OGH 10ObS162/04b

OGH10ObS162/04b9.11.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Oedendorfer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Herbert Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj Nina S*****, geboren am 3. August 2001, vertreten durch die Mutter Romana S*****, vertreten durch Dr. Friedrich Fromherz ua, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei Land Oberösterreich, vertreten durch das Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Klosterstraße 1, 4021 Linz, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. Juni 2004, GZ 12 Rs 35/04k-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 28. November 2003, GZ 36 Cgs 11/03m-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 3. 8. 2001 geborene Klägerin leidet an einer komplexen Hirnfehlbildung mit therapieresistenter Epilepsie (sie hat trotz laufender Medikation täglich mehrfach zerebrale Krampfanfälle). Mit dem Kind, dem keine willentlich gesteuerten bzw zielgerichteten Bewegungen möglich sind, kann kein "sinnvoller" Kontakt aufgenommen werden. Dies war schon seit der Geburt nicht möglich.

Mit Bescheid vom 18. 10. 2002 lehnte das Amt der oberösterreichischen Landesregierung, Sozialabteilung, den Antrag der Klägerin vom 31. 5. 2002 auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes als der Stufe 2 ab. Das Erstgericht sprach ihr für den Zeitraum vom 1. 6. 2002 bis 31. 3. 2003 rechtskräftig Pflegegeld der Stufe 7 und ab 1. 4. 2003 Pflegegeld der Stufe 3 zu. Das von der Klägerin angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Neben den eingangs wiedergegebenen Feststellungen legte es seiner Entscheidung folgenden, "für das Berufungsverfahren noch relevanten" Sachverhalt zugrunde:

Die Einnahme von Mahlzeiten ist [zwar] auch einem gesunden Kind bis zum Alter von zwei Jahren noch nicht eigenständig möglich. Bei der Klägerin ergibt sich dafür [aber] ein wesentlich erhöhter Zeitaufwand gegenüber einem normal entwickelten Kind, weil sie sehr schlecht schluckt. Mitte März 2003 wurde daher eine PEG-Sonde gesetzt, über die auch Medikamente appliziert werden. Seit diesem Zeitpunkt wird das Kind, je nach Zustand, zur Hälfte über die Sonde und zur anderen Hälfte oral ernährt.

Die Mutter versucht zunächst täglich etwa eine halbe Stunde lang, durch Reizen des Kindes festzustellen, ob es an diesem Tag genug schluckt, um es oral zu ernähren. Wenn in dieser Zeit der Schluckreiz nicht gut genug ist, wird die Klägerin über die PEG-Sonde ernährt.

Bei der Sondenernährung werden der Klägerin pro Tag drei kleinere Portionen von 200 ml pro Gabe verabreicht. Der Tropfvorgang dauert etwa 2 Stunden. Dazu muss dem Kind noch Flüssigkeit verabreicht werden. Da es bei der Verabreichung der Sondennahrung zum Erbrechen kommen kann und dann höchste Aspirationsgefahr besteht, muss die Mutter während der Dauer des Tropfvorganges im Raum anwesend sein, um im Ernstfall entsprechend reagieren zu können.

Kann das Kind oral ernährt werden, benötigt die Mutter dafür fünf Stunden täglich. Von dem vom Erstgericht ermittelten monatlichen Pflegebedarf der Klägerin im Ausmaß von 127,5 Stunden entfallen 60 Stunden auf den pflegebedingten Mehraufwand für die orale Nahrungsverabreichung (4 Stunden täglich an 15 Tagen im Monat).

