OGH 10ObS206/98m

OGH10ObS206/98m15.9.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Degen (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Irmgard R*****, vertreten durch Dr. Edeltraud Bernhart-Wagner, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. März 1998, GZ 10 Rs 32/98v-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Krems/Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. Oktober 1997, GZ 8 Cgs 350/96b-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 15.11.1996 lehnte die Beklagte den Antrag der am 10.1.1945 geborenen Klägerin vom 17.6.1996 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab. Die Arbeitsfähigkeit der Klägerin sei nicht so weit herabgesunken, daß sie nicht noch ihren bisherigen Beruf als Diplomkrankenschwester oder eine Tätigkeit in der gleichen Berufsgruppe weiter ausüben könnte.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab, wobei es von folgenden wesentlichen Feststellungen ausging:

Die Klägerin ist seit 1.5.1966 als Diplomkrankenschwester in einem allgemeinen öffentlichen Krankenhaus beschäftigt. Sie leidet unter anderem an einer extensiven Knorpelerkrankung in beiden Kniegelenken, einer Versteifung des Endgliedes des rechten kleinen Fingers, an Stimmungsschwankungen, erhöhter Reizbarkeit, diskreten Gedächtnisstörungen sowie Schlafstörungen. Sie ist daher nur mehr für leichte körperliche Arbeiten unter den üblichen Bedingungen geeignet, wobei eine sitzende oder hockende Körperhaltung über die Hälfte der Arbeitszeit hinaus zu vermeiden ist. Pro Arbeitsstunde muß die Klägerin einen fünfminütigen Haltungswechsel vornehmen, wodurch der Arbeitsprozeß jedoch nicht notwendigerweise unterbrochen werden muß. Arbeiten in Nässe oder Kälte sowie ein Bücken (über 8 bis 10mal pro Stunde) sollen unterbleiben. Aufgrund der Versteifung des Endgliedes des rechten kleinen Fingers können von der Klägerin mit der rechten Hand keine ersprießlichen Leistungen mehr bei der Manipulation von Kleinstteilen erbracht werden.

Im Stationsdienst von Krankenhäusern und in Pflegeabteilungen diverser Heime kommen für Diplomkrankenschwestern mittelschwere, fallweise auch schwere körperliche Belastungen vor. Diplomkrankenschwestern werden jedoch auch im Ambulanzdienst, einer Teiltätigkeit aus dem Berufsbild der Diplomkrankenschwester, unter anderem speziell für Blutabnahmen eingesetzt. Die beratende, informierende sowie fachbezogene Patientenbetreuung im Vorfeld der stationären Krankenpflege steht beim Ambulanzdienst im Vordergrund. Mittelschwere körperliche Arbeiten können beim Ambulanzdienst - ausgenommen chirurgische- und Unfallambulanzen - üblicherweise vermieden werden. Beim Ambulanzdienst ist eine wechselnde Körperhaltung möglich; über halbzeitig hinausgehendes Sitzen kann vermieden werden. Arbeiten im Hocken, in Nässe und Kälte kommen nicht vor. Arbeiten im Bücken kommen nur kurzzeitig vermengt und üblicherweise nicht im Ausmaß von 7 bis 8mal pro Stunde vor. Überkopfarbeiten sind die Ausnahme. Die Einschränkung der Klägerin für Feinstmanipulationen wirkt sich nicht entscheidend arbeitsbehindernd aus.

Für die im Zunehmen befindlichen Diät- und Spezialambulanzen im Bereich der Psychiatrie ist besonders charakteristisch, daß die Fachberatung im Gegensatz zu operativen oder klinischen Tätigkeit im Vordergrund steht. Diese Tätigkeiten kann die Klägerin, ohne das Kalkül zu überschreiten, ausüben. Eine gewisse Einarbeitung kann im Einzelfall erforderlich sein; die Klägerin kann jedoch auf ihre Kenntnisse als Diplomkrankenschwester zurückgreifen.

