Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Nach den Feststellungen der Vorinstanzen bestehen bei der am 5. 2. 1929 geborenen Klägerin eine "Cerebralparese" nach einer Stammganglienblutung links mit Halbseitenlähmung rechts, ein reaktiv depressives Zustandsbild, eine partielle Harninkontinez, ein Diabetes mellitus II und ein Bluthochdruck. Die Klägerin kann sich mit einem Stock nur ein paar Schritte fortbewegen und ist im Übrigen zur Fortbewegung überwiegend auf den Rollstuhl angewiesen, den sie, wenn er motorbetrieben wird, auch selbst zur eigenständigen Lebensführung bewegen und steuern kann. Es liegt ein deutlicher Ausfall von Funktionen der rechten oberen Extremität vor, und es ist die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson erforderlich, weil eine erhebliche Sturzgefahr besteht und die Klägerin nicht in der Lage wäre, nach einem Sturz selbstständig aufzustehen. Eine dauernde Beaufsichtigung ist nicht erforderlich. Eine praktische Bewegungsunfähigkeit liegt nicht vor. Die Pflege ist in fünf koordinierten Pflegeeinheiten möglich.
Die Klägerin wohnt allein in einem Einfamilienhaus. Der Wohn- und Schlafbereich ist ebenerdig. Zum Haupteingang führt eine Treppe mit vier Stufen. Es gibt einen Kühlschrank, einen E-Herd und eine Waschmaschine, jedoch keinen Geschirrspüler. Das Bad ist mit einer Dusche, jedoch ohne Badewanne ausgestattet. Es gibt ein WC. Im Zimmer der Klägerin steht ein Leibstuhl. Das Haus wird zentral mit Holz oder Gas (Allesbrenner) beheizt. Das nächste Lebensmittelgeschäft ist ca 1 km entfernt.
Die Klägerin bedarf der fremden Hilfe für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung von Mahlzeiten, die Verrichtung der Notdurft, das An- und Auskleiden, die Reinigung bei partieller Harninkontinenz, die Einnahme von Medikamenten, die Mobilitätshilfe im engeren und im weiteren Sinn, die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie die Pflege der Leib- und Bettwäsche.
Mit Bescheid vom 18. 5. 2000 hat die beklagte Partei der Klägerin ab 1. 1. 2000 Pflegegeld der Stufe 4 gewährt.
Das Erstgericht sprach Pflegegeld der Stufe 5 zu. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, die Klägerin habe einen Pflegebedarf im Gesamtausmaß von monatlich 173 Stunden: für die tägliche Körperpflege 25 Stunden, für die Zubereitung von Mahlzeiten 30 Stunden, für die Verrichtung der Notdurft 30 Stunden, für die Hilfe beim An- und Auskleiden 20 Stunden, für die Mobilitätshilfe im engeren Sinn 15 Stunden, für die Einnahme von Medikamenten 3 Stunden und schließlich für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bedarfsgütern des täglichen Lebens, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche, die Beheizung des Wohnraums einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn insgesamt 50 Stunden. Der für die Vornahme der Betreuung und der Hilfsverrichtungen durch Dritte notwendige und dem Pflegebedarf der Klägerin entsprechende Zeitaufwand reiche für die Gewährung des Pflegegelds der Stufe 5.
Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Der in § 4a Abs 1 BPGG genannte Begriff der "Cerebralparese" sei nicht auf die infantile Cerebralparese beschränkt, wie die beklagte Partei meine.
Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsabweisung (gemeint offenbar einer Abweisung des Begehrens auf Zuspruch von Pflegegeld über die Stufe 4 hinaus) abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.
In der Revision wird zum einen der Standpunkt wiederholt, dass bei der Klägerin keine Cerebralparese im Sinne des § 4a Abs 1 BPGG vorliege. Zum anderen wird vorgebracht, dass die Lähmung der rechten oberen Extremität nicht mit dem in § 4a Abs 3 BPGG geforderten deutlichen Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten gleichzusetzen sei.
