OGH 10ObS234/93

OGH10ObS234/9321.12.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr. Steinbauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Margarethe Peters und Dipl.Ing.Raimund Tschulik in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alois I*****, ***** vertreten durch Dr. Alexander Hacker, Rechtsanwalt in Salzburg, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.August 1993, GZ 13 Rs 40/93-30, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Oktober 1992, GZ 17 Cgs 52/91-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 16.4.1991 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung von Leistungen aus Anlaß der Arbeitsunfälle vom 3.12.1974, 11.9.1978, 9.7.1979 und 12.4.1990 mit der Begründung ab, daß weder der zeitlich letzte Unfall eine Erwerbsminderung von 10 vH noch alle Unfallsfolgen zusammen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH bewirkt hätten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren, als Folge der genannten Arbeitsunfälle ab 7.Mai 1990 eine 20 %ige Gesamtrente als Dauerrente zu gewähren.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es stellte fest, daß unfallchirurgisch faßbare Folgen lediglich aus den Arbeitsunfällen vom 9.7.1979 und 12.4.1990, solche aus nervenfachärztlichem Gebiet lediglich aus dem letzten Unfall vom 12.4.1990 feststellbar seien. Vom Standpunkt des Hals-, Nasen- und Ohrenfacharztes bestehe beim Kläger eine offenbar schon in der frühen Kindheit beginnende, im Verlauf der Zeit zunehmende hochgradige Innenohrschwerhörigkeit mit entsprechender, mittelgradig ausgeprägter Dyslalie. Seit etwa 15 Jahren bestehe links eine Hörgeräteversorgung, rechts seit etwa einem Jahr. Durch die angeführten Arbeitsunfälle insbesondere jenem vom 12.4.1990 sei es zu keiner wesentlichen Hörverschlechterung gekommen. Nach den Unfällen vom 3.12.1974 und 11.9.1978 sei eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht feststellbar. Sie betrage nach dem Unfall vom 9.7.1979 ab 7.5.1990 für sich allein 10 vH. Die Folgen des Unfalles vom 12.4.1990 seien unfallchirurgisch unter 10 vH, nervenfachärztlich bei 10 vH einzuschätzen. Die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit aus allen diesen Unfällen betrage ab 7.5.1990 15 vH. Die Unfälle vom 11.9.1978, 9.7.1979 und 12.4.1990 seien nicht wesentliche Ursache des derzeitigen Zustandes an Schwerhörigkeit, Ohrensausen und Schwindel.

Rechtlich folgerte das Erstgericht, daß die Summe aller Unfallsfolgen lediglich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 vH bewirke, sodaß die Voraussetzungen des § 210 Abs 1 ASVG nicht erfüllt seien. Das Hauptbegehren auf Gewährung einer Gesamtrente wie auch das Hilfsbegehren auf Gewährung einer gestützten Rente seien daher abzuweisen.

Das Berufungsgericht verwarf zunächst die wegen Nichtigkeit erhobene Berufung des Klägers und gab der Berufung im übrigen nicht Folge.

Das in der Streitverhandlung vom 19.10.1992 erstattete Vorbringen, daß ein Teil der die Schwerhörigkeit des Klägers mitberücksichtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 vH auf berufliche Lärmexposition zurückzuführen sei, was als Antrag auf Gewährung einer Versehrtenrente zur Abgeltung der Folgen der Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit aufzufassen sei, sei deshalb nicht zu berücksichtigen, weil es sich dabei um eine unzulässige Klageänderung handle. Infolge des anzulegenden strengen Maßstabes schließe weder das Alter noch die bisherige Tätigkeit des Klägers im erlernten Tischlerberuf bei der gegebenen Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 vH eine anderweitige Verwendung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus. Ein Härtefall, der im Rahmen der rechtlichen Beurteilung ein Abgehen von der rein medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnte, sei daher nicht gegeben. Die Einschätzung des Grades der Behinderung nach dem Behinderteneinstellungsgesetz oder nach dem Kriegsopferversorgungsgesetz sei für die Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem ASVG nicht bindend.

