Spruch:
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art 234 EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 1 lit a der Verordnung (EWG) 1408/71 dahin auszulegen, dass er auch - für die Dauer eines halben Jahres - eine Person erfasst, die nach Ende der zweijährigen gesetzlichen Karenzierung ihres Arbeitsverhältnisses nach der Geburt eines Kindes eine Karenzierung für ein weiteres halbes Jahr mit ihrem Arbeitgeber vereinbart, um die gesetzliche Höchstdauer des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld bzw einer entsprechenden Ausgleichszahlung zu erreichen, und sodann das Arbeitsverhältnis löst?
2. Im Fall der Verneinung von Frage 1.:
Ist Art 1 lit a der Verordnung (EWG) 1408/71 dahin auszulegen, dass er auch - für die Dauer eines halben Jahres - eine Person erfasst, die nach Ende der zweijährigen gesetzlichen Karenzierung ihres Arbeitsverhältnisses mit ihrem Arbeitgeber eine Karenzierung für ein weiteres halbes Jahr vereinbart, wenn sie in dieser Zeit Kinderbetreuungsgeld bzw eine entsprechende Ausgleichszahlung bezieht?
II. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Text
Begründung
1. Sachverhalt:
Die am 22. 11. 1974 geborene Klägerin, eine österreichische Staatsbürgerin, hat am 7. 1. 2006 in Innsbruck ihren Sohn Maximilian Gustav B***** geboren. Sie teilte ihrer in Innsbruck ansässigen Arbeitgeberin, bei der sie zum Geburtszeitpunkt beschäftigt war, mit, dass sie die „volle" gesetzliche Karenzierung ihres Arbeitsverhältnisses bis zum zweiten Geburtstag ihres Sohnes in Anspruch nehmen werde (§ 15 Abs 1 des österreichischen Mutterschutzgesetzes). In weiterer Folge vereinbarte die Klägerin mit ihrer Arbeitgeberin eine Verlängerung der Karenz bis 6. Juli 2008.
Die Klägerin, die zum Zeitpunkt der Geburt ihres Sohnes in Innsbruck gewohnt hatte, zog im März 2007 mit ihrem Sohn in die Schweiz, weil ihr Ehemann dort am 1. 6. 2006 ein Arbeitsverhältnis angetreten hatte.
Die Klägerin war bis 6. 7. 2008 gegen Entfall des Arbeitsentgelts karenziert; sie hat in dieser Zeit in Österreich und anschließend in der Schweiz ihren Sohn erzogen.
Über Antrag der Klägerin gewährte ihr die Tiroler Gebietskrankenkasse (die nunmehr beklagte Partei) für den Zeitraum vom 5. 3. 2006 bis 28. 2. 2007 Kinderbetreuungsgeld in der täglichen Höhe von 14,53 EUR und für den Zeitraum vom 1. 3. 2007 bis 6. 1. 2008 eine Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld in der täglichen Höhe von 14,53 EUR. Mit Schreiben vom 17. 10. 2007 teilte die Klägerin der beklagten Partei mit, dass die Karenzvereinbarung mit ihrer Arbeitgeberin um sechs Monate verlängert worden sei und beantragte die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld sowie die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes um weitere sechs Monate bis zum 30. Lebensmonat des Kindes.
Mit Bescheid vom 18. 1. 2008 widerrief die Tiroler Gebietskrankenkasse den für die Zeit ab 1. 3. 2007 zuerkannten Anspruch auf Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld gemäß Art 73, 75 und 76 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 in Verbindung mit Art 10 Abs 1 lit b sublit i der Verordnung (EWG) Nr 574/72 ab dem 7. 1. 2008. Dieser Bescheid wurde zusammengefasst damit begründet, dass ab 7. 1. 2008 mangels eines aufrechten Arbeitsverhältnisses der Klägerin in Österreich die alleinige Leistungszuständigkeit der Schweiz für Familienleistungen gegeben sei, wo (allein) der Ehegatte der Klägerin einer Erwerbstätigkeit nachgehe und wo alle Familienangehörigen wohnen.
Den Feststellungen der Vorinstanzen ist nicht zu entnehmen, ob die Klägerin nach dem 6. 7. 2008 die Arbeit bei ihrer früheren Arbeitgeberin wieder aufgenommen hat. Nach der Aktenlage blieb sie weiterhin im Kanton Basel-Stadt in der Schweiz wohnhaft und hat dort (nach dem Inhalt der Revisionsbeantwortung) keine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Nach den Behauptungen der Tiroler Gebietskrankenkasse wurde das Arbeitsverhältnis unmittelbar nach der vereinbarten sechsmonatigen Freistellung aufgelöst.
2. Vorbringen und Anträge der Partei:
In ihrer am 15. 2. 2008 eingebrachten Klage begehrt die Klägerin, die Tiroler Gebietskrankenkasse schuldig zu erkennen, ihr für den Zeitraum vom 7. 1. 2008 bis 6. 7. 2008, also für die Zeit der vereinbarten Karenzierung ihres Arbeitsverhältnisses, eine Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld in Höhe von 14,53 EUR pro Tag zu zahlen. Ihren Klageantrag begründete sie im Wesentlichen damit, dass sie trotz der vereinbarten Karenzierung in einem aufrechten Arbeitsverhältnis zu ihrer Arbeitgeberin gestanden und daher weiterhin als Arbeitnehmerin im Sinne der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 anzusehen sei. Darüber hinaus sei sie während der Zeit der Kindererziehung als Teilversicherte in die österreichische Pensionsversicherung einbezogen.
Die Tiroler Gebietskrankenkasse steht auf dem Standpunkt, dass die Klägerin für die Zeit einer vereinbarten Karenzierung des Arbeitsverhältnisses nicht in die österreichische Sozialversicherung integriert und daher auch keine Arbeitnehmerin im Sinne der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 sei. Während der Zeit der Kindererziehung könnte sie - unabhängig von einer Beschäftigung - lediglich Anwartschaftszeiten für eine eventuelle spätere Pensionsfeststellung erwerben. Nach Art 13 Abs 2 lit a der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 liege die Leistungszuständigkeit für die Erbringung von Familienleistungen im hier relevanten Zeitraum vom 7. 1. 2008 bis 6. 7. 2008 allein bei der Schweiz. Auch aus dem Beschluss Nr 207 der Verwaltungskommission vom 7. 4. 2006, ABl 2006 L 175/83, sei für die Klägerin nichts zu gewinnen, weil sie als Person in unbezahltem Urlaub nach dem Ende der gesetzlichen Karenzierung des Arbeitsverhältnisses anzusehen sei (siehe Erwägungsgrund 9 dieses Beschlusses Nr 207). Letztlich habe die Klägerin im Hinblick auf den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in der Schweiz auch nach dem innerstaatlichen österreichischen Recht keinen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld.
