OGH 10ObS132/94

OGH10ObS132/9427.9.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Heinrich Matzke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Herbert Lohr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann B*****, Pensionist, ***** vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Hilflosenzuschusses und Pflegegeldes, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 10.März 1994, GZ 8 Rs 97/93-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 9.September 1993, GZ 23 Cgs 239/92-19, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger mündlicher Berufungsverhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Revisionskosten sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter vom 7.10.1992 wurde der Antrag des Klägers vom 2.8.1992 auf Gewährung des Hilflosenzuschusses abgelehnt, weil er nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe (§ 105 a ASVG).

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und sprach aus, daß das Begehren des Klägers auf Leistung des Hilflosenzuschusses zu seiner Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe in der Zeit vom 2.8.1992 bis 30.6.1993 sowie das Begehren auf Leistung des Pflegegeldes in Höhe der Stufe 2 ab 1.7.1993 dem Grunde nach zu Recht bestehe; es trug der Beklagten auf, dem Kläger eine vorläufige Zahlung von monatlich 2.900 S zu erbringen. Dazu traf es folgende Feststellungen:

Der am 26.4.1939 geborene Kläger ist einbeinig, weil ihm im Jahr 1981 wegen eines bösartigen Tumors das rechte Bein im Hüftgelenk amputiert wurde. Er wurde mit einem Kunstbein ausgestattet, verwendet aber seit Jahren zwei Stützkrücken. Gewöhnung und Anpassung sind eingetreten. Der Kläger kann sich nur mit zwei Stützkrücken bewegen und stehen oder unter Verwendung des Kunstbeines mit einer Stützkrücke. Er kann sich ohne fremde Hilfe an- und auskleiden sowie die körperliche Pflege vornehmen und auch die Notdurft allein verrichten. Er ist nicht in der Lage, ohne Hilfe in eine Badewanne zu steigen, es ist ihm jedoch möglich, unter Verwendung eines Hockers zu duschen. Er ist weiters in der Lage, die Wohnung oberflächlich sauber zu halten, die kleine Wäsche im Sitzen zu waschen und bis zu 3 kg mit einer Umhängetasche einzukaufen. Das Waschen der großen Wäsche, das Herbeischaffen des Brennstoffes, das gründliche Aufräumen und insbesondere das Zubereiten ausreichend großer Mahlzeiten ist dem Kläger ohne fremde Hilfe nicht möglich.

In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht unter Bezugnahme auf die seit der Entscheidung SSV-NF 1/46 ständige Rechtsprechung zum Hilflosenzuschuß zur Auffassung, daß dem Kläger der Hilflosenzuschuß gebühre, weil er für die Zubereitung der Mahlzeiten durch dritte Personen mit mindestens einer Stunde pro Tag und unter Berücksichtigung weiter entstehenden Aufwandes für Brennstoffherbeischaffung, Versorgen der großen Wäsche und gründliches Wohnungsaufräumen, Aufwendungen habe, die den begehrten Hilflosenzuschuß überstiegen. Nach § 38 Abs 1 BPGG sei dem Kläger von Amts wegen mit Wirkung vom 1.7.1993 nach den Vorschrifen des BPGG ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zu gewähren.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das Urteil im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens ab. Die Feststellung des Erstgerichtes, der Kläger könne sich keine ordentlichen Mahlzeiten selbst zubereiten, sei mit der allgemeinen Lebenserfahrung, aber auch mit den übrigen Feststellungen des Erstgerichtes nicht in Einklang zu bringen. Der Kläger könne daher die in den persönlichen Lebensbereich fallende Verrichtung des Kochens in noch hinreichendem Maße selbst besorgen. Es bedürfe keiner ausführlichen Begründung, daß die für die verbleibenden erforderlichen Hilfsdienste aufzuwendenden Kosten im übrigen nicht annähernd die Höhe des begehrten Hilflosenzuschusses erreichten. Gemäß § 43 Abs 1 BPGG seien die am 1.7.1993 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren betreffend bisherige pflegebezogene Leistungen nach den bisherigen Verfahrensvorschriften zu Ende zu führen, wenn das Datum der ersten erstinstanzlichen Entscheidung einer Verwaltungsbehörde - wie im gegebenen Fall - vor dem 1.7.1993 liege. Auch nach der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz wäre mangels erforderlicher Betreuung im Sinn des § 1 und da der Kläger jedenfalls auch in der Lage sei, die Nahrungsmittel und Medikamente herbeizuschaffen, keine Hilfe in einem Pflegegeldanspruch begründenden Ausmaß erforderlich, auch nicht nach Stufe 1.

Das Begehren auf Hilflosenzuschuß für den Zeitraum 2.8. bis 31.8.1992 wurde vom Kläger unter Anspruchsverzicht zurückgenommen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Sowohl nach dem für den Anspruch auf Hilflosenzuschuß bis zum 30.6.1993 noch anzuwendenden § 105 a ASVG wie nach den Bestimmungen des BPGG und der EinstV ist von erheblicher Bedeutung, ob und inwieweit der Kläger bei der Zubereitung von Mahlzeiten einer Hilfe bedarf. Das Erstgericht stellte hiezu fest, daß dem Kläger das Zubereiten ausreichend großer Mahlzeiten ohne fremde Hilfe nicht möglich sei. Es stützte sich dabei insbesondere auf die insoweit übereinstimmenden Gutachten zweier ärztlicher Sachverständiger und begründete in seiner Beweiswürdigung ausführlich, warum es zu der genannten Feststellung gelangte. Dort präzisierte es die Feststellung dahin, daß der Kläger nicht in der Lage sei, sich ausreichend nahrhafte Mahlzeiten ohne fremde Hilfe zuzubereiten. Diese Feststellung wurde von der Beklagten in ihrer Berufung unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung angefochten. Hingegen gelangte das Berufungsgericht lediglich in rechtlicher Beurteilung, also ohne die Beweisaufnahmen zu wiederholen oder zu ergänzen, zur gegenteiligen Feststellung, daß der Kläger die Verrichtung des Kochens in noch hinreichendem Maß selbst zu besorgen in der Lage sei.

Nach ständiger Rechtsprechung bildet es einen Mangel des Berufungsverfahrens, wenn das Berufungsgericht ohne Beweiswiederholung neue oder abweichende Feststellungen trifft (SSV-NF 6/10, 5/47 mwN). Dies wird vom Revisionswerber zu Recht unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens gerügt. Da der Revisionsgrund des § 503 Z 2 ZPO vorliegt und der Mangel geeignet war, eine unrichtige Entscheidung durch das Berufungsgericht herbeizuführen, mußte dessen Urteil gemäß § 510 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG aufgehoben und zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Berufungsverhandlung zurückverwiesen werden. Sollte das Berufungsgericht gegen die erstgerichtliche Beweiswürdigung Bedenken haben, dann wird es die Beweisaufnahme zu wiederholen bzw zu ergänzen haben. Ob ein Pensionist zum Kochen fremder Hilfe bedarf, ist auf Grund von genauen Feststellungen darüber zu entscheiden, welche Speisen er selbst zubereiten kann bzw. für welche Speisenzubereitung die Hilfe von dritter Seite erforderlich ist (SSV-NF 5/46 ua).

Die Aufhebung und Zurückverweisung an das Berufungsgericht ist aber noch aus einem anderen Grund erforderlich. Der in erster Instanz siegreiche Kläger war nicht verpflichtet, ihm nachteilige Feststellungen des Erstgerichtes in einer Berufungsbeantwortung zu bekämpfen; er kann dies in der Revision nachholen (SSV-NF 5/112 = JBl 1992, 268; SSV-NF 7/31 mwN). Das Erstgericht stellte fest, der Kläger sei in der Lage, die Wohnung oberflächlich sauber zu halten. Diese Feststellung bekämpft der Kläger unter Hinweis auf die beiden ärztlichen Sachverständigengutachten, wonach ihm selbst das oberflächliche Aufräumen der Wohnung nicht mehr zumutbar sei. Da sich das Berufungsgericht mit einer für die Entscheidung nicht unwesentlichen Tatsachenfeststellung, die in der Revision in zulässiger Weise bekämpft wurde, nicht auseinandergesetzt hat, führt auch dies im Ergebnis zur Wahrnehmung einer Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens. Auch hier wird näher festzustellen sein, welche Verrichtungen der Kläger noch selbst vornehmen kann und für welche die Hilfe von dritter Seite erforderlich ist.

Der Revision war daher im aufgezeigten Sinn Folge zu geben, ohne daß es derzeit erforderlich ist, auf die weiteren Revisionsausführungen einzugehen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 in ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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