Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, daß es lautet:
"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin ab 26.11.1987 eine Witwenrente im gesetzlichen Ausmass sowie einen Bestattungskostenbeitrag zu bezahlen, besteht dem Grunde nach zu Recht.
Der beklagten Partei wird aufgetragen, der Klägerin bis zur Erlassung des die Höhe festsetzenden Bescheides ab 26.11.1987 eine vorläufige Zahlung von monatlich S 2.300 und zwar die bis zur Rechtskraft dieser Entscheidung fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen, die künftig fällig werdenden Beträge jeweils am 1. eines jeden Monates zu erbringen."
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 1.296 bestimmten Revisionskosten binnen 14 Tagen zu bezahlen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 2.März 1988 lehnte die beklagte Partei den Anspruch der Klägerin auf Bestattungskostenbeitrag und Witwenrente aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes Leopold K*** vom 26.November 1987 ab, weil kein unter Versicherungsschutz stehender Arbeitsunfall vorliege.
Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Es traf folgende Feststellungen:
Leopold K*** war seit 13.April 1987 als Bauhilfsarbeiter bei der Firma H*** in Linz beschäftigt. Am 26.November 1987 war er bei der Arbeitsgemeinschaft Bahnunterführung Tenneck dienstzugeteilt. Er wurde bei der Hochwasserverbauung bei der Salzach eingesetzt. Der Baustellenbereich bzw. der Arbeitsplatz des Leopold K*** war von der Bauhütte, die dem Verstauen der Werkzeuge und dem Waschen und Umziehen der Arbeiter diente, durch zwei Geleise getrennt. Die Pension, in der Leopold K*** gewohnt und sich meist auch selbst verpflegt hat, befindet sich auf der gleichen Seite des Schienenstranges wie sein Arbeitsplatz. Um in sein Quartier zu gelangen, mußte Leopold K*** daher von der Bauhütte kommend den Gleiskörper beim Bahnübergang nächst der Haltestelle des Bahnhofes Tenneck überqueren.
Am Unfalltag endeten die Arbeiten um 17.30 Uhr. Während der Großteil der Arbeiter, nachdem sie sich gewaschen und die Werkzeuge in der Bauhütte verstaut hatten, mit einem Kleinbus um 17.45 Uhr die Arbeitsstelle verließen, um von dort mit dem Bus nach Tenneck zum Essen zu fahren, begab sich Leopold K*** unmittelbar nach Beendigung seiner Abschlußarbeiten von der Bauhütte Richtung Quartier, d.h. zunächst Richtung Bahnübergang. Die Schranken waren bereits drei Minuten geschlossen bevor der erste Zug zur Unfallstelle kam. In diesem Bereich der Bahnstrecke findet eine Begegnung des von Salzburg nach Villach fahrenden Schnellzuges 211 mit dem aus der entgegengesetzten Richtung kommenden Lastzug aus Richtung Bischofshofen statt. Dabei benützte der Schnellzug 211 die der Bauhütte nächst gelegenen Geleise. Als Leopold K*** auf dem vom Schnellzug benützten Geleis stand und das Passieren des Lastzuges abwartete, wurde er vom Schnellzug um 17.49 Uhr erfaßt und tödlich verletzt. Auch zu diesem Zeitpunkt waren die Bahnschranken noch geschlossen. Das vom Lastzug benützte Geleis liegt dem Quartier des Leopold K*** näher als jenes des Schnellzuges 211.