Rechtliche Beurteilung
3. Bisheriges Verfahren:
Das Gericht erster Instanz gab dem Klagebegehren statt und verpflichtete die Tiroler Gebietskrankenkasse zur Zahlung von „Kinderbetreuungsgeld" in der Höhe von 14,35 EUR (richtig: 14,53 EUR) täglich für die Zeit vom 7. 1. 2008 bis 6. 7. 2008, somit insgesamt 2.688,05 EUR.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Tiroler Gebietskrankenkasse nicht Folge. In Übereinstimmung mit der Rechtsansicht des Gerichts erster Instanz ging es davon aus, dass eine Person, die ihr Kind in den ersten 48 Kalendermonaten nach der Geburt tatsächlich und überwiegend erziehe, in der gesetzlichen Pensionsversicherung teilversichert sei. Die in § 8 Abs 1 Z 2 lit g des österreichischen Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes in der Fassung der 62. ASVG-Novelle (BGBl I 2004/142) geforderte Erziehung des Kindes „im Inland" sei unzweifelhaft gemeinschaftsrechtswidrig und wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht anzuwenden. Im Hinblick auf diese Teilversicherung der Klägerin sei Österreich - unabhängig von der naheliegenderweise zu bejahenden Frage, ob nach Ende der gesetzlichen Karenz noch ein aufrechtes Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und ihrer (früheren) Arbeitgeberin vorliege - „primär leistungspflichtig". Da die Schweiz als Wohnsitzstaat der Familie und Beschäftigungsstaat des Ehegatten der Klägerin keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld gleichartige Leistung gewähre, lebe „der Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Kinderbetreuungsgeld zur Gänze auf", weshalb das Erstgericht die Tiroler Gebietskrankenkasse zu Recht zur Zahlung des geltend gemachten Betrags verpflichtet habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Tiroler Gebietskrankenkasse, nach deren Inhalt ein Anspruch der Klägerin auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum vom 7. 1. 2008 bis 6. 7. 2008 weiterhin zu verneinen sei, weil die Klägerin in diesem Zeitraum nicht als Arbeitnehmerin mit Beschäftigung in Österreich anzusehen sei. Der Klägerin sei es nach dem Ende der gesetzlichen Karenzzeit nur um die weitere Freistellung zum Zweck des Bezugs von Familienleistungen gegangen; eine Wiederaufnahme der tatsächlichen Erwerbstätigkeit in Österreich sei gar nicht geplant gewesen. Im Übrigen würden Kindererziehungszeiten in der Pensionsversicherung keine Arbeitnehmereigenschaft begründen; die entsprechende Teilversicherung liege nicht in einem Sozialversicherungssystem für Arbeitnehmer, weil keine Unterscheidung zwischen der erwerbstätigen und der nicht erwerbstätigen Bevölkerung getroffen werde. Die unrichtige Ansicht der Vorinstanzen würde dazu führen, dass im Fall von Kindererziehung der erziehenden Person völlig unabhängig von einem Arbeitsverhältnis Arbeitnehmereigenschaft zukomme. Tatsächlich bezwecke die Teilversicherung allein eine fixe Erhöhung des Pensionsbetrags pro Kind. Sie stehe im Übrigen erst im Nachhinein fest. Im vorliegenden Fall käme es zu keiner Anrechnung, weil auch die Schweiz eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten kenne. Außerdem normiere die Verordnung (EWG) 1408/71 zur Vermeidung von Doppelleistungen für alle Familienleistungen eine einheitliche Leistungszuständigkeit, was im konkreten Fall wiederum zur allgemeinen Leistungszuständigkeit der Schweiz führe; dieser Staat zahle auch die (der österreichischen Familienbeihilfe entsprechende) Kinderzulage aus.
Die Klägerin hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie ihren Standpunkt wiederholt, dass die Arbeitnehmereigenschaft nach der Verordnung (EWG) 1408/71 durch die Integration in einem Zweig der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer begründet werde, in concreto durch die Pensionsversicherung für Zeiten der Kindererziehung gemäß § 8 Abs 1 Z 2 lit g des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes. In Betracht käme auch Krankenversicherungsschutz aufgrund des Versicherungsfalls der Mutterschaft gemäß § 122 Abs 3 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes. Dieses Gesetz sei klar auf die soziale Sicherheit von Arbeitnehmern ausgerichtet. Die Teilversicherung bestehe auch nicht zeitlich unbegrenzt, sondern sei mit dem vierten Lebensjahr des Kindes begrenzt. In der Praxis werde eine über die gesetzliche Dauer von zwei Jahren hinausgehende Karenzierung eines Arbeitsverhältnisses typischerweise nur für ein halbes Jahr in Anspruch genommen, damit auf diese Weise die 30-monatige Bezugsdauer des Kinderbetreuungsgeldes ausgenützt werden könne. Während einer vereinbarten Karenzierung bleibe das Arbeitsverhältnis aufrecht; nur die arbeitsrechtlichen Hauptpflichten würden ruhen. Eine Rückkehr in das frühere Arbeitsverhältnis oder eine Rückkehrabsicht nach Österreich werde weder vom Gemeinschaftsrecht noch vom innerstaatlichen Recht gefordert.
4. Gemeinschaftsrecht:
4.1. Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz
Artikel 8 des am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (im Folgenden: „Abkommen") lautet unter der Überschrift „Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit":
„Die Vertragsparteien regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II, um insbesondere Folgendes zu gewährleisten:
a) Gleichbehandlung;
b) Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften;
c) Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Versicherungszeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;
d) Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben;
e) Amtshilfe und Zusammenarbeit der Behörden und Einrichtungen."
In Art 1 des Anhangs II zum Abkommen („Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit") kommen die Vertragsparteien überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die gemeinschaftlichen Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird, in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens geltenden Fassung einschließlich der in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Änderungen oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden. Der Begriff „Mitgliedstaat(en)" in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, ist außer auf die durch die betreffenden gemeinschaftlichen Rechtsakte erfassten Staaten auch auf die Schweiz anzuwenden.
In Abschnitt A des Anhangs wird (auch) auf die Verordnungen (EWG) Nr 1408/71 und Nr 574/72 Bezug genommen.
Art 1 lit a der Verordnung (EWG) 1408/71 definiert den Begriff des „Arbeitnehmers" oder „Selbständigen" für die Anwendung der Verordnung als „jede Person,
i) die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbstständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist;
ii) die im Rahmen eines für alle Einwohner oder die gesamte erwerbstätige Bevölkerung geltenden Systems der sozialen Sicherheit gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken pflichtversichert ist, die von den Zweigen erfasst werden, auf die diese Verordnung anzuwenden ist,
- wenn diese Person auf Grund der Art der Verwaltung oder der Finanzierung dieses Systems als Arbeitnehmer oder Selbstständiger unterschieden werden kann oder
- wenn sie bei Fehlen solcher Kriterien im Rahmen eines für Arbeitnehmer oder Selbstständige errichteten Systems oder eines Systems der Ziffer iii) gegen ein anderes in Anhang I bestimmtes Risiko pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist oder wenn auf sie bei Fehlen eines solchen Systems in dem betreffenden Mitgliedstaat die in Anhang I enthaltene Definition zutrifft;
iii) die gegen mehrere Risiken, die von den unter diese Verordnung fallenden Zweigen erfasst werden, im Rahmen eines für die gesamte Landbevölkerung nach den Kriterien des Anhangs I geschaffenen einheitlichen Systems der sozialen Sicherheit pflichtversichert ist;
iv) die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den unter diese Verordnung fallenden Zweigen erfasst werden, im Rahmen eines für Arbeitnehmer, für Selbstständige, für alle Einwohner eines Mitgliedstaats oder für bestimmte Gruppen von Einwohnern geschaffenen Systems der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats freiwillig versichert ist,
- wenn sie im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist oder eine selbstständige Tätigkeit ausübt oder
- wenn sie früher im Rahmen eines für Arbeitnehmer oder Selbstständige desselben Mitgliedstaats errichteten Systems gegen das gleiche Risiko pflichtversichert war;".
4.3. Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Verordnung (EWG) 1408/71
In seiner Entscheidung vom 31. 5. 1979 in der Rs 182/78, Pierik II, Slg 1979, 1977, hat der Gerichtshof (im Folgenden EuGH) ausdrücklich festgehalten, dass die in Art 1 lit a der Verordnung (EWG) 1408/71 enthaltene Definition von „allgemeiner Tragweite" ist. Demnach ist für die Qualifikation einer Person als Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung (EWG) 1408/71 deren Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer entscheidend; das Ausüben einer Erwerbstätigkeit spielt keine unmittelbare Rolle. Diese Ansicht hat der EuGH in späteren Entscheidungen bestätigt (EuGH 12. 5. 1998, Rs C-85/96 , Martinez Sala, Slg 1998, I-02691; EuGH 4. 5. 1999, Rs C-262/96 , Sürül, Slg 1999, I-02685). Nach der Entscheidung des EuGH vom 7. 6. 2005, Rs C-543/03 , Dodl und Oberhollenzer, Slg 2005, I-05049, kann eine bloße Karenzierung des Arbeitsverhältnisses für einen bestimmten Zeitraum einer Person nicht ihren Status als Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung 1408/71 nehmen. In dieser Entscheidung hat der EuGH auch festgehalten, dass das nationale Gericht zu prüfen hat, ob die betreffende Person in den Zeiträumen, für die die fragliche Leistung beantragt wurde, in einem Zweig eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer versichert und damit vom Arbeitnehmerbegriff der VO 1408/71 erfasst war.
5. Nationales Recht
Das österreichische Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) geht als Grundsatz davon aus, dass die „bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigten Dienstnehmer" in die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung („Vollversicherung") integriert sind (§ 4 Abs 1 Z 1 ASVG). Die Pflichtversicherung beginnt mit der Aufnahme der Beschäftigung (§ 10 ASVG).
In den §§ 7 und 8 ASVG werden Personengruppen genannt, die nur in einen Zweig oder zwei Zweige der Sozialversicherung integriert sind. Die Teilversicherung in der Pensionsversicherung gilt nach § 8 Abs 1 Z 2 lit g ASVG für
„Personen, die ihr Kind (§ 227a Abs. 2) in den ersten 48 Kalendermonaten nach der Geburt ... tatsächlich und überwiegend im Sinne des § 227a Abs. 4 bis 6 im Inland erziehen, wenn sie zuletzt nach diesem Bundesgesetz pensionsversichert oder noch nicht pensionsversichert waren;"
(Anmerkung: In § 227a Abs 4 - 6 ASVG wird das Merkmal der tatsächlichen und überwiegenden Erziehung näher determiniert. Das in § 8 Abs 1 Z 2 lit g ASVG angesprochene Erfordernis der Erziehung „im Inland" ist zur Vermeidung einer Diskriminierung so zu verstehen, dass auch eine Erziehung des Kindes in der Schweiz unschädlich ist.)
§ 8 Abs 1 Z 2 lit g ASVG wurde mit der 62. ASVG-Novelle („Pensionsharmonisierungsgesetz", BGBl I 2004/142) eingeführt. Die Bestimmung gilt für Personen, die nach dem 31. 12. 1954 geboren sind (§ 617 Abs 3 ASVG), und steht im Zusammenhang damit, dass die bis zum Wirksamwerden des Pensionsharmonisierungsgesetzes in der österreichischen Pensionsversicherung geltende Unterscheidung zwischen Beitragszeiten (Versicherungszeiten auf der Grundlage von Beiträgen) und Ersatzzeiten (Versicherungszeiten ohne Beitragsleistung) aufgegeben wurde. Nach dem früher anzuwendenden Recht (§ 227a ASVG) galten als Ersatzzeiten „bei einer (einem) Versicherten, die (der) ihr (sein) Kind (Abs. 2) tatsächlich und überwiegend erzogen hat, die Zeit dieser Erziehung im Inland im Ausmaß von höchstens 48 Kalendermonaten, gezählt ab der Geburt des Kindes". Diese und vergleichbare Ersatzzeiten wurden mit dem Pensionsharmonisierungsgesetz von entsprechenden Teilversicherungen in der Pensionsversicherung abgelöst: Die im Zusammenhang mit der Kindererziehung stehenden Versicherungszeiten führen zu Gutschriften im Pensionskonto. Die Beitragslast dafür wird vom Bund und von öffentlichen Fonds getragen. Ob sich diese Versicherungszeiten, die unabhängig von einem früheren oder aufrechten Arbeitsverhältnis erworben werden können, auf einen möglichen Pensionsanspruch und seine Höhe auswirken, kann erst bei Inanspruchnahme der Pension beurteilt werden.