Gegen die Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Klagestattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hielt die Erstattung einer Revisionsbeantwortung für entbehrlich.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.

Der Revisionswerber vermißt Feststellungen über die von ihm im Zusammenhang mit seinem an die beklagte Partei gerichteten Antrag auf Gewährung einer Versehrtenrente zur Abgeltung der Folgen der Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit behauptete Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die Nichtzulassung des hiefür beantragten Sachverständigenbeweises und der damit beantragten Klageänderung durch Miteinbeziehung eines bisher vom Versicherungsträger nicht geprüften Versicherungsfalles der Berufskrankheit "durch Lärm verursachte Schwerhörigkeit" (Anlage 1 Nr 33) in die Gesamtrentenbildung begründet jedoch keinen Verfahrensmangel.

Selbst wenn § 210 Abs 1 ASVG festlegt, daß bei Schädigung durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit und Vorliegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH durch die neuerliche Schädigung die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit festzustellen ist, so setzt dieses Vorgehen bei mehreren Versicherungsfällen voraus, daß dieser neue Versicherungsfall der Berufskrankheit dem Versicherungsträger bekannt war, ihm gegenüber geltend gemacht und darüber von ihm mit Bescheid entschieden wurde.

Die hier vorliegende Klageänderung wäre nur zulässig, wenn damit nur eine quantitative Änderung auf Grund desselben Versicherungsfalles, der den Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens bildet, bewirkt würde. Die Einbeziehung eines neuen Versicherungsfalles der Berufskrankheit, der bislang nicht Gegenstand des vor dem Versicherungsträger durchgeführten Verfahrens bildete und über den mit Bescheid nicht erkannt wurde, ist unzulässig. Es liegt Unzulässigkeit des Rechtsweges vor (Kuderna ASGG, 370, 434). Der Grundsatz der sukzessiven Kompetenz, daß Voraussetzung für das gerichtliche Verfahren die vorherige Durchführung eines Verwaltungsverfahrens und das Vorliegen eines über den Leistungsanspruch des Versicherten absprechenden Bescheides eines Versicherungsträgers ist, wäre verletzt (Kuderna aaO, 357). Nur in den Fällen der zulässigen Klageänderungen (vgl. § 86 ASGG) hindert das Fehlen einer Sachentscheidung des Versicherungsträgers über den mit der Klageänderung geltend gemachten Sachverhalt bzw. das diesbezügliche Begehren dessen Berücksichtigung nicht (SSV-NF 3/134).

Bei der unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens als nicht mit den Beweisergebnissen übereinstimmend und unzulässig bekämpften "Feststellung" der zweiten Instanz, daß weder das Alter des Klägers noch dessen bisherige Tätigkeit im erlernten Tischlerberuf eine anderweitige Tätigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließe, handelt es sich um keine Tatsachenfeststellung, sondern um Rechtsausführungen.

Es ist festgestellt, daß keiner der Unfälle wesentliche Ursache des derzeitigen Zustandes an Schwerhörigkeit, Ohrensausen und Schwindel des Klägers sind. Dem liegt zugrunde, daß bei ihm eine offenbar schon im Kindesalter begonnene und im Lauf der Zeit zugenommene Innenohrschwerhörigkeit besteht. Die Arbeitsunfälle haben zu keiner wesentlichen Hörverschlechterung geführt.

Wenn eine krankhafte Veranlagung und ein Unfallereignis bei Entstehung einer Körperschädigung zusammenwirken, so sind beide Umstände Bedingungen für das Unfallgeschehen. Nach den Grundsätzen über den ursächlichen Zusammenhang ist für die Frage, ob die Auswirkungen des Unfalles eine rechtlich wesentliche Teilursache des nach dem Unfall eingetretenen Leidenszustandes sind, entscheidend, ob dieser Zustand auch ohne den Unfall etwa zur gleichen Zeit eingetreten wäre oder durch ein anderes alltäglich vorkommendes Ereignis hätte ausgelöst werden können, ob also die äußere Einwirkung (Unfall) wesentliche Teilursache oder nur Gelegenheitsursache war (SSV-NF 2/7, 4/83, 5/22, 5/131, 6/60).

