Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger ab 1.9.1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 von S 5.690,- monatlich abzüglich der bereits bezahlten Beträge bei Exekution zu zahlen. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, den Kläger ab 1.9.1995 ein Pflegegeld einer höheren Stufe zu zahlen, wird abgewiesen.
Die klagende Partei hat die Kosten aller drei Instanzen selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 14.3.1956 geborene Kläger leidet an einem Zustand nach Virusenzephalitis im 3. Lebensmonat mit Imbezillität. Er ist örtlich und zeitlich desorientiert und nicht in der Lage, verbal zu kommunizieren. Er geht breitbeinig-ataktisch und hält die Arme in spastischer Beugestellung. Er weist dyskinetische, parkinsonhafte Bewegungsstörungen und Gleichgewichtsstörungen auf, gelegentlich kommt es zu Bewegungsstürmen. Es besteht eine chronische Obstipation. Da der Kläger die Anwendung von Einläufen nicht toleriert, erhält er dreimal wöchentlich ein Abführmittel, wobei es zumeist etwa dreimal wöchentlich zu einer Stuhlinkontinenz kommt. Darüber hinaus muß er ganz allgemein regelmäßig zur Verrichtung der Notdurft angehalten werden. Dem Kläger müssen etwa dreimal täglich Medikamente eingegeben werden. Er ist zwar imstande, sich selbständig an- und auszuziehen, bedarf jedoch jeweils der Anleitung dazu im Sinne einer Aufforderung, mit dem An- oder Ausziehen zu beginnen. Nach dem Anziehen muß kontrolliert werden, ob die Kleidungsstücke richtig angezogen und die Knöpfe und Reißverschlüsse geschlossen wurden. Der Kläger kann sich nach einer entsprechenden Aufforderung selbständig waschen. Dabei kann er allerdings nur einfache Pflegemaßnahmen bewältigen. Das Ergebnis muß jeweils von einer Pflegeperson kontrolliert werden. Er bedarf der Hilfe beim Duschen und beim Wannenbad. Auch das Rasieren und vergleichbar schwierigere Pflegemaßnahmen wie das Nägelschneiden müssen von einer Pflegeperson vorgenommen werden. Der Kläger kann selbständig essen und trinken, nimmt die Mahlzeiten allerdings so rasch ein, daß es zu Verdauungsstörungen kommt. Der Kläger ist nicht selbst in der Lage, Mahlzeiten zuzubereiten, Nahrungsmittel und Medikamente herbeizuschaffen, die Wohnung und die persönlichen Gebrauchsgegenstände zu reinigen, die Wäsche zu besorgen und die Zentralheizung zu bedienen. Er bedarf der Mobilitätshilfe im weiteren, aber nicht im engeren Sinn. Er ist innerhalb der Station selbständig mobil. Er bewegt sich mit nur kurzen Unterbrechungen den ganzen Tag auf dem Stationsgang hin und her. Darüber hinaus geht er in Begleitung von Pflegepersonen spazieren und schwimmen. Eine selbständige Beschäftigung ist ihm nur für ganz wenige Minuten möglich. Er zeigt keine Selbst- oder Fremdgefährlichkeit und keine Stationsfluchttendenzen. Er kann aber nur einfache Bedürfnisse und Gefahren erkennen und bewältigen. Er kann seine Bedürfnisse nur dadurch artikulieren, daß eine Pflegeperson an der Hand nimmt und sie führt. Die Pflegeperson muß sich im Wohnbereich des Klägers befinden, laufend Hörkontakt halten und etwa alle 10 bis 15 Minuten beim Kläger direkt Nachschau halten.
Mit Bescheid vom 20.12.1996 gewährte die beklagte Partei dem Kläger ab 1.9.1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 von monatlich S 5.690,-.
Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren teilweise statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.9.1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 von S 8.535,- monatlich abzüglich der bereits bezahlten Beträge zu leisten. Das Mehrbegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes insbesondere eines solchen der Stufe 7 wurde (rechtskräftig) abgewiesen.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, der Kläger habe folgenden monatlichen Pflegebedarf: Für das An- und Ausziehen 10 Stunden, für das Reinigen bei Inkontinenz 10 Stunden, für die Verrichtung der Notdurft 30 Stunden, für die Körperpflege 25 Stunden, für die Einnahme der Medikamente 5 Stunden und für die Zubereitung der Mahlzeiten 30 Stunden. Für Betreuungsmaßnahmen ergebe sich daher ein Pflegeaufwand von 110 Stunden monatlich. Dazu komme der Pflegebedarf für die Hilfsverrichtungen von jeweils 10 Stunden für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Insgesamt ergebe sich ein Pflegebedarf von durchschnittlich 150 Stunden monatlich. Überdies sei aber beim Kläger das Einhalten eines ständigen Hörkontaktes und eine Nachschau durch die Pflegeperson alle 10 bis 15 Minuten erforderlich. Die Notwendigkeit der dauernden Bereitschaft bzw der dauernden Anwesenheit begründe einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 5 oder 6 nur dann, wenn sie zu einem sonstigen Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich hinzutrete. Ein solcher liege beim Kläger nicht vor.
Dennoch gebühre ihm ein höheres Pflegegeld als die Stufe 3: Der sich aus der Notwendigkeit der permanenten Anwesenheit einer Betreuungsperson ableitende leidensbedingte Mehraufwand übersteige jedenfalls bei weitem 30 Stunden monatlich, sodaß sich insgesamt ein Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden monatlich ergebe.
Das Berufungsgericht gab den von beiden Streitteilen erhobenen Berufungen nicht Folge. Es trat der Auffassung des Erstgerichtes bei, daß die Notwendigkeit des Höhrkontaktes und der regelmäßigen Nachschau beim Kläger einen 30 Stunden übersteigenden Pflegebedarf rechtfertige wobei es sich um eine psychische Betreuung des Klägers handle.
Die beklagte Partei bekämpft dieses Urteil insoweit, als dem Kläger ein Pflegegeld in einem die Stufe 3 übersteigenden Ausmaß zuerkannt wurde und beantragt insoweit die Abänderung im Sinne einer Abweisung des Mehrbegehrens. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Die Revision ist berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Zutreffend macht die Revisionswerberin geltend, daß die von den Vorinstanzen vorgenommene Berücksichtigung eines der dauernden Beaufsichtigung gleichzuachtenden Pflegeaufwandes, obwohl der sonstige Pflegebedarf nur durchschnittlich 150 Stunden monatlich betrage, dem § 4 Abs 2 BPGG widerspricht. Anspruch auf Pflegegeld besteht in Höhe der Stufe 4 nur für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt. Die Stufe 5 gebührt dagegen Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist. Ein solcher außergewöhnlicher Pflegeaufwand liegt nach § 6 der Einstufungsverordung zum BPGG (EinstV) vor, wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist. Pflegegeld der Stufe 6 gebührt Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich ist.
Die Tatsacheninstanzen haben den Umfang der notwendigen Beaufsichtigung des Klägers festgestellt (Hörkontakt durch die offene Tür, Nachschau alle 15 bis 20 Minuten). Von wesentlicher Bedeutung ist, ob der für die Beaufsichtigung des Klägers erforderliche Zeitaufwand bei der Ermittlung des Betreuungaufwandes in Anschlag zu bringen ist. Der dazu von den Vorinstanzen vertretenen Rechtsansicht ist nicht zu folgen.
Die Pflegegeldregelungen des Bundes nehmen auf die "Beaufsichtigung" in zwei Bestimmungen Bezug. § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG normiert den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 6 für Personen, deren Pflegebedarf nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich ist. § 4 EinstV bestimmt, daß die Anleitung sowie die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen ist. Diese Bestimmung war für die Berücksichtigung des Aufwandes für die Beaufsichtigung bei der Vornahme der in den §§ 1 und 2 EinstV genannten Verrichtungen erforderlich, weil die letztgenannten Bestimmungen nur Werte für den Betreuungs- und Hilfsbedarf bei tatsächlicher Verrichtung der Tätigkeit durch eine vom Pflegebedürftigen verschiedene Person vorsehen und es sich bei der Beaufsichtigung bei der Durchführung dieser Verrichtungen durch den Pflegebedürftigen selbst um etwas anderes handelt als bei der Vornahme der Verrichtungen durch eine Betreuungsperson. Die Regelung zeigt aber, daß dem Verordnungsgeber die Problematik der notwendigen Beaufsichtigung einer behinderten Person bekannt war. Daß er nur für den dort genannten Fall die Berücksichtigung des Zeitaufwandes für die Beaufsichtigung vorsah, spricht dafür, daß er im übrigen die für eine notwendige Beaufsichtigung erforderliche Zeit nicht bei der Ermittlung des Betreuungs- und Hilfsaufwandes einbeziehen wollte.