6. Begründung der Vorlage
6.1. Zur Auslegungskompetenz des EuGH
Bei dem unter 4.1. genannten Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz handelt es sich um ein „gemischtes Abkommen", bei dem neben der Europäischen Gemeinschaft auch deren Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind. Auch gemischte Abkommen werden grundsätzlich von der Auslegungskompetenz des EuGH erfasst (EuGH 30. 9. 1987, Rs 12/86 , Demirel, Slg 1987, 3719; EuGH 22. 12. 2008, Rs C-13/08 , Stamm und Hauser; Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 6. 6. 2006 zu C-339/05 , Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols gegen Land Tirol, Slg 2006, I-7097 [Rn 28 ff]).
6.2. Zur Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer" nach der Verordnung (EWG) 1408/71
Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs sprechen einige Gründe dafür, dass die in § 8 Abs 1 Z 2 lit g ASVG vorgesehene Teilversicherung keine Integration in ein System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbstständige im Sinne der Verordnung (EWG) 1408/71 bewirkt (in diesem Sinn auch Spiegel, Familienleistungen aus der Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Mazal, Die Familie im Sozialrecht [2009] 89 [119]). Diese Teilversicherung besteht nämlich unabhängig von einer früheren oder aufrechten Erwerbstätigkeit als Unselbständiger oder Selbständiger. Ob das Arbeitsverhältnis mittels Vereinbarung zwischen der Klägerin und ihrem Arbeitgeber weiter karenziert wurde, ist für die Anrechnung von Versicherungszeiten ohne Belang, weil der Umstand der tatsächlichen und überwiegenden Kindererziehung in den ersten 48 Lebensmonaten des Kindes maßgeblich ist. Bestünde ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Aufrechtbleiben des Arbeitsverhältnisses (mit Ruhen der wechselseitigen Hauptpflichten) und dem Aufrechtbleiben der Eigenschaft als „Arbeitnehmer" im Sinne der Verordnung (EWG) 1408/71 , ist nicht erkennbar, dass es eine zeitliche Grenze für die Dauer der Karenzierung gäbe. Folgt man dem Vorbringen der beklagten Tiroler Gebietskrankenkasse, ist im konkreten Fall möglicherweise auch noch zu bedenken, dass die vereinbarte Karenzierung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin dem Weiterbezug von Kinderbetreuungsgeld diente, ohne dass die Absicht bestand, tatsächlich die Arbeit nach der Karenzierung wieder aufzunehmen (siehe Frage 1).
Allerdings deuten die Ausführungen des EuGH in der Entscheidung vom 4. 5. 1999, Rs C-262/96 , Sürül, Slg 1999, I-02685 (Rn 93) möglicherweise in eine andere Richtung. Demnach würde es für das Vorliegen der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung 1408/71 ausreichen, dass eine Person auch nur gegen ein einziges Risiko in einem System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist. Aufgrund des Umstands, dass das deutsche Recht in diesem Fall eine Regelung vorsah, wonach die Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung zugunsten von Personen, die ein Kind in den ersten drei Lebensjahren erziehen, als gezahlt gelten, hat der EuGH die Arbeitnehmereigenschaft der dortigen Klägerin bejaht.
Bei der Klägerin kommt hinzu, dass im Zeitraum der Kindererziehung, die die Teilversicherung in der Pensionsversicherung begründet, noch nicht feststeht, ob es jemals zu einer Anrechnung von Kindererziehungszeiten im österreichischen System der sozialen Sicherheit kommen wird. Geht man fiktiv davon aus, dass die Klägerin einen Pensionsantrag im Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr 883/2004 sowie der Durchführungsverordnung (EG) Nr 987/2004 stellt, würde die Klägerin in Bezug auf die Anrechnung von Kindererziehungszeiten nach Art 11 Abs 3 lit e der Verordnung (EG) Nr 883/2004 dem Recht des Wohnsitzmitgliedstaats unterliegen, hier also nicht österreichischem, sondern schweizer Recht.
6.3. Vorlagepflicht:
Die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist nicht derart offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bliebe.
Der Oberste Gerichtshof, dessen Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, ist daher gemäß Art 234 EG zur Vorlage der im Spruch dieser Entscheidung formulierten Fragen verpflichtet.
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