OGH 10ObS131/90

OGH10ObS131/9012.6.1990

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Richard Bauer (AG) und Jürgen Mühlhauser (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Leopold H***, Vertragsbediensteter, 3744 Stockern 26, vertreten durch Dr. Renü Schindler, Sekretär der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, 1010 Wien, Teinfaltstraße 7, dieser vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A*** U***, 1200 Wien,

Adalbert-Stifterstraße 65, diese im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Versehrtenrente, Unfallheilbehandlung und Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Dezember 1989, GZ 34 Rs 265/89-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Kreisgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 13. Oktober 1989, GZ 15 Cgs 116/89-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Das Erstgericht wies das Leistungsbegehren des Klägers, die beklagte Partei sei schuldig, ihm eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente im gesetzlichen Ausmaß und die Unfallheilbehandlung zu leisten, und auch das Begehren auf Feststellung, die am 4.10.1988 eingetretene Gesundheitsstörung sei die Folge eines Arbeitsunfalls, ab. Es stellte im wesentlichen folgendes fest:

Der am 4.7.1931 geborene Kläger ist als Vertragsbediensteter für eine Straßenmeisterei tätig. Er war am 4.10.1988 damit beschäftigt, Großwürfelsteine auf einen LKW aufzuladen. Die Arbeit mit solchen Großwürfelsteinen ist üblich und fällt im Laufe eines Jahres immer wieder an. Die Steine mit einem durchschnittlichen Gewicht von 30 kg mußten auf die etwa 1,5 m hohe Ladefläche des LKW aufgeladen werden. Bei einem Stein brach die Kante weg, weshalb er davonzurutschen drohte. Der Kläger faßte mit dem rechten Arm nach und verspürte hiebei einen "Brenner" im rechten Oberarm. Er erlitt einen Riß der rechten Bizepssehne. Als Dauerfolge verblieben eine endlagige Bewegungseinschränkung der rechten Schulter und des rechten Ellenbogens sowie glaubhafte subjektive Beschwerden. Es kann nicht festgestellt werden, welcher Belastung die rechte Bizepssehne des Klägers standhalten konnte und welche Belastung auf sie an dem angeführten Tag einwirkte. Die Verletzung trat bei einer Tätigkeit auf, die der Kläger vorher schon sehr oft ausgeführt hatte. Durch eine Zugbelastung kommt es nicht zu einem Sehnenriß. Sehnen sind auf Zugbeanspruchung gebaut. Sie reißen bei übermäßiger Belastung nicht, sondern es kommt zu einem Muskeleinriß, der beim Kläger jedoch nicht festzustellen ist. Beim Unterbleiben eines Muskeleinrisses kann es nur bei einer bestehenden Vorschädigung zu einem Riß der Sehne kommen.

Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das Erstgericht noch aus, daß während des Nachgreifens, das zur Schädigung führte, keine größere Belastung, sondern eher eine wesentlich geringere Belastung (als üblich) auftrat, zumal während des Nachgreifens eine Gewichtsverlagerung zum festen Griff erfolgte.

Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß zwar ein Unfall im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung vorliege, weil das Nachgreifen, das wegen des Abbrechens der Kante eines Steines notwendig geworden sei, als ein abweichendes Verhalten (gegenüber der gewöhnlichen beruflichen Tätigkeit) anzusehen sei. Der Vorschädigung der Sehne und damit der krankhaften Veranlagung des Klägers sei aber die überragende Bedeutung für die Körperschädigung zugekommen, weshalb die die Versicherung begründende Beschäftigung nur Gelegenheitsursache für die Schädigung gewesen sei. Gelegenheitsursachen seien jedoch vom Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht umfaßt. Das Berufunggericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es setzt sich ausdrücklich mit den Ausführungen auseinander, die in der Berufung - allerdings unter dem Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens - zur Frage enthalten waren, ob der Kläger beim Nachgreifen einer außergewöhnlichen Belastung ausgesetzt gewesen sei, und verneinte sie. Rechtlich war es der Meinung, daß wesentliche Bedingung für die Körperschädigung des Klägers die Vorschädigung der Sehne und nicht die etwas erhöhte Beanspruchung infolge der abbrechenden Steinkannte gewesen sei.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn des Feststellungsbegehrens abzuändern und es im übrigen aufzuheben und (die Rechtssache) zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Sieht man von dem - hier nicht in Betracht kommenden - Fall einer Berufskrankheit ab, so ist eine der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung, daß die körperliche Schädigung oder der Tod auf einen (Arbeits-)Unfall zurückgeht. Unfall ist für den Bereich der Unfallversicherung ein zeitlich begrenztes Ereignis - eine Einwirkung von außen, ein abweichendes Verhalten, eine außergewöhnliche Belastung -, das zu einer Körperschädigung (oder zum Tod) geführt hat (SSV-NF 2/112). Die angeführten Ereignisse sind allerdings nur Beispiele. Auch wenn keine Einwirkung von außen, kein abweichendes Verhalten und keine außergewöhnliche Belastung gegeben war, kann es sich um einen Unfall gehandelt haben, sofern nur die Körperschädigung oder der Tod auf ein verhältnismäßig kurze Zeit dauerndes Ereignis zurückzuführen ist (vgl Brackmann, Handbuch 479 und 479 b mwN aus dem vergleichbaren deutschen Rechtsbereich). Der Oberste Gerichtshof folgt überdies der in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Auffassung (Nachweise bei Brackmann aaO 479a), daß auch ein zur gewöhnlichen beruflichen Tätigkeit gehörendes Ereignis ein Unfall sein kann, sofern es nur zeitlich begrenzt ist. Die zum Teil gegenteilige Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien als damaligem Höchstgericht (SVSlg 18.032; SSV 11/5, 12/111; aM aber etwa SVSlg 6.671; SSV 1/60), der sich auch Tomandl (Leistungsrecht 12, System 2.3.2.2. 3. ErgLfg 269, Grundriß4 Rz 135 und Entscheidungsbesprechung in ZAS 1990, 68) anschloß, diente zur Abgrenzung gegenüber einer auf eine krankhafte Veranlagung zurückgehenden Körperschädigung; diese Abgrenzung ergibt sich aber schon aus der Theorie der wesentlichen Bedingung, auf die im folgenden noch einzugehen sein wird. Es besteht kein Grund, Ereignisse, die bei der gewöhnlichen Berufstätigkeit des Versicherten vorkommen, allein aus diesem Grund vom Schutz der Unfallversicherung auszunehmen. Denn auch die gewöhnliche Berufstätigkeit birgt eine "typisch beschäftigungsbedingte Gefahr" (vgl SSV 12/111) in sich. Das abweichende Verhalten (Fehltritt), die Übermüdung oder die Überanstrengung des Versicherten, die von Tomandl (aaO) und der zitierten Rechtsprechung als Arbeitsunfälle gewertet werden, heben sich in Wahrheit von der bloßen Ausübung der Tätigkeit nicht ab, sondern ereignen sich in deren Rahmen. Hier ist es deshalb ohne Bedeutung, ob sich das Nachgreifen nach dem Stein "erkennbar aus der Routine des üblichen Vollzuges der versicherten Erwerbstätigkeit" des Klägers abhob (vgl Tomandl, System aaO). Insbesondere schließt es die Annahme eines Unfalls nicht aus, daß der Kläger beim Nachgreifen keiner Belastung ausgesetzt war, die jene erheblich überstieg, die beim Aufheben der Steine auf ihn einwirkte; eine solche Tatsachenfeststellung ergibt sich nämlich aus den wiedergegebenen Ausführungen des Erstgerichtes zur Frage der außergewöhnlichen Belastung und den hiezu im Berufungsurteil enthaltenen Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht die entsprechenden, in Wahrheit eine Beweisrüge enthaltenden Berufungsausführungen erledigte. Da die Körperschädigung des Klägers durch ein verhältnismäßig kurze Zeit dauerndes Ereignis verursacht wurde, geht sie jedenfalls auf einen Unfall zurück, der auch ein Arbeitsunfall im Sinn des § 175 Abs 1 ASVG war.

Die Vorinstanzen erkannten zwar richtig, daß wegen einer Körperschädigung, die nur zum Teil durch einen Arbeitsunfall, im übrigen aber durch eine krankhafte Veranlagung verursacht wurde, im Sinn der in der Unfallversicherung geltenden Theorie der "wesentlichen Bedingung", dann kein Anspruch auf Leistung zusteht, wenn der krankhaften Veranlagung gegenüber dem Unfall die überragende Bedeutung zukommt, wenn also wegen der Veranlagung jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit die Schädigung ausgelöst hätte (SSV-NF 3/95 mwN). Die Feststellungen des Erstgerichtes decken jedoch nicht die von den Vorinstanzen daraus gezogenen rechtlichen Schlußfolgerungen. Aus diesen Feststellungen ergibt sich nämlich nicht, welche anderen Ereignisse dieselbe Körperschädigung hätten zur Folge haben können. Im Ersturteil heißt es zwar, es könne nicht festgestellt werden, welcher Belastung die rechte Bizepssehne des Klägers standhalten konnte. Mit diesen - als Tatsachenfeststellung zu wertenden (JBl 1981, 206 ua) - Ausführungen ist aber noch nicht notwendig gesagt, daß auch nicht festgestellt werden kann, welche anderen Ereignisse dieselbe Schädigung zur Folge gehabt hätten.

Der Kläger weist in diesem Zusammenhang in der Revision mit Recht darauf hin, daß sich der Unfall bei einer Tätigkeit ereignete, die an sich mit einer Belastung der Sehne verbunden war, wie sie bei alltäglich vorkommenden Ereignissen wohl nicht auftritt. Es wird im übrigen nach den besonders bei Ansprüchen aus Arbeitsunfällen (modifiziert) anzuwendenden Regeln des Anscheinsbeweises (vgl hiezu SSV-NF 2/65) Sache der beklagten Partei sein, die ernste Möglichkeit zu beweisen, daß der krankhaften Veranlagung des Klägers die überragende Bedeutung für die bei ihm eingetretene Körperschädigung zukam; auch dies wird in der Revision im Ergebnis zutreffend geltend gemacht.

Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 2 Abs 1 ASGG iVm § 52 Abs 1 ZPO.

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