Aus den Feststellungen ergibt sich, daß die Arbeitsunfälle des Klägers nicht wesentliche Teilursache der derzeit bestehenden Beeinträchtigung durch Schwindel waren. Daraus folgt aber, daß diese wie auch alle nicht auf die Arbeitsunfälle zurückgehenden Krankheitserscheinungen bei der Ermittlung der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit auszuklammern sind.

Demgemäß ist aber nur von der festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 vH auszugehen. Die unterschiedliche Einschätzung nach dem Behinderteneinstellungsgesetz, dem Kriegsopferversorgungsgesetz und dem ASVG ist systembedingt. Unterschiedliche Systeme - nach dem Kriegsopferversorgungsgesetz handelt es sich um staatliche Versorgungsansprüche, die aus öffentlichen Mitteln gewährt werden, die Unfallversicherung nach dem ASVG gewährt hingegen für die Folgen von Arbeitsunfällen und gleichgestellten Unfällen Leistungen, die ausschließlich aus Beiträgen ohne staatliche Zuschüsse finanziert werden -, können nicht gleichgestellt werden und rechtfertigen daher auch eine unterschiedliche Regelung in den Anspruchsvoraussetzungen (SSV-NF 6/33 mwN). Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 vH nach dem Behinderteneinstellungsgesetz oder die vom Sachverständigen vorgenommene, nicht nur Folgen der Arbeitsunfälle umfassende Einschätzung von 60 vH sind daher kein Indiz dafür, daß auch eine Einschätzung bloß der Unfallfolgen auf die Erwerbstätigkeit nach dem ASVG in eben derselben Höhe erfolgen müßte.

Daß der Schwindel auch Ursache für das insgesamt bestehende Krankheitsbild des Klägers ist, ist allein nicht entscheidend, weil nur die Folge einer im Zusammenhang mit der versicherten Erwerbstätigkeit eingetretenen Gesundheitsschädigung bei Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen ist.

Der Oberste Gerichtshof hat schon wiederholt ausgesprochen, daß Grundlage zur Annahme der Minderung der Erwerbsfähigkeit regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallsfolgen und deren Auswirkungen sei. Diese medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit, die auch auf die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Bedacht nimmt, ist im allgemeinen auch die Grundlage für die rechtliche Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Nur unter besonderen Umständen ist ein Abweichen von der medizinischen Einschätzung geboten (SSV-NF 1/64, 3/128, 6/15). Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist nach dem Umfang aller verbleibenden Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu beurteilen und in Beziehung zu allen Erwerbsmöglichkeiten zu setzen (SSV-NF 6/96 mwN).

Ein Härtefall liegt nur vor, wenn den Versicherten infolge der Aufgabe oder erheblichen Einschränkung seiner bisherigen Tätigkeit beträchtliche Nachteile in finanziell-wirtschaftlicher Hinsicht treffen und eine Umstellung auf andere Tätigkeiten unmöglich ist oder ganz erheblich schwer fällt, wobei ein strenger Maßstab anzulegen ist (SSV-NF 6/44, 7/52).

Eine medizinische Minderung der Erwerbsfähigkeit unterhalb des den Anspruch auf Versehrtenrente begründenden Grenzbereiches von 20 vH - im vorliegenden Fall von 15 vH - läßt ein solches "besonderes berufliches Betroffensein" des Klägers, das zur Vermeidung einer unbilligen Härte die Annahme eines höheren Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit rechtfertigen könnte, nicht erkennen. Das Alter des Klägers (geboren 1946) und seine nicht so spezialisierte Berufsausbildung als Tischler schließen bei der geringfügigen Minderung der Erwerbsfähigkeit weder die bisherige noch eine anderweitige Verwendung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus noch schränken sie diese in weit größerem Umfang als in durchschnittlichen Fällen mit vergleichbaren Einschränkungen ein.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte