OGH 10ObS160/89

OGH10ObS160/8926.9.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (Arbeitgeber) und Walter Benesch (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna B***, Hausfrau, 4910 Ried, Eberschwangerstraße 65, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei

P*** DER A***, 1021 Wien,

Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Erich Proksch und Dr. Richard Proksch, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Februar 1989, GZ 13 Rs 176/88-29, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Ried im Innkreis als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28. September 1988, GZ 5 Cgs 1103/87-26, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1.12.1986 die Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen, und trug ihr gemäß § 89 Abs. 2 ASGG eine vorläufige Zahlung von 3.500 S im Monat auf. Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Die am 4.11.1931 geborene Klägerin leitete von 1956 bis 1964 als Bilanzbuchhalterin das Rechnungswesen eines Unternehmens. Sie war in die Verwendungsgruppe 5 (des Kollektivvertrages) eingestuft. Auf Grund ihrer kaufmännischen Ausbildung und ihrer umfassenden Fachkenntnisse auf den Gebieten der doppelten Buchhaltung, des Zahlungsverkehrs und der Lohn- und Gehaltsverrechnung sowie auf Grund der schwerpunktmäßigen Kenntnisse im Steuer- und Sozialrecht und ihrer langjährigen praktischen Erfahrung war sie in der Lage, besonders verantwortungsvolle Arbeiten selbständig und eigenverantwortlich zu erledigen. In der Finanzbuchhaltung hatte sie sämtliche Arbeiten der Organisation, die Führung aller Sach- und Personenkonten im Durchschreibeverfahren, die Anlage des Kontenplanes, Eröffnungsbuchungen, das Vorkontieren, die Kassenführung, den Monatsabschluß der Sachkonten, die Abstimmung der Personenkonten mit Lieferanten und Großkunden, die Bewertung der Inventuren, Um- und Nachbuchungen sowie die Korrespondenz im Zusammenhang mit der Buchhaltung zu besorgen sowie die Hauptabschlußübersicht und die Rohbilanz zu erstellen. In der Lohnbuchhaltung oblagen ihr sämtliche Arbeiten der Lohn- und Gehaltsverrecnung, wie die Berechnung der Nettolöhne und -gehälter, die Krankenkassenabrechnung, die Führung der Lohnkonten, die Berechnung der Jahresausgleiche und der Lohnsummensteuer sowie die Abgabe der Erklärungen und die Abfuhr der lohnabhängigen Abgaben an das Finanzamt und die Gemeinde. Außerdem gehörten der Zahlungsverkehr, das Mahnwesen, die Berechnung und Abfuhr der Umsatzsteuer, die Verfassung der Umsatzsteuererklärungen, die Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Mineralölsteuer und die Berechnung und Abfuhr dieser Steuer zu ihrem Aufgabenkreis. Sie hatte eine Bürohilfskraft anzuweisen und zu überwachen. Die Klägerin ist im Hinblick auf ihr Alter und die eingeschränkte Merkfähigkeit nicht einschulbar, wohl aber anlern- und unterweisbar. Arbeiten, die besondere Merkfähigkeit verlangen, Arbeiten mit weit überdurchschnittlichen psychischen Belastungen (ständiger Zeitdruck, häufiges Arbeiten an Bildschirmen, häufige Überstundenleistung) und Arbeiten in leitender Tätigkeit kann sie nicht ausführen. Im Hinblick auf ihr medizinisches Leistungskalkül kann sie noch die Tätigkeiten einer kaufmännischen Angestellten im Lager und Expedit oder einer Sachbearbeiterin in der Liegenschaftsverwaltung oder einfache Sachbearbeitertätigkeiten im Einkauf oder Hilfstätigkeiten in der Buchhaltung und Lohnverrechnung verrichten. Diese Tätigkeiten sind in die Verwendungsgruppe 2 (des Kollektivvertrages) einzuordnen.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den von ihm festgestellten Sachverhalt dahin, daß die Frage der Berufsunfähigkeit der Klägerin trotz ihres Alters nicht nach § 273 Abs. 3 ASVG zu beurteilen sei, weil sie während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag keine Berufstätigkeit ausgeübt habe. Nach dem demnach für sie maßgebenden § 273 Abs. 1 ASVG sei sie berufsunfähig, weil sie wegen ihres körperlichen und geistigen Zustandes nur mehr auf Berufstätigkeiten verwiesen werden könne, die für sie einen (unzumutbaren) sozialen Abstieg bedeuten würden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs. 1 ASVG sei von jenem Angestelltenberuf auszugehen, den der Versicherte zuletzt ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimme das Verweisungsfeld auch dann, wenn er schon längere Zeit zurückliege. Bei der Klägerin müsse daher von einer Berufstätigkeit ausgegangen werden, die in die Beschäftigungsgruppe 5 des für sie geltenden Kollektivvertrages einzuordnen sei. Eine solche Tätigkeit komme für sie nicht mehr in Betracht. Die ihr noch möglichen Berufstätigkeiten würden für sie einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten, weshalb sie hierauf nicht verwiesen werden dürfe.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die beklagte Partei vertritt in der Revision wie schon in der Berufung die Meinung, daß das Verweisungsfeld nicht nach dem zuletzt ausgeübten Beruf bestimmt werden könne, wenn dieser schon lange nicht mehr ausgeübt wurde und der Versicherte daher die für ihn notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mehr besitzt. In einem solchen Fall könne von einem sozialen Abstieg nicht mehr gesprochen werden bzw. sei diese Frage gar nicht zu stellen, weil der Versicherte auf den gesamten Bereich der kaufmännischen Berufe verwiesen werden müsse. Es sei nicht gerechtfertigt, einen Versicherten, dessen Qualifikation zum Stichtag nicht mehr gegeben sei, wie einen mitten im Berufsleben stehenden Versicherten zu behandeln.