Das Berufungsgericht billigte die erstgerichtliche Beurteilung, wonach nur der bei der oralen Ernährung entstehende Mehraufwand gegenüber einem gleichaltrigen gesunden Kind zu berücksichtigen sei, da die Sondenernährung gemäß § 151 ASVG eine Krankenbehandlung darstelle, für die kein pflegegeldrelevanter Zeitaufwand veranschlagt werden könne, was auch für die Reinigung der PEG-Sonde gelte, und dass die während der Verabreichung der Sondenernährung erforderliche Anwesenheit der Mutter (oder einer anderen Betreuungsperson) im gleichen Raum auch nicht gemäß § 4 Abs 1 OÖ PGG mit der Betreuung bei der Einnahme der Mahlzeiten selbst gleichzusetzen sei, weil die Pflegeperson in dieser Zeit daneben andere Tätigkeiten (zB Bügeln) verrichten könne; erst bei einem monatlichen Pflegebedarf über 180 Stunden wäre aber eine allenfalls erforderliche dauernde Bereitschaft oder Anwesenheit einer Betreuungsperson zu berücksichtigen.

Ergänzend führte das Berufungsgericht zur Rechtsrüge der Klägerin aus:

Die Sondenernährung sei nach der ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers im § 151 Abs 3 ASVG Teil der medizinischen Hauskrankenpflege. Es handle sich um eine Pflichtleistung aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Wenn die Klägerin diese Leistung, die vom Krankenversicherungsträger als Sachleistung durch qualifiziertes Pflegepersonal zur Verfügung zu stellen sei, nicht in Anspruch nehme, sondern die Mutter des behinderten Kindes freiwillig diese qualifizierte Pflegeleistung selbst übernehme, könne der hiefür erforderliche Zeitaufwand ebenso wenig für das Pflegegeld in Ansatz gebracht werden wie in all jenen von der Rechtsprechung schon behandelten Fällen, in denen von den Angehörigen (unentgeltlich) andere Leistungen der Krankenversicherung erbracht werden. Dies betreffe insbesondere jede Art von therapeutischen Verfahren (vgl RIS-Justiz RS0106399), aber nicht nur Maßnahmen der Krankenbehandlung gemäß § 133 ASVG, sondern auch solche der medizinischen Hauskrankenpflege (§ 151 ASVG).

Die Pflege iSd BPGG (oder der einzelnen Landespflegegeldgesetze) sei von allen nach dem zweiten Teil des ASVG zu erbringenden Leistungen der Krankenversicherung abzugrenzen. Es könne daher dahingestellt bleiben, ob es sich bei der Sondenernährung (nur) um eine Maßnahme der medizinischen Hauskrankenpflege (qualifizierte Pflegeleistung) handle oder auch um eine (lebenserhaltende) Maßnahme der Krankenbehandlung oder Anstaltspflege (vgl SSV-NF 15/57 - künstliche Beatmung). Die Abgrenzung zwischen dem anzurechnenden Pflegeaufwand und den nicht im Rahmen des BPGG zu ersetzenden medizinischen Behandlungen sei so vorzunehmen, dass ein Pflegeaufwand nur dann berücksichtigt werde, wenn es sich um Maßnahmen handle, die ein nichtbehinderter Mensch gewöhnlich selbst vornehme (SSV-NF 12/81; SSV-NF 13/76 - regelmäßige Durchführung einer Peritonealdialyse durch die Mutter an einem vierjährigen Kind; SSV-NF 14/95 - stündlich viermal lebensnotwendiges Absaugen von Schleim bei einem zweijährigen Kind). Auch die Verabreichung (und Beaufsichtigung) der Sondenernährung werde - zum Unterschied von der Verabreichung einer Insulinspritze - gewöhnlich nicht selbst vorgenommen, sondern im Rahmen der Anstaltspflege oder medizinischen Hauskrankenpflege durch Dritte, und zwar durch qualifiziertes Pflegepersonal vorgenommen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts könne ohne eine - offenbar bereits ins Auge gefasste - Änderung der Rechtslage ein Anspruch auf Berücksichtigung therapeutischer Maßnahmen ebenso wie Maßnahmen der medizinischen Hauskrankenpflege bei der Beurteilung des Pflegebedarfes aus dem geltenden Recht nicht abgeleitet werden (vgl SSV-NF 14/95 mwN).

