OGH 10ObS22/94

OGH10ObS22/9415.2.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Prof.Dr. Gottfried Winkler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Hofrat Robert List (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialsrechtssache der klagenden Partei Christine T*****, Kellnerin, ***** vertreten durch Dr.Arnulf Summer und Dr. Nikolaus Schertler, Rechtsanwälte in Bregenz, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16.November 1993, GZ 5 Rs 102/93-9, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 17.Juni 1993, GZ 35 Cgs 27/93z-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß:

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Text

Begründung

Die Klägerin befand sich am 21.2.1992 in einem aufrechten Arbeitsverhältnis als Arbeitnehmerin (Kellnerin) bei einem Gastwirt in R*****. Sie beabsichtigte an diesem Tag, wie im Rahmen des Arbeitsverhältnisses vorgesehen, ihre Arbeit um 11.30 Uhr beim Arbeitgeber zu beginnen. Zuvor holte sie ihren am 27.12.1986 geborenen Sohn F***** mit dem Fahrrad von einem Kindergarten ab, der sich in einer Entfernung von etwa 400 m von ihrer Wohnung in G***** befindet. Auf der Rückfahrt vom Kindergarten zur Wohnung wurde sie auf der Fahrbahn von einem Autobus erfaßt, wodurch sie schwere Verletzungen erlitt. Wäre es nicht zu diesem Unfall gekommen, hätte sie ihren Sohn nach der Rückkehr vom Kindergarten in der Wohnung bei ihrer Mutter zur Beaufsichtigung gelassen. Sie hätte ihn nicht selbst in die Wohnung begleitet, weil er bereits vor deren Eingang von ihrer Mutter (Großmutter des Kindes) abgeholt worden wäre. Die Klägerin wäre sogleich mit ihrem Fahrzeug, das sie vor der Wohnung abgestellt hatte, direkt und über die kürzestmögliche Wegverbindung zu ihrem Arbeitsplatz gefahren.

Mit Bescheid der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 16.3.1993 wurde der von der Klägerin geltendgemachte Unfall vom 21.2.1992 nicht als Arbeitsunfall iSd § 175 Abs 2 Z 10 ASVG anerkannt, weil er sich nicht auf den direkten Weg von oder zur Arbeitsstätte zum Kindergarten ereignet habe.

Gegen diesen Bescheid richtet sich das rechtzeitig gestellte Klagebegehren, es werde festgestellt, daß es sich beim Unfallereignis um einen Arbeitsunfall iSd § 175 ASVG handle. Sinn der Bestimmung des § 175 Abs 2 Z 10 ASVG sei nämlich, Versicherten, die ihre Kinder auf dem Weg zwischen dem Arbeitsplatz und der Wohnung zu einem Kindergarten bzw zu einer Schule bringen und dadurch vom kurzen Weg zwischen Arbeitsplatz und Wohnung abweichen, dennoch Unfallversicherungsschutz zukommen zu lassen. Dahinter stehe die Absicht des Gesetzgebers, berufstätige und doppelbelastete Erzieher in ihren erzieherischen Aufgaben, soweit sie im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit stünden, zu schützen. Wenngleich sich der Unfall nicht auf dem direkten Weg von der Wohnung zum Arbeitsplatz mit einem Abstecher zum Kindergarten ereignet habe, sei der Sachverhalt nicht anders zu beurteilen, zudem müßte der besonderen Fallkonstellation hinsichtlich der Arbeitszeit im Gastgewerbe Rechnung getragen werden.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es trat dem Rechtsstandpunkt der Beklagten bei, daß sich der Unfall nicht anläßlich des Weges zur oder von der Arbeit ereignet habe. Die Klägerin habe ihr Kind vom Kindergarten nach Hause gebracht und wäre sodann erst zur Arbeitsstätte gefahren. Auch bei teleologischer Auslegung könne nicht von einem Arbeitsunfall im Sinne der zitierten Gesetzesstelle gesprochen werden. Es sei auch nicht Sache der Rechtsprechung, eine unbefriedigende Regelung des Gesetzes zu korrigieren; Appelle rechtspolitischer Natur seien an den Gesetzgeber, nicht an die Judikatur zu richten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Sicherlich sei die Intention des Gesetzgebers darauf gerichtet gewesen, den ansonsten nicht gegebenen Unfallversicherungsschutz in die Richtung auszudehnen, daß eine ansonsten der Privatsphäre grundsätzlich zuzurechnende Verrichtung und der Unfallversicherungsschutz gestellt werde. Dem Gesetz sei nicht zu entnehmen, daß jeder Weg, solange er nur mit der Abholung von Kindern im Zusammenhang stehe, sich auf die Abholung von Schule oder Kindergarten beziehe und auch noch der Weg zum Arbeitsplatz bzw zur Wohnung involviert sei, unter Versicherungsschutz stehen solle.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Feststellungsbegehrens, hilfsweise Aufhebung und Zurückverweisung.

