OGH 10ObS248/93

OGH10ObS248/9321.12.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Wolfgang Dorner und Mag. Margarethe Peters (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf R*****, Pensionist, *****, vertreten durch Dr. Emil Schreiner, Rechtsanwalt in Eisenstadt, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr. Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. September 1993, GZ 32 Rs 102/93-21, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22. März 1993, GZ 16 Cgs 694/92-12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 1.9.1926 geborene Kläger übte die Berufe eines Gastwirtes und eines Landwirtes aus. Er bezieht eine Erwerbsunfähigkeitspension von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft und eine Versehrtenrente im Ausmaß von 30 v.H. von der beklagten Sozialversicherungsanstalt der Bauern. Am 26.7.1992 erlitt der Kläger bei einem Sturz von einem Traktor einen distalen Unterschenkelbruch rechts und einen Schienbeinkopftrümmerbruch links. Diese Verletzungen führten zu einer erheblichen Fußdeformierung rechts, einer weitgehenden Versteifung der Zehen- und Sprunggelenke, einer Streck- und Beugebehinderung des linken Kniegelenkes, einer leichten Bewegungseinschränkung des oberen und einer mäßigen Behinderung des unteren Sprunggelenkes sowie einer erheblichen Gangbehinderung und Verminderung der Belastungsfähigkeit beider Beine. Unfallsunabhängig bestehen beim Kläger eine Einschränkung des rechten Schultergelenkes nach einem Oberarmbruch rechts im Jahr 1970, ein Zustand nach Herzinfarkt, Bluthochdruck und erhebliche Durchblutungsstörungen an beiden Beinen, außerdem eine Zuckerkrankheit.

Mit Bescheid der Beklagten vom 3.12.1992 wurde der Unfall des Klägers vom 26.7.1992 gemäß §§ 175 ff ASVG als Arbeitsunfall anerkannt. Die Gewährung einer Versehrtenrente für die Folgen dieses Arbeitsunfalles wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger bereits vor dem Eintritt dieses Versicherungsfalles erwerbsunfähig gewesen sei, so daß die Folgen des Unfalls keine Minderung der Erwerbsfähigkeit bewirken könnten.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger für die Folgen des genannten Arbeitsunfalles ab dem 26.9.1992 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 60 v.H. der Vollrente zu gewähren. Das Erstgericht stellte fest, daß der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalles in der Lage gewesen sei, stundenweise und gelegentlich leichte Arbeiten zu verrichten. Dieses erheblich reduzierte Leistungskalkül und damit die Erwerbsfähigkeit sei durch die Unfallsfolgen seit dem 26.9.1992 so weit eingeschränkt, daß er ab diesem Zeitpunkt keinerlei Arbeiten mehr verrichten könne, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertet würden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 60 v.H. Daraus folgerte das Erstgericht rechtlich, daß die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger eine Versehrtenrente in diesem Ausmaß zu erbringen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens ab. Nach dem vom Erstgericht eingeholten Sachverständigengutachten sei der Kläger unmittelbar vor dem Unfall nur mehr in der Lage gewesen, stundenweise und gelegentlich leichte Arbeiten zu verrichten; von einer geregelten Arbeitsleistung habe zu diesem Zeitpunkt keine Rede mehr sein können. Das Sachverständigengutachten sei in der Folge dahin ergänzt worden, daß der Kläger in der Summation einzelner Teilabschnitte nur leichte Arbeiten bis zur Hälfte eines Arbeitstages mit weiteren Einschränkungen erbringen habe können. Ein Versicherter, der nur stundenweise und gelegentlich leichte Arbeiten verrichten könne, sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar, weil seine Einsatzfähigkeit vom Wohlwollen und der Nachsicht des Dienstgebers abhängig wäre. Der Kläger sei daher zum Unfallszeitpunkt nicht mehr erwerbsfähig gewesen, weshalb der Unfall keine Minderung der Erwerbsfähigkeit bewirkt habe und auch keinen Anspruch auf Versehrtenrente auslösen könne.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Er beantragt die Aufhebung dieses Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung, hilfsweise die Abänderung im klagestattgebenden Sinn.

Die Beklagte beantragte in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt ausgeführt hat, ist der Grad der durch die Unfallfolgen verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich abstrakt nach dem Unfang aller verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, also auch selbständiger Tätigkeiten zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten - und nicht nur den tatsächlich genützten - zu setzen. Unter den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 203 ASVG ist nämlich die Fähigkeit zu verstehen, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb durch selbständige oder unselbständige Arbeit zu verschaffen (SZ 63/162 = SSV-NF 4/122, 6/130 jeweils mwN). Richtig ist, daß nach ständiger Lehre und Rechtsprechung (SSV-NF 4/117 mwN) eine schon vor dem Arbeitsunfall eingetretene gänzliche Erwerbsunfähigkeit des Versehrten eine weitere Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit einen Anspruch auf Versehrtenrente ausschließt. Aus der Gewährung einer Erwerbsunfähigkeits-(oder Invaliditäts)pension ergibt sich nicht notwendig Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Unfallversicherungsrechtes, sondern es ist zu untersuchen, inwieweit Erwerbsfähigkeit im oben definierten Sinn vor dem Unfall noch vorhanden war oder ob der Versehrte bereits so erwerbsunfähig war, daß der Unfall gar keine weitere Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr bewirken konnte. Dabei ist etwa auch zu prüfen, ob sich der Kläger allenfalls auch durch Heimarbeit noch einen regelmäßigen Erwerb verschaffen konnte (SSV-NF 6/96).

Die erstgerichtlichen Feststellungen, daß der Kläger im Unfallszeitpunkt in der Lage gewesen sei, stundenweise und gelegentlich leichte Arbeiten zu verrichten, reichen zur Beurteilung der oben dargelegten Fragen nicht aus. Entscheidend ist im Sinn eines richtigen Verständnisses der gänzlichen Erwerbsunfähigkeit nämlich die Unfähigkeit, sich im Wirtschaftsleben einen regelmäßigen Erwerb zu verschaffen, was mit der Unfähigkeit, eine "regelmäßige" oder "geregelte" Arbeitsleistung zu erbringen, nicht gleichgesetzt werden darf. Berücksichtigt man die vom Berufungsgericht aus den schriftlichen Sachverständigengutachten getroffenen weiteren Feststellungen, daß der Kläger "in der Summation einzelner Teilabschnitte" leichte Arbeiten bis zur Hälfte eines Arbeitstages erbringen konnte, dann ergibt sich ein gewisser Widerspruch zu der vom Erstgericht getroffenen Feststellung, der Kläger habe nur gelegentlich und stundenweise leichte Arbeiten verrichten können. Diesbezüglich sind weitere Feststellungen erforderlich, die eine verläßliche Beurteilung möglich machen, ob und in welchem Ausmaß die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Arbeitsunfalles vermindert ist. Sowohl die erstgerichtlichen wie die vom Berufungsgericht ergänzend getroffenen Feststellungen sind zu unbestimmt und lassen nicht erkennen, was die Begriffe "stundenweise", "gelegentlich", "in der Summation einzelner Teilabschnitte" umschreiben. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes wäre der Kläger auch nicht etwa deshalb auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbar gewesen, weil seine Einsatzfähigkeit vom Wohlwollen und der Nachsicht des Dienstgebers abhängig gewesen wäre. Die Arbeitsmöglichkeiten sind, wie oben ausgeführt, auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, also auch unter Berücksichtigung selbständiger Tätigkeiten und unter Einschluß von Heimarbeit zu beurteilen, also Tätigkeiten, in denen es auf das Wohlwollen oder die Nachsicht eines Dienstgebers nicht ankommt.

Unberücksichtigt zu bleiben hatte der Umstand, daß der Kläger (offenbar) von der Beklagten bereits eine Versehrtenrente im Ausmaß von 30 v.H. für die Folgen zweier längere Zeit zurückliegender Arbeitsunfälle bezieht. Die Vorinstanzen waren nicht verpflichtet und auch gar nicht berechtigt, die früheren Arbeitsunfälle zum Gegenstand ihrer Entscheidung zu machen und über die Gewährung einer Gesamtrente (§ 210 ASVG) zu entscheiden. Dies hätte nämlich vorausgesetzt, daß der Kläger seine Klage auf alle Arbeitsunfälle gestützt oder die Beklagte die Notwendigkeit der Feststellung einer Gesamtrente eingewendet hätte (SSV-NF 3/128; siehe auch OLG Linz SVSlg 37.750). Da dies nicht geschah, ist es auch dem Obersten Gerichtshof derzeit verwehrt, auf die Feststellung einer Gesamtrente Bedacht zu nehmen.

Da es offenbar einer Verhandlung erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war auch das Urteil des Erstgerichtes aufzuheben und die Sozialrechtssache an dieses zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 1 Abs 2 ASGG.

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