Da die Verabreichung der Sondenernährung keine Betreuungsleistung darstelle, seien aus diesem Grund auch weder der Aufwand für die Sondenreinigung noch der Zeitaufwand für die Beaufsichtigung des Kindes während des Tropfvorganges der Sondenernährung pflegegeldrelevant, und zwar unabhängig davon, ob und welche anderen Tätigkeiten neben der Beaufsichtigung verrichtet werden könnten. Im Übrigen müssten auch gleichaltrige gesunde Kinder noch ständig beaufsichtigt werden, sodass ein pflegebedingter Mehraufwand schon deshalb ausscheide. Von der zutreffenden rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes ausgehend lägen daher im Zusammenhang mit der Sondenernährung keine sekundären Feststellungsmängel vor.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil eine Judikatur des Obersten Gerichtshofes zur Frage fehle, ob über die Grundpflege hinausgehende qualifizierte Pflegeleistungen, die (wie die Sondenernährung) als Pflichtleistung der Krankenversicherung zu gewähren seien, dann einen zusätzlichen Betreuungsaufwand iSd § 1 EinstV darstellen können, wenn die entsprechende Pflichtleistung tatsächlich nicht in Anspruch genommen werde.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag dahin, dass der Klägerin auch ab 1. 4. 2003 Pflegegeld der Stufe 7 im gesetzlichen Ausmaß bezahlt werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die im angefochtenen Urteil enthaltene rechtliche Beurteilung, ist zutreffend, sodass auf deren Richtigkeit hingewiesen werden kann (§ 510 Abs 3 zweiter Satz ZPO). Den Revisionsausführungen ist daher nur kurz zu erwidern:

Die Revisionswerberin gesteht ausdrücklich als auch ihrer Ansicht nach "unstrittig" zu, dass der Zeitaufwand für therapeutische Verfahren nach den einzelnen PGG nicht als Pflegeaufwand zu berücksichtigen ist (so zur insoweit "klaren Abgrenzung" zwischen medizinischer Hauskrankenpflege und Pflegegeld im Fall der Sondenernährung iSd § 153 Abs 3 ASVG auch jüngst: Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld [2004] Rz 10 und 225). Sie hält aber daran fest, dass die Sondenernährung keine Krankenpflege, Therapie oder Heilbehandlung darstelle, sondern immer nur Pflegeaufwand für die Sicherstellung der Ernährung, auch wenn insoweit Ansprüche gemäß § 151 ASVG bestehen. Durch die Ernährung mittels Magensonde werde nämlich weder eine Krankenbehandlung vorgenommen, noch ein Heilungserfolg erzielt, sondern nur - wie bei jedem Menschen - das Überleben ermöglicht. Die Abgrenzung zwischen Pflegeaufwand und Heilbehandlung sei schon deshalb nicht anwendbar, weil die Ernährung eine Tätigkeit darstelle, die ein ansonsten gesunder Mensch selbstverständlich selbst vornehme. Ein Ausschließlichkeitsverhältnis für Betreuungsleistungen nach dem PGG bzw dem ASVG bestehe ohne ausdrückliche Anordnung des Gesetzgebers nicht; werde doch auch die elterliche Beaufsichtigung der Kinder als Teil der Obsorge gemäß ABGB grundsätzlich nicht nach dem PGG honoriert, ab einem monatlichen Pflegeaufwand von 180 Stunden aber als Qualifikationsmerkmal der Stufe 6 auch als Pflegeaufwand relevant und daher dieselbe Tätigkeit mehrfachen Rechtsnormen mit unterschiedlichen Auswirkungen unterworfen. Dies müsse umsomehr für den vorliegenden Sachverhalt gelten, weil eine Inanspruchnahme der Hauskrankenpflege hier schon faktisch nicht möglich sei. Es sei nämlich völlig ausgeschlossen, zu jenen Zeiten, in denen bei der Betroffenen die (medizinisch anzustrebenden) oralen Ernährungsversuche scheiterten, kurzfristig Hauskrankenpersonal zu erhalten. Die Sondenernährung durch die Mutter werde daher nicht "freiwillig" zur Entlastung der Hauskrankenpflege erbracht, sondern aus medizinischer Notwendigkeit.

