Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufung und der Revision sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 18.2.1993 lehnte die Beklagte den am 5.5.1992 gestellten Antrag der Klägerin auf Invaliditätspension mangels Invalidität ab.
Das auf die genannte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag (1.6.1992) gerichtete Klagebegehren stützte sich ua auf schwere, große Schmerzen verursachende Bandscheibenschäden und Funktionsausfälle der Hände.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.
Im Verfahren erster Instanz wurde die Klägerin durch Fachärzte für Innere Medizin (11.6.1993), Chirurgie (16.6.1993) sowie Neurologie und Psychiatrie (18.8.1993) untersucht, die schriftliche Gutachten erstatteten. Aus den Anamnesen geht hervor, daß die Klägerin bei diesen Sachverständigen ua über ständige Schmerzen entlang der gesamten Wirbelsäule und Schmerzen über beiden Handgelenkten nach Operationen (ON 4 AS 7), Schmerzen am Rücken und in der Kreuzregion sowie einen Zustand nach Karpaltunnelsyndromoperationen beider Hände (ON 5 AS 9) und Schmerzen in der Wirbelsäule, besonders im Nacken und im Ledenbereich, sowie Beschwerden nach den erwähnten Handoperationen (ON 6 AS 13) berichtete. Der Sachverständige für Chirugie diagnostizierte ua gering verstärkte Abnützungserscheinungen, eine Fehlhaltung und mäßige Beweglichkeitseinschränkungen der Wirbelsäule ohne Reizzustand der segmentalen Muskulatur sowie einen Zustand nach Freilegen des Mittelnervs im Bereich des rechten Handgelenks mit angegebener Gefühlsstörung und im Bereich des linken Handgelenks mit Störung des Faustschlusses. Nach seinem Gutachten kann die Klägerin seit dem Pensionsantrag während der von den üblichen Arbeitspausen unterbrochenen üblichen Arbeitszeit leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen ausüben, jedoch nicht mehr als zehn kg heben und tragen (ON 5 AS 11). Der Sachverständige für Neurologie und Psychiatrie diagnostizierte ein mäßiges Cervikal- und Lumbalsyndrom sowie einen Zustand nach beiderseitigen Karpaltunnelsyndromoperationen. Er erachtete die Klägerin für leichte, halbzeitig auch mittelschwere Arbeiten ohne Feinarbeiten arbeitsfähig (ON 6 AS 15).
In der Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung vom 28.10.1993 behauptete die Klägerin, daß sie Schmerzen im Bereich der rechten Handfläche und nicht des rechten Handgelenks habe. Nach Untersuchung der rechten Hand erklärte der Sachverständige für Neurologie, es handle sich eindeutig um eine beginnende Dupuytren-Kontraktur, die im Zusammenhang mit der Gefühlsstörung der ersten drei Finger unter Umständen zu einer Leidenspotenzierung führen könne. Das wäre jedoch vom (bei dieser Tagsatzung nicht anwesenden) Sachverständigen für Chirurgie zu beurteilen (ON 8 AS 25).
In ihrer Eingabe vom 15.1.1994 ON 14 AS 37 behauptete die Klägerin, ihre Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule hätten sich in letzter Zeit so verschlechtert, daß sie derzeit in ständiger Behandlung stehe. Periodisch würden so arge Schmerzen und "Bewegungsunfähigkeiten" auftreten, daß sie nicht einmal das eigene Telefon betätigen könne. Dazu berief sie sich ua auf den Befund eines Facharztes für Orthopädie und orthopädische Chirurgie vom 25.11.1993 Beilage D. Darin werden eine Intervertebralathrose C 5/S 1 und eine ISG-Athrose mit Randskleresierung bds diagnostiziert und ausgeführt, daß auf Grund dieser Beschwerden schweres Heben und Tragen unzulässig sei und stundenlanges Sitzen vermieden werden solle.
In der Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung vom 3.3.1994 wurde einvernehmlich der bisherige Akteninhalt verlesen, zu dem auch die vorerwähnte Eingabe der Klägerin ON 14 gehört (ON 15 AS 41). In dieser Tagsatzung, zu der der Sachverständige für Chirurgie wieder nicht erschienen war, diagnostizierte der Sachverständige für Neurologie neuerlich eine beginnende Dupuytren-Kontraktur der (rechten) Hand der Klägerin. Dann erklärte er, die Behinderungen der Hände seien von seinem Fachgebiet aus zu beurteilen und im Kalkül seines (schriftlichen) Gutachtens bereits berücksichtigt. Schließlich erstattete er ein zusammenfassendes Gutachten: Es bleibe beim Kalkül des Internisten (leichte, fallweise mittelschwere Arbeiten während der üblichen Zeiten und zu den üblichen Bedingungen [ON 4 AS 8] ohne überdurchschnittlichen Zeitdruck [ON 8 AS 25] mit der weiteren Einschränkung hinsichtlich des Ausschlusses von Feinarbeiten. Dieses Kalkül gelte seit dem Pensionsantrag; eine gegenseitige Leidensbeeinflussung bestehe nicht.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
Es stellte ua fest, daß die am 30.3.1940 geborene Klägerin während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag als Bedienerin tätig war. Aus chirurgischer Sicht bestehen ua gering verstärkte Abnützungserscheinungen, eine Fehlbeurteilung und eine mäßige Beweglichkeitseinschränkung der Wirbelsäule ohne Reizzustand der segmentalen Muskulatur, ein Zustand nach Freilegung des Mittelnervs im Bereich des rechten Handgelenks mit angegebener Gefühlsstörung und ein Zustand nach kurz zurückliegender Nervenfreilegung im Bereich des linken Handgelenks mit noch gestörtem Faustschluß. Aus neurologischer Sicht bestehen ein mäßiges Cervikal- und Lumbalsyndrom, der bereits chirurgisch beschriebene Zustand nach Karpaltunnelsyndromoperationen und eine beginnende, chirurgisch behandelbare Dupuytren-Kontraktur, die zu einer Behinderung beim Ausstrecken der Finger führt. Wegen ihrer Leiden kann die Klägerin "zu den üblichen Zeiten und Bedingungen" nur mehr leichte, fallweise auch mittelschwere Arbeiten ausüben; Feinarbeiten sowie Heben und Tragen von Lasten über 10 kg sind auszuschließen. Diese Arbeitsfähigkeit reicht für eine Reihe, im erstgerichtlichen Urteil näher beschriebene Hilfsarbeiterinnentätigkeiten aus.
Wegen dieser zumutbaren Verweisungstätigkeiten sei die Klägerin nicht invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge.
Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (Nichteinholung eines ordnungsgemäßen chirurgischen Sachverständigengutachtens, Nichtanleitung hinsichtlich eines orthopädischen Gutachtens) liege nicht vor. Die Rechtsrüge sei nicht gesetzgemäß ausgeführt. Die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes sei aber zutreffend (§ 2 ASGG und § 500a ZPO).
In der - unrichtig als "außerordentliche" bezeichneten - Revision nennt die Klägerin den Revisiongrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, führt aber inhaltlich - wie schon in der Berufung - auch eine Rechtsrüge, nämlich einen Feststellungsmangel, aus; sie beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Rechtliche Beurteilung
Die Beklagte erstattete keine Revisionbeantwortung.
Da es sich um ein Verfahren über wiederkehrende Leistungen in einer Sozialrechtssache handelt, ist die - ordentliche - Revision nach § 46 Abs 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig; sie ist auch iS des Eventualantrages berechtigt.