Die Beklagte beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Arbeitsunfälle sind nach § 175 Abs 2 Z 10 ASVG auch Unfälle auf einem Weg eines (einer) Versicherten zur oder von der Arbeit- oder Ausbildungsstätte (Z 1) zu einem Kindergarten (Kindertagesstätte, fremde Obhut) oder zu einer Schule, um das Kind (§ 252 Abs 1) oder den Schüler (die Schülerin) eines (einer) Versicherten dorthin zu bringen oder von dort abzuholen, wenn dem (der) Versicherten die gesetzliche Aufsicht obliegt. Die Ausdehnung des Kataloges geschützter Arbeitsunfälle um diesen Tatumstand erfolgte durch Art III Z 2 der 50. ASVGNov, BGBl 1991/676. Durch diese Erweiterung des § 175 Abs 2 ASVG sollte eine Forderung des österreichischen Arbeiterkammertages verwirklicht werden, den Weg von erwerbstätigen Aufsichtspersonen, die Kinder zum Kindergarten (Kindertagesstätte, fremde Obhut) bzw zur Schule bringen oder von dort abholen, unter Unfallversicherungsschutz zu stellen (284 BlgNR 18. GP, 32). Diese Bestimmung ist mit 1.1.1992 in Kraft getreten (§ 547 Abs 1 Z 1 ASVG idF Art V Z 38 der 50.Nov) und ist daher auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Wie das Berufungsgericht zutreffend darlegt, sind den Gesetzesmaterialen keine weitergehenden Überlegungen zu entnehmen. Richtig ist auch, daß vor Einführung des neuen Tatbestandes in den Katalog des § 175 Abs 2 ASVG derartige Umwege auf dem Weg zur Arbeitsstätte nicht geschützt waren (vgl zuletzt SSV-NF 6/22).

Da der Gesetzgeber der 50. ASVGNov nicht Wege zu einem Kindergarten oder zu einer Schule schlechthin schützt, sondern nur dann, wenn sie mit einem Weg zur oder von der Arbeitsstätte zusammenhängen, ergibt sich der Zweck der genannten Regelung. In der Bundesrepublik Deutschland wurde zu der vergleichbaren Bestimmung des § 550 Abs 2 Z 1 RVO darauf verwiesen, daß die Wirtschaft immer mehr auch auf die Mitarbeit von Frauen angewiesen sei, die nur berufstätig sein könnten, wenn ihre Kinder während der Arbeitszeit versorgt seien. Man könne deshalb davon ausgehen, daß stets ein betriebliches Interesse an der Unterbringung der Kinder bestehe, auch wenn der Unternehmer dabei nicht in irgendeiner Weise behilflich sei. Ob das Kind in einem Kindergarten, von Verwandten oder Bekannten versorgt werde, mache keinen Unterschied. Ein Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit werde unterstellt, wenn der Vater oder die Mutter das Kind in Verbindung mit dem Weg zur Arbeitsstätte fortbringe oder es auf dem Rückweg abhole (Brackmann, SV Handbuch II, 72. Nachtrag 486 w; Gitter in SV-Gesamtkommentar Band 6 34/12 Anm 8 zu § 550 RVO). Nach dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Recht (§ 550 Abs 2 Z 1 RVO) ist die Versicherung nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abweicht, weil sein Kind, das mit ihm in einem Haushalt lebt, wegen seiner oder seines Ehegatten beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anvertraut wird. Entscheidend ist also, daß das Kind fremder Obhut anvertraut wird und dies wegen der beruflichen Tätigkeit des Versicherten geschieht (Lauterbach, Unfallversicherung3, 278/4 Anm 17a zu § 550 RVO). Auch der in Österreich geltenden Regelung liegt der Gedanke zugrunde, daß ein Versicherter seiner Arbeit oft nur dann nachgehen kann, wenn er ein seiner gesetzlichen Aufsicht unterliegendes Kind während der Arbeitszeit in fremde Obhut gibt. Dadurch ist der ursächliche Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung gegeben (§ 175 Abs 1 ASVG). Beide zitierten gesetzlichen Regelungen gehen aber davon aus, daß es sich um einen Sonderfall des Wegunfalles handelt, weil der Weg zur Kinderbetreuung oder Schule anläßlich des Weges zur oder von der Arbeit erfolgen muß, das heißt daß die Begleitperson dann weiter zu ihrer Arbeitstätte (Ausbildungsstätte) geht oder fährt oder von dort kommt (vgl Lauterbach aaO; Püringer, 50. ASVGNov, SoSi 1992, 419). Als fremde Obhut ist beispielsweise auch die Beaufsichtigung durch Großeltern oder andere Verwandte und Bekannte zu verstehen (Püringer aaO; Baumann-Fischer-Salzmann, Die gesetzliche Unfallversicherung 229 in Anm 39 zu § 550 RVO).