Unbestritten ist hier, daß die Frage der Berufsunfähigkeit der Klägerin nach § 273 Abs. 1 ASVG zu beurteilen ist. Ferner ist aus den Feststellungen des Erstgerichtes abzuleiten, daß sie (offenbar wegen der Minderung ihrer psychischen Belastbarkeit und der Einschränkung der Merkfähigkeit) die von ihr zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit nicht mehr ausüben kann. Es ist daher tatsächlich von entscheidender Bedeutung, auf welche anderen Berufstätigkeiten sie verwiesen werden darf.

Gemäß § 273 Abs. 1 ASVG gilt als berufsunfähig der Versicherte, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Oberste Gerichtshof sprach schon aus, daß bei der Bestimmung des Verweisungsfeldes nach dieser Bestimmung von jenem Angestelltenberuf des Versicherten auszugehen sei, den dieser zuletzt ausgeübt hat. Dieser Beruf bestimme das Verweisungsfeld, dh die Summe aller Berufe, die derselben Berufsgruppe zuzurechnen sind, weil sie eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen (SSV-NF 2/73 und 2/92). Ob ausnahmsweise auf einen früher ausgeübten Beruf Bedacht genommen werden muß (vgl. hiezu Schrammel,

Der pensionsversicherungsrechtliche Schutz im Falle geminderter Leistungsfähigkeit in Tomandl (Hrsg), Die Minderung der Leistungsfähigkeit im Recht der Sozialversicherung 73 f), ist hier nicht zu erörtern, weil ein solcher Fall nicht in Betracht kommt. Jedenfalls bildet weder der Wortlaut noch der Zweck der angeführten Bestimmung einen Anhaltspunkt dafür, daß die zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit nur deshalb nicht maßgebend ist, weil sie schon längere Zeit zurückliegt.

Den Vorinstanzen ist darin beizupflichten, daß der Versicherte innerhalb seiner Berufsgruppe nicht auf eine Berufstätigkeit verwiesen werden darf, deren Ausübung für ihn einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten würde. Hiefür ist die Einschätzung der Allgemeinheit maßgebend. Die Einstufung einer Tätigkeit in einem Kollektivvertrag kann ein Indiz für diese Einschätzung bilden und daher zur Beurteilung des sozialen Wertes einer Tätigkeit herangezogen werden.

Gemäß § 223 Abs. 2 ASVG ist Stichtag für die Feststellung, ob, in welchem Zweig der Pensionsversicherung und in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt, der Eintritt des Versicherungsfalles, wenn er auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Eintritt des Versicherungsfalles folgende Monatserste. Wird jedoch der Antrag auf eine Leistung nach Abs. 1 Z 1 oder 2 (ds Leistungen aus den Versicherungsfällen des Alters und der geminderten Arbeitsfähigkeit) erst nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt, so ist Stichtag für diese Feststellung der Zeitpunkt der Antragstellung, wenn er auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Zeitpunkt der Antragstellung folgende Monatserste.

Aus dieser Bestimmung ergibt sich, daß für die Feststellung, ob ein Anspruch auf Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gebührt, die Verhältnisse am Stichtag und somit zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles oder

der - späteren - Antragstellung berücksichtigt werden müssen. Ebenso wie der körperliche und geistige Zustand des Versicherten am Stichtag maßgebend ist, ist auch die Frage seiner Verweisbarkeit nach den Verhältnissen am Stichtag zu beurteilen. Bei der Lösung der Frage eines unzumutbaren sozialen Abstiegs kommt es daher auf den sozialen Wert an, den die Ausbildung und die Kenntnisse und Fähigkeiten, die in der zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit des Versicherten von Bedeutung waren, unter den Verhältnissen zur Zeit des Stichtags haben. Kann zur Beurteilung dieses Wertes auf die Einstufung in einem Kollektivvertrag zurückgegriffen werden, ist entscheidend, in welche Beschäftigungsgruppe zur Zeit des Stichtags eine Tätigkeit eingestuft würde, für die jene Ausbildung und jene Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt werden, über die der Versicherte in seiner zuletzt ausgeübten Berufstätigkeit verfügte. Führt diese Ausbildung oder führen diese Kenntnisse und Fähigkeiten unter den Verhältnissen, die am Stichtag bestehen, zur Einstufung in eine niederere Beschäftigungsgruppe als zu der Zeit, in der die Berufstätigkeit ausgeübt wurde, so ist von dieser Einstufung und nicht von der Einstufung zur Zeit der Ausübung der Tätigkeit auszugehen.

Es sind daher zwar entgegen der Auffassung der beklagten Partei nicht jene Kenntnisse und Fähigkeiten maßgebend, die der Versicherte am Stichtag noch besitzt, weil sich danach die Frage eines unzumutbaren sozialen Abstiegs nicht richten kann. Der Verlust von Kenntnissen und Fähigkeiten geht nämlich meist auf den körperlichen und geistigen Zustand des Versicherten zur Zeit des Stichtages zurück. Würde man bei der Entscheidung der Frage, ob eine Verweisungstätigkeit einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeutet, von den Kenntnissen und Fähigkeiten des Versicherten am Stichtag ausgehen, wären daher Versicherte, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen die bis unmittelbar vor dem Stichtag ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausüben können, ohne Rücksicht auf den damit verbundenen sozialen Abstieg auf alle Tätigkeiten verweisbar, die ihrem derzeitigen medizinischen Leistungskalkül noch entsprechen. Auf diese Weise könnte aber ein sozialer Abstieg überhaupt nicht berücksichtigt werden. Es kommt daher in jedem Fall auf jene Ausbildung und auf jene Kenntnisse und Fähigkeiten an, die im ausgeübten Beruf tatsächlich erforderlich waren und auch angewendet wurden. Die Lösung der Frage des sozialen Abstiegs hängt dann davon ab, welchen Wert die Allgemeinheit dieser Ausbildung und diesen Kenntnissen und Fähigkeiten zur Zeit des Stichtags beimißt. Es kann hiefür nämlich nur der soziale Wert einer Tätigkeit aus der Zeit maßgebend sein, in der die Berufstätigkeiten miteinander verglichen werden, nicht aber der Wert aus verschiedenen Zeiten. In dem hier zu entscheidenden Fall sind daher Feststellungen darüber notwendig, inwieweit die Ausbildung und die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die die Klägerin am Ende ihrer Berufstätigkeit verfügte, zur Zeit des Stichtages in einer vergleichbaren Berufstätigkeit noch von Bedeutung waren und in welcher Beschäftigungsgruppe des für sie maßgebenden Kollektivvertrages sie hiemit zur Zeit des Stichtages eingestuft worden wäre. Da diese Feststellungen fehlen, mußte die Rechtssache an das Erstgericht zurückverwiesen werden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte