendung der VO (EG) 883/2004 zur Frage des Bezugs von Pflegegeld bei einer Mitversicherung in der Krankenversicherung keine höchstgerichtliche Rechtsprechung existiere.

[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Stattgebung des Klagebegehrens anstrebt.

[9] Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

[10] 1. Der Oberste Gerichtshof hat mittlerweile in der erst nach dem Urteil des Berufungsgerichts ergangenen Entscheidung vom 20. 4. 2022, 10 ObS 202/21k (vgl auch 10 ObS 3/22x zu §§ 55, 56 B‑KUVG) die vom Berufungsgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage beantwortet. Daraus ergibt sich auch für den vorliegenden Fall:

[11] 2.1 Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die Klägerin nicht anspruchsberechtigt gemäß § 3 Abs 1 BPGG ist, weil sie keine der dort genannten Grundleistungen bezieht, ist zutreffend und wird in der Revision nicht mehr in Frage gestellt. Ebenso unstrittig ist auf die Klägerin daher § 3a BPGG anwendbar. Sie hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und ist infolge ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts österreichischen Staatsbürgern gemäß § 3a Abs 2 Z 3 BPGG gleichgestellt.

[12] 2.2 Weitere – negative – Anspruchsvoraussetzung gemäß § 3a Abs 1 BPGG ist, dass nicht ein anderer Mitgliedstaat nach der VO (EG) 883/2004 für Pflegeleistungen zuständig ist. Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach § 3a Abs 1 BPGG sind nach ständiger Rechtsprechung allein die Kollisionsregeln nach Art 11 ff VO (EG) 883/2004 heranzuziehen (RS0131205).

[13] 2.3 Eine Leistung bei Krankheit, wie das Pflegegeld nach dem BPGG, zählt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den in Art 19 Abs 1 lit a der VO (EWG) 1408/71 genannten Geldleistungen (EuGH C‑215/99 , ECLI:EU:C:2001:139, Jauch, Rn 35). Es ist daher auch als Geldleistung im Sinn der Art 21 ff VO (EG) 883/2004 anzusehen. Nach Art 29 Abs 1 iVm Art 21 VO (EG) 883/2004 ist für die Gewährung von Pflegegeld an Pensionisten (Rentner) mit einer Pension (Rente) eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union in der Regel daher der pensionsauszahlende Staat und nicht der Wohnmitgliedstaat zuständig (10 ObS 123/16k SSV‑NF 31/9; Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld4 Rz 3.46).

[14] 2.4 Geldleistungen (bei Krankheit) werden einer Person, die eine Rente nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats erhält, gemäß Art 29 Abs 1 VO (EG) 883/2004 vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats gewährt, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat.

[15] 2.5 Die Mitversicherung der Klägerin als Angehörige nach dem ASVG vermittelt dieser keinen eigenen oder abgeleiteten Anspruch auf Leistungen aus der österreichischen Krankenversicherung; der Anspruch steht vielmehr dem Versicherten selbst für sich und seine Angehörigen zu. Die Angehörigen selbst können Leistungen aus der Krankenversicherung – abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmefällen – nicht beanspruchen (10 ObS 202/21k mwH).

[16] 2.6 Den zuständigen Staat für Rentenbezieher, die – wie die Klägerin – keinen Anspruch auf (Sach‑)Leistungen bei Krankheit oder Mutterschaft nach dem Recht ihres Wohnmitgliedstaats besitzen, jedoch nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften sie eine Rente (Pension) beziehen, solche Leistungen erhalten könnten, wenn sie dort wohnten, bestimmt Art 24 VO (EG) 883/2004 (Janda in Fuchs, Europäisches Sozialrecht8 Art 24 VO [EG] 883/2004 Rz 1). Dies ist nach den vorliegenden Verfahrensergebnissen die Bundesrepublik Deutschland, weil die Klägerin eine Altersrente nach deutschem Recht bezieht (Statut der Rentenleistung; vgl Art 24 Abs 1 und Abs 2 lit a VO [EG] 883/2004; 10 ObS 202/21k mwH). Auf das tatsächliche Bestehen einer Krankenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland kommt es daher, worauf das Berufungsgericht zutreffend hingewiesen hat, nach der hier ausschließlich kollisionsrechtlich vorzunehmenden Beurteilung – entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin – nicht an (vgl schon 10 ObS 83/16b SSV‑NF 30/80).

[17] 2.7 Die von der Revisionswerberin behauptete Diskriminierung liegt aus den bereits in 10 ObS 123/16k SSV‑NF 31/9 dargelegten Gründen nicht vor: Eine österreichische Staatsbürgerin in der Situation der Klägerin würde nach § 3a Abs 1 BPGG nicht anders behandelt werden als die Klägerin, auch sie erhielte bei fehlender Zuständigkeit Österreichs nach der VO (EG) 883/2004 kein österreichisches Pflegegeld nach dieser Bestimmung.

[18] 3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht mit dieser Rechtsprechung im Einklang. Eine im Zeitpunkt der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich aufgeworfene Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung verliert die Erheblichkeit, wenn diese Rechtsfrage zwischenzeitig durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs geklärt wurde (RS0112921). Mangels Aufzeigens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision daher zurückzuweisen.

[19] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Trotz gänzlichen Unterliegens der Klägerin entspricht es der Billigkeit, ihr im Hinblick auf die rechtlichen Schwierigkeiten des Falls unter Berücksichtigung des Umstands, dass zum Zeitpunkt der Einbringung der Revision die Entscheidung 10 ObS 202/21k noch nicht ergangen war, sowie unter Berücksichtigung der festgestellten Einkommensverhältnisse die Hälfte ihrer Kosten des Revisionsverfahrens zuzusprechen (vgl RS0085871).

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