Geht man von diesen Grundsätzen aus, dann weicht der vorliegende Sachverhalt an sich von den Regelfällen, in denen das Kind auf dem Weg zur Arbeitsstätte in fremde Obhut gebracht und auf dem Heimweg wieder abgeholt wird, erheblich ab. Dennoch rechtfertigen es sowohl der Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung wie ihre Regelungsabsicht, den vorliegenden Unfall dem Unfallversicherungsschutz des § 175 Abs 2 Z 10 ASVG zu unterstellen. Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt darin, daß sich das Kind bereits in einer fremden Obhut, nämlich in einem Kindergarten befand, als die Klägerin ihren Weg zur Arbeitsstätte antreten mußte. Da sie aber zweifellos als Kellnerin in einem Gastgewerbebetrieb das erst fünf Jahre alte Kind während der Arbeitszeit nicht ausreichend beaufsichtigen konnte, mußte sie es abermals einer fremden Obhut übergeben, diesmal in Person der Großmutter des Kindes, die das Kind offensichtlich bis zur Rückkehr der Klägerin von ihrem Arbeitsplatz beaufsichtigt hätte. Die Klägerin hatte nach den Feststellungen ihr Wohnhaus endgültig verlassen und sich auf den Arbeitsweg begeben, fuhr jedoch vorerst zu dem Kindergarten, um das Kind von dort abzuholen, und sodann zu ihrem Wohnhaus, um das Kind wiederum in fremde Obhut, diesmal die der Großmutter, zu bringen. Von dort wollte sie dann, wäre es nicht zum Unfall gekommen, zu ihrer Arbeitsstätte weiterfahren. Damit legte sie in ihren Weg zur Arbeitsstätte zwei Umwege bzw Abwege ein, zunächst den zum Kindergarten und dann den zur Großmutter, die anschließend daran die Obhut über das Kind ausüben sollte. Daß die Klägerin dabei vom Fahrrad auf das vor ihrem Haus stehende Kraftfahrzeug umsteigen wollte, fällt nicht ins Gewicht, weil das Umsteigen von einem auf ein anderes Verkehrsmittel den Charakter eines Weges als Weg zur Arbeitsstätte unberührt läßt. Diese Lösung wird auch dem Gesetzeszweck gerecht, wonach die Klägerin geschützt sein sollte, als sie ihr Kind aus der Obhut des Kindergartens in die Obhut der Großmutter, also nur von einem Ort zu einem anderen Ort brachte, um in unmittelbaren Anschluß daran ihrer Berufstätigkeit nachgehen zu können. Die nach dem Gesetzteszweck nicht gebotene einschränkende Auslegung der Vorinstanzen ist nicht sachgerecht.

Dennoch ist die Rechtssache nicht im Sinne einer Klagsstattgebung spruchreif. Das Klagebegehren, es werde festgestellt, daß es sich bei dem Unfall um einen Arbeitsunfall iSd § 175 ASVG handle, entspricht nämlich nicht dem § 65 Abs 2 ASVG: Darnach gilt als Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder Rechtes auch diejenige, daß eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit ist; das rechtliche Interesse ist in diesem Sinn jedenfalls zu bejahen, obwohl im Zeitpunkt der Feststellung nicht gesagt werden kann, ob aus der Gesundheitsstörung jemals ein Recht bzw Rechtsverhältnis des Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger wird abgeleitet werden können (RV, zitiert bei Feitzinger-Tades, ASGG 91, Anm 13 und Kuderna, ASGG 365 Anm 14 jweils zu § 65). Die Urteile der Vorinstanzen enthalten jedoch keine Tatsachenfeststellung über eine Gesundheitsstörung der Klägerin zumindest bei Schluß der Verhandlung erster Instanz. Die Stattgebung eines Feststellungsbegehrens in diesem Sinn setzt aber voraus, daß eine bestimmte Gesundheitsstörung besteht (vgl auch § 82 Abs 5 ASGG, wonach ein auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gestütztes Leistungsbegehren das Eventualbegehren auf Feststellung einschließt, daß die geltendgemachte Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit ist).

Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Kosten des Revisionsverfahren wurden nicht verzeichnet, weshalb eine Kostenentscheidung zu entfallen hatte.

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