Die EinstV sieht wohl keinen abgeschlossenen Katalog aller möglichen Betreuungshandlungen vor, die bei Prüfung des Anspruches auf Pflegegeld zu berücksichtigen sind. Die dort genannten Fälle legen aber den grundsätzlichen Charakter der Verrichtungen fest, die der Betreuung zuzuzählen sind. Es sind die Verrichtungen, die der Normsetzer dahin qualifiziert, daß der Pflegebedürftige bei ihrem Unterbleiben der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Der Aufwand für die notwendige Betreuung bei diesen Tätigkeiten soll durch das Pflegegeld abgegolten werden. Für die wenn auch notwendige Betreuung in Bereichen, die dieser Art von Verrichtungen nicht zugezählt werden können, gebührt kein Pflegegeld und sie ist bei der Ermittlung des Betreuungsaufwandes außer Betracht zu lassen. Daß der Gesetzgeber nicht den gesamten im Einzelfall anfallenden Betreuungsaufwand abgelten wollte, zeigt die Tatsache, daß etwa für den Bereich der Hilfe Fixwerte vorgesehen wurden (§ 4 Abs 3 Z 3 BPGG bzw § 2 Abs 3 EinstV). Auch wenn der Aufwand im Einzelfall diese Fixwerte wesentlich übersteigt, sind die verbindlichen Pauschalwerte zugrundezulegen, während ein allfälliger höherer Aufwand unabgegolten bleibt. Da der Aufwand für die bloße Beaufsichtigung (nicht bei den in den §§ 1 und 2 EinstV genannten Verrichtungen) sich seiner Art nach von den in der EinstV genannten Betreuungs- und Hilfshandlungen grundsätzlich unterscheidet, es sich dabei um eine andere Dimension eines Pflegeaufwandes handelt, ist die hiefür notwendige Zeit bei der Prüfung des Anspruches auf Pflegegeld nicht in Anschlag zu bringen (10 ObS 447/97a zu dem insoweit vergleichbaren Wiener Pflegegeldgesetz; 10 ObS 449/97w zu dem ebenfalls vergleichbaren Tiroler Pflegegeldgesetz). Zusammenfassend ist daher die Zeit der reinen Beaufsichtigung eines Pflegbedürftigen bei der Ermittlung des Betreuungsaufwandes nicht in Anschlag zu bringen, weil das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes nur entscheidend wird, wenn der Pflegebedarf schon ohne diese Beaufsichtigung durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt und davon abgesehen die Anleitung und die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen, nicht aber darüber hinaus gesondert zu veranschlagen ist (ebenso 10 ObS 374/97s zum Wiener Pflegegeldgesetz).
Im vorliegenden Fall ergibt sich daraus, daß der Pflegebedarf des Klägers nach § 4 Abs 1 BPGG durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich jedoch nicht durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt und daher Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 besteht. Ein darüber hinausgehender Pflegebedarf durch das Erfordernis der dauernden Bereitschaft einer Pflegeperson oder der dauernden Beaufsichtigung ist aus den oben dargelegten rechtlichen Gründen nicht zu berücksichtigen.
In Stattgebung der Revision war daher dem Kläger - so wie im angefochtenen, durch die Klage jedoch außer Kraft getretenen Bescheid - ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zuzusprechen. Die Urteile der Vorinstanzen waren daher entsprechend abzuändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da der Kläger letztlich im Prozeß nicht mehr erreichte, als ihm ohnehin mit Bescheid der beklagten Partei zuerkannt wurde, kann nicht von einem Prozeßerfolg ausgegangen werden. Gründe für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit liegen nicht vor.
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