Bereits in der Berufung behauptete Verfahrensmängel erster Instanz, deren Vorliegen das Berufungsgericht verneint hat, können zwar nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates (SSV-NF 7/74 uva) auch in einer Sozialrechtssache nicht neuerlich in der Revision geltend gemacht werden; die Klägerin hat jedoch in der Berufung im Zusammenhang mit ihren die Wirbelsäule betreffenden Beschwerden nicht nur primäre Verfahrensmängel, sondern inhaltlich auch sekundäre Mängel, also Feststellungsmängel geltend gemacht, die dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung zuzuordnen sind. So wurde in der Berufung ua ausgeführt, daß die Prüfung des Gesundheitszustandes nur unzureichend erfolgt sei, weswegen nur unvollständige Feststellungen getroffen worden seien. Der Sachverständige für Chirurgie habe sein schriftliches Gutachten nicht ergänzt, so daß eine umfassende Sachverhaltsermittlung verhindert worden sei. Auch im Zusammenhang mit der schon in erster Instanz behaupteten orthopädischen Behandlung und den heftigen Schmerzen, die sowohl bei einer längeren Tätigkeit im Stehen als auch bei längerem Sitzen auftreten würden, wäre der Sachverhalt nicht umfassend ermittelt worden. Damit bezog sich die Berufungswerberin erkennbar auf ihr ergänzendes Vorbringen in der in der Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung verlesenen Eingabe vom 15.1.1994 ON 14, über die dort behauptete wesentliche Verschlechterung ihrer Beschwerden in letzter Zeit, also jedenfalls nach der einzigen Untersuchung durch den Sachverständigen für Chirurgie am 16.6.1993, wurde trotz Erheblichkeit keinerlei Beweisverfahren durchgeführt; es wurden darunter auch keine Feststellungen getroffen. Das Erstgericht hätte aber jedenfalls feststellen müssen, seit wann der von ihm ermittelte Gesundheitszustand und die durch diesen eingeschränkte Arbeitsfähigkeit der Klägerin bestehen und in welcher(n) Körperhaltung(en) die Klägerin arbeiten kann. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre auch festzustellen gewesen, ob, seit wann und wie sich die von der Wirbelsäule ausgehenden Beschwerden der Klägerin nach der erwähnten Untersuchung durch den Sachverständigen für Chirurgie verschlechtert haben, ob und in welcher Zeit sich diese Beschwerden bei entsprechender Behandlung wieder bessern werden und ob und in welchem Maß diese allfällige Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu einer weiteren Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin geführt hat, zB hinsichtlich der Arbeitshaltung und eines allfälligen Wechsels derselben (vgl Beilage D).
Der Revisionswerberin ist daher insoweit beizupflichten, daß sich das Berufungsgericht mit dem in der Berufung geltend gemachten Berufungsgrund, daß nach Inhalt der Prozeßakten erheblich scheinende Tatsachen in erster Instanz gar nicht erörtert (und festgestellt) wurden( § 496 Abs 1 Z 3 ZPO), nicht entsprechend befaßt hat. Dabei handelt es sich nicht um Verfahrensmängel iS, sondern um "rechtliche Feststellungsmängel", die mit Rechtsrüge geltend zu machen sind (SSV-NF 3/29 uva). Da die Berufung - im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichtes - somit eine gesetzgemäß ausgeführte Rechtsrüge enthält, hätte das Berufungsgericht die oben dargelegten Feststellungemängel behandeln und - soweit sie in der Berufung nicht ohnehin geltend gemacht wurden - sogar von Amts wegen aufgreifen müssen (Kodek in Rechberger, ZPO Rz 4 zu § 496).
Das Berufungsgericht hätte daher nicht durch Urteil in der Sache selbst erkennen dürfen, sondern gemäß § 497 Abs 1 ZPO deren § 496 anwenden müssen. Nach dieser Gesetzesstelle ist die Sache vom Berufungsgericht an das Prozeßgericht erster Instanz zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückzuweisen (Abs 1). Statt der Zurückverweisung hat das Berufungsgericht die in erster Instanz gepflogene Verhandlung, soweit erforderlich, zu ergänzen und durch Urteil in der Sache selbst zu erkennen, wenn nicht anzunehmen ist, daß dadurch im Vergleich zur Zurückweisung die Erledigung verzögert oder ein erheblicher Mehraufwand an Kosten verursacht würde (Abs 3).
Da von der im letztzit Abs genannten Annahme ausgegangen werden kann, sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Sozialrechtssache ist an das Erstgericht zur Verhandlung und Urteilsfällung zurückzuverweisen.
Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Berufung und der Revision beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.
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