In rechtlicher Hinsicht verneinte das Erstgericht eine Berufsunfähigkeit der Klägerin im Sinne des § 273 Abs 1 ASVG. Sie sei gesundheitlich noch in der Lage, innerhalb ihrer Berufsgruppe in einer Spezialambulanz tätig zu sein.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge und trat der Beurteilung des Erstgerichtes bei. Erste Hilfe-Leistungen - ausgenommen bei Notfall- oder chirurgischen Ambulanzen - gehörten nicht zum üblichen Arbeitsablauf einer Ambulanzschwester. Die Beschränkung der Klägerin auf Hebe- und Trageleistungen von 10 kg stehe daher einer Ambulanztätigkeit der Klägerin nicht entgegen. Nach dem vorliegenden neurologisch-psychiatrischen Gutachten sei die Klägerin nicht auf einfache geistige Tätigkeiten beschränkt. Die bestehenden Stimmungsschwankungen, erhöhte Reizbarkeit, diskreten Gedächtnisstörungen und Schlafstörungen stünden daher gleichfalls einer Ambulanztätigkeit der Klägerin nicht entgegen.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Die Revision ist im Sinne des gestellten Eventualantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Frage, auf welche Berufstätigkeiten ein Versicherter verwiesen werden darf, ist eine Rechtsfrage. Für ihre Lösung ist zunächst ein medizinisches Leistungskalkül zu erheben, sodann ist unter Bedachtnahme auf die Ergebnisse dieses Leistungskalküls das Verweisungsfeld zu prüfen und es sind die damit verbundenen Anforderungen in möglichst detaillierter Form festzustellen. Durch Vergleich des medizinischen Leistungskalküls mit den Feststellungen über die körperlichen und geistigen Anforderungen, die die Verweisungstätigkeiten stellen, ist sodann die Frage zu lösen, ob der Versicherte zur Verrichtung der in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten in der Lage ist (SSV-NF 1/11, 1/20, 3/40 ua). Da die Klägerin das 55.Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist ihre Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs 1 ASVG zu beurteilen. Sie würde daher als berufsunfähig gelten, wenn ihre Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken wäre.

Richtig verwies das Berufungsgericht darauf, daß es sich bei der Pensionsversicherung der Angestellten um eine Berufsgruppenversicherung handelt, deren Leistungen bereits einsetzen, wenn der Versicherte infolge seines körperlichen und/oder geistigen Zustandes einen Beruf seiner Berufsgruppe nicht mehr ausüben kann. Dabei ist von jenem Angestelltenberuf auszugehen, den der Versicherte zuletzt ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimmt nach ständiger Rechtsprechung das Verweisungsfeld; das sind alle Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (SSV-NF 2/73, 2/92, 3/108, 3/156, 5/34, 7/61 ua). Nach den Verfahrensergebnissen handelt es sich bei der Tätigkeit einer Ambulanzschwester um eine Teiltätigkeit aus dem Berufsbild der Diplomkrankenschwester. Eine Diplomkrankenschwester kann auf die Tätigkeit einer Ambulanzschwester verwiesen werden, ohne den Berufsschutz einer Diplomkrankenschwester zu verlieren (vgl Berufslexikon des Arbeitsmarktservice Österreich Band 2 (1997), 227 ff; SSV-NF 5/94, 9/5; SSV 24/102, 25/127). Die körperlichen Anforderungen an eine Ambulanzschwester sind im Vergleich zur Tätigkeit einer Diplomkrankenschwester in einem Krankenhaus - in Abhängigkeit von der Art der Ambulanz - überwiegend geringer.