Diese Ausführungen sind jedoch nicht stichhältig.

Die Revision übergeht, dass gerade in der in diesem Zusammenhang vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 10 ObS 206/00t = SSV-NF 14/95 (in der ausführlich begründet wird, weshalb daran festzuhalten ist, dass therapeutische Maßnahmen, die der Erhaltung oder Verbesserung des Gesundheitszustandes dienen, nicht als Pflegeaufwand - weder als Betreuung noch als Hilfe iSd §§ 1 und 2 EinstV - zu berücksichtigen sind [stRsp; RIS-Justiz RS0106399 mwN; zuletzt: 10 ObS 269/03m mwN) ua auch - wie hier - die Schluckstörung eines minderjährigen Kindes zu beurteilen war. Diese machte im dortigen Fall (zusammen mit weiteren Störungen und Missbildungen) ein regelmäßiges Absaugen zur Freihaltung der Atemwege erforderlich.

Der Argumentation des dort betroffenen Kindes, das sich ebenfalls darauf berief, dass der mit dem "lebensnotwendigen Absaugen" (hier: mit der lebensnotwendigen Nahrungsaufnahme) verbundene Aufwand als Pflegebedarf zu qualifizieren sei, wurde dabei - nach Auseinandersetzung mit der krit Lehre - abschließend wie folgt entgegengetreten:

"Im Hinblick auf diese dargelegten Ausführungen vertritt der erkennende Senat auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Erläuternden Bemerkungen zur neuen EinstV als eine mögliche zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahme das Absaugen des Pflegebedürftigen aufgrund einer Schlucklähmung genannt ist, weiterhin die Auffassung, dass ohne eine offenbar bereits ins Auge gefasste Änderung der Rechtslage ein Anspruch auf Berücksichtigung therapeutischer Maßnahmen bei der Beurteilung des Pflegebedarfes aus dem geltenden Recht nicht abgeleitet werden kann. Bei der beim minderjährigen Kläger aufgrund seiner Schluckstörung notwendigen Hilfe beim Absaugen handelt es sich um Betreuungsleistungen, die auch an nicht Pflegebedürftigen von dritten Personen durchgeführt werden müssen und daher im Sinne der ständigen Rechtsprechung bei der Ermittlung des Pflegebedarfes im Sinne des BPGG bzw OÖ PGG nicht berücksichtigt werden können. Damit beträgt aber der vom Kläger zu berücksichtigende Pflegebedarf durchschnittlich nicht mehr als 120 Stunden monatlich, weshalb ihm auch nach § 4 Abs 2 OÖ PGG idF LGBl 1999/8 nur Pflegegeld der Stufe 2 gebührt." (SSV-NF 14/95; Hervorhebungen nicht im Original)

Nichts anderes kann im vorliegenden Fall gelten; geht es hier doch ebenfalls nicht darum, dass ein Gesunder die Ernährung (wie etwa auch die Freihaltung der Atemwege) - wie die Revision aufzeigt - "selbstverständlich selbst vornimmt", sondern um die Sondenernährung (also um eine dem oa Absaugen vergleichbare Betreuungsleistung) die auch bei nicht Pflegebedürftigen von dritten Personen durchgeführt werden muss und daher iSd stRsp bei der Ermittlung des Pflegebedarfes im Sinne des BPGG bzw OÖ PGG nicht berücksichtigt werden kann. Aus welchen Gründen im Falle der Klägerin eine davon abweichende Beurteilung geboten wäre, ist nicht erkennbar und wird auch in den Revisionsausführungen nicht aufgezeigt.

Der Revision muss daher ein Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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