Rechtlich folgerte das Erstgericht aus diesem Sachverhalt zunächst, daß ein Arbeitsunfall im Sinne des § 175 Abs. 2 Z 1 ASVG vorliege, weil der Verunglückte sich von der Bauhütte zu seinem Quartier auf dem direkten Heimweg befunden habe. Es könne dahin gestellt bleiben, ob Leopold K*** trotz geschlossener Bahnschranken die Überquerung der Geleise versucht oder, was unwahrscheinlicher sei, während mindestens drei Minuten im Übergangsbereich auf den Bahngeleisen verweilt habe; jedenfalls habe er damit die im allgemeinen mit dem Arbeitsweg verbundene Gefahr in einem solchen Maß erhöht, daß das damit verbundene Unfallrisiko nicht mehr vom Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung erfaßt sei. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin keine Folge. Setze sich der Versicherte einer Gefahr aus, die der Tätigkeit im betrieblichen Aufgabenbereich nicht entspreche und nicht mehr dem Gefahrenbereich des Betriebes oder des Betriebsweges zugeordnet werden könne, sei der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Versicherten und seiner die Versicherung begründenden Beschäftigung gelöst. Der Verunglückte habe das gewöhnlich mit dem Heimweg bestehende Risiko durch äußerst leichtsinniges Verhalten drastisch erhöht. Hiezu sei er durch die geschützte Tätigkeit nicht veranlaßt worden. Aus der bloßen Tatsache, daß der Versicherte in der Nähe der Bahngeleise gearbeitet habe und dadurch mit den Zugsgefahren konfrontiert gewesen sei, könne nicht geschlossen werden, daß sein gefahrenerhöhendes Verhalten eine berufliche Veranlassung gehabt habe. Auch auf die Gründe des risikoerhöhenden Verhaltens des Versicherten komme es, soweit nicht berufliche Gründe vorlägen, nicht an.
Rechtliche Beurteilung
Die wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision der Klägerin ist berechtigt.
Gemäß § 175 Abs. 6 ASVG schließt verbotswidriges Handeln die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht aus. Auch grobe Fahrlässigkeit des Verunglückten spricht nicht von vornherein gegen das Vorliegen eines Arbeitsunfalles. Der Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall kann zwar auch wegen einer sogenannten selbst geschaffenen Gefahr fehlen, wobei jedoch nur eine aus betriebsfremden Motiven selbst geschaffene Gefahr den Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall ausschließt. Wer sich ohne jeden inneren Zusammenhang mit seiner geschützten Tätigkeit einer leicht erkennbaren Gefahr aussetzt und von dieser Gefahr ereilt wird, kann nicht auf Leistungen der Versicherungsgemeinschaft rechnen. Nicht jeder Verstoß gegen gesetzliche oder polizeiliche Vorschriften fällt unter den Begriff der "selbst geschaffenen Gefahr". Ein Unfall bei einer selbst geschaffenen Gefahr liegt nur vor, wenn der Unfall auf einem völlig unvernünftigen und unsinnigen Verhalten des Versicherten beruht, sodaß demgegenüber die betriebsbedingten Verhältnisse zu unwesentlichen Nebenbedingungen und Begleitumständen des Unfalles herabsinken und die Beziehung zum Betrieb bei der Bewertung der Unfallursachen als unerheblich auszuscheiden ist. Entscheidend ist, ob trotz der - aus betriebsfemden Motiven - selbst geschaffenen Gefahr die versicherte Tätigkeit eine wesentliche Bedingung des Unfalles geblieben ist oder die selbst geschaffene Gefahr in so hohem Maße vernunftwidrig war, und zu einer solchen besonderen Gefährdung geführt hat, daß die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist. Es würde daher etwa ein Unfall, der sich beim Überqueren einer breiten, stark befahrenen Straße bei Rotlicht ereignete, nach dem Unfallversicherungsschutz unterstellt !SSV-NF/102 . Ein ähnlicher Fall liegt hier vor. Zweifellos ist dem Verunglückten, der versuchte, während geschlossener Bahnschranken die Geleise zu überqueren, verbotswidriges und leichtsinniges Handeln vorzuwerfen, doch ist sein Verhalten - da er offensichtlich nicht damit rechnete, es werde, während er das Passieren des Lastzuges abwartete, zur gleichen Zeit aus der Gegenrichtung ein Schnellzug kommen - nicht als so kraß unvernünftig und unsinnig zu qualifizieren, daß damit der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gelöst worden wäre (vgl. auch Brackmann, Handbuch II, 60. Nachtrag 484 k). Der Unfall war daher dennoch vom Versicherungsschutz umfaßt.
Die Entscheidung über die Revisionskosten beruht auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG; jene über die vorläufige Zahlung auf § 89 Abs. 2 ASGG.
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