Ob die Klägerin noch in geistiger und körperlicher Hinsicht in der Lage ist, als Ambulanzschwester insbesondere in einer Diät- oder psychiatrischen Ambulanz zu arbeiten, wie dies die Vorinstanzen annahmen, kann nach den erstgerichtlichen Feststellungen noch nicht verläßlich beurteilt werden. Das Erstgericht stellte zwar fest, daß die Klägerin ohne Kalkülüberschreitung in einer Diät- oder psychiatrischen Ambulanz arbeiten könnte; diese Feststellung ist jedoch aus den weiteren Entscheidungsgründen nicht nachvollziehbar, wonach einerseits die Klägerin an Stimmungsschwankungen, erhöhter Reizbarkeit, sowie diskreten Gedächtnisstörungen leidet und andererseits gerade bei den genannten Ambulanztätigkeiten besonders die Fachberatung (der Patienten und deren Angehörigen) im Vordergrund steht. Daß die genannten psychischen Besonderheiten, je nach ihrer Intensität auf den Kontakt mit Patienten und deren Angehörigen von negativem Einfluß sein können, wie dies die Revisionswerberin aufzeigt, liegt auf der Hand. Aus den erstgerichtlichen Entscheidungsgründen kann aber weder die Schwere dieser geistigen Einschränkungen noch ihr relevanter Einfluß auf die Tätigkeit einer Ambulanzschwester beurteilt werden. Diese Frage wäre daher zu erörtern gewesen. Der berufskundliche Sachverständige berücksichtigte diese geistigen Einschränkungen - offenbar mangels Erörterung - überhaupt nicht (ON 13 und 15). Bedeutung könnte dabei auch dem Umstand zukommen, daß sich im Akt Hinweise darauf finden, daß den geistigen Einschränkungen der Klägerin durch eine Alkoholkarenz begegnet werden könnte, sodaß sie wahrscheinlich zur Gänze remittieren (ON 10, AS 47). Auch dies wird ergänzend zu prüfen sein.

Zu Recht vermißt die Revisionswerberin auch ausreichende Feststellungen des Erstgerichtes zur mangelnden Fingerfertigkeit der Klägerin und ihren Einfluß auf von einer Ambulanzschwester vorzunehmende Blutabnahmen. Während der berufskundliche Sachverständige die Klägerin von der "hauptberuflichen" Verwendung für Blutabnahmen von vornherein ausschließt (ON 13, AS 59), stellte das Erstgericht einerseits fest, daß die Klägerin mit der rechten Hand keine ersprießlichen Leistungen bei der Manipulation von Kleinstteilen erbringen kann, andererseits, daß die Klägerin ohne Kalkülüberschreitung in Diät- und psychiatrischen Ambulanzen arbeiten kann, ohne daß aber in diesem Zusammenhang Feststellungen über die Häufigkeit von Blutabnahmen und deren Vornahme durch die Klägerin getroffen wurden. Unerklärt bleibt, aus welchen Gründen zwar Blutabnahmen hauptberuflich nicht mehr möglich sind, als Nebentätigkeit aber offenbar schon.

Der vom Erstgericht bestellte chirurgische Sachverständige führte bei der mündlichen Gutachtenserörterung unter anderem aus, daß die Klägerin "muskulären Beanspruchungen bis 10 kg" (gemeint offenbar in bezug auf Hebe- und Trageleistungen) genügen kann. Feststellungen darüber fehlen allerdings im Ersturteil ebenso wie zur Frage, ob mit der Tätigkeit einer Ambulanzschwester in den für die Klägerin kalkülmäßig in Frage kommenden Ambulanzen dieses Kalkül überschreitende Erste Hilfe-Leistungen verbunden sind, oder ob es sich dabei um ganz seltene Ausnahmesituationen handelt, für die allenfalls in anderer Weise vorgesorgt werden kann und die daher bei der Beurteilung, inwieweit der Versicherte aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls noch in einem Verweisungsberuf tätig sein kann, nicht zu berücksichtigen wären.

Da diese für die abschließende Beurteilung des Falles wesentlichen Fragen ungeklärt blieben, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung der Feststellungen im aufgezeigten Sinn durch das Erstgericht aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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