Pflegegeld der Stufe 3 erfordert einen Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich. Pflegegeld der Stufe 4 gebührt Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 160 Stunden monatlich beträgt. Pflegegeld der Stufe 5 wiederum erfordert einen Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich, wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand notwendig ist (§ 4 Abs 2 BPGG).
Bei Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und "auf Grund einer Querschnittlähmung, einer beidseitigen Beinamputation, einer Muskeldystrophie, einer Encephalitis disseminata oder einer Cerebralparese zur eigenständigen Lebensführung überwiegend auf den selbständigen Gebrauch eines Rollstuhles oder eines technisch adaptierten Rollstuhles angewiesen sind, ist mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 3 anzunehmen" (§ 4a Abs 1 BPGG). Liegt bei Personen gemäß § 4a Abs 1 BPGG eine Stuhl- oder Harninkontinenz bzw eine Blasen- oder Mastdarmlähmung vor, ist mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 4 anzunehmen (§ 4a Abs 2 BPGG). Liegt bei Personen gemäß § 4a Abs 1 ein deutlicher Ausfall von Funktionen der oberen Extremitäten vor, ist mindestens ein Pflegebedarf entsprechend der Stufe 5 anzunehmen (§ 4a Abs 3 BPGG).
Die Klägerin wäre ohne Bedachtnahme auf die in § 4a BPGG genannten diagnosebezogenen Einstufungen in die Stufe 4 einzureihen, wie auch die beklagte Partei durch die Erlassung eines entsprechenden Bescheides unwiderruflich anerkannt hat (§ 71 Abs 2 ASGG).
Zur Frage des Vorliegens einer Cerebralparese:
Der in § 4a Abs1 BPGG verwendete medizinische Begriff "Cerebralparese" wird im Gesetz nicht definiert; auch in den Gesetzesmaterialien der BPGG-Novelle 1998 (RV 1186 BlgNR XX. GP; AB 1299 BlgNR XX. GP) finden sich keine Erläuterungen des Begriffs. Pschyrembel (Klinisches Wörterbuch258) beispielsweise führt unter dem Begriff Zerebralpararese (nur) die infantile Zerebralparese an, mit dem Synonym "zerebrale Kinderlähmung" und der Erklärung: "allg. Bez. für Folgen eines frühkindlichen Hirnschadens". In Duden, Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke3 (1979) findet sich beim Begriff "Zerebralparese" die Erklärung: "Hirnlähmung" infolge Schädigung des Gehirns während der Zeit seiner Entwicklung (vor, während oder nach der Geburt), charakterisiert ua durch spastische Lähmungen, Athetose, Rigidität der Muskulatur, Ataxie, Sprachstörungen, Sehstörungen und Krampfanfälle. Diese Erläuterungen deuten darauf hin, dass der Begriff der Cerebralparese im Gegensatz zur Ansicht des Berufungsgerichts, das die Bedeutung aus einer Übersetzung der beiden Wortteile in die deutsche Sprache erschließt, aus medizinischer Sicht tatsächlich nur im Sinne einer infantilen Cerebralparese zu verstehen ist, die bei der Klägerin nicht vorliegt. Vielmehr ist bei ihr nach dem Sachverständigengutachten eine Stammganglienblutung aufgetreten, die dann zu einer Halbseitenlähmung rechts führte (AS 31). Im Rahmen seiner Gutachtenserörterung hat der Sachverständige lediglich angeführt: "Man kann also sagen, dass eine Cerebralparese vorliegt", ohne den medizinischen Begriff näher zu erläutern und die Frage mit Sicherheit zu beantworten, ob der Zustand der Klägerin tatsächlich auf eine Cerebralparese zurückzuführen ist oder ob (nur) ein Zustand gegeben ist, der von seinen Auswirkungen her einem Zustand nach Cerebralparese gleichkommt.
Diese Frage ist im fortgesetzten Verfahren zu klären.
Zum Vorliegen eines deutlichen Ausfalls der Funktionen der oberen Extremitäten:
Die in § 4a Abs 3 BPGG enthaltene Wortfolge "ein deutlicher Ausfall der Funktionen der oberen Extremitäten" wurde aus dem früheren § 8 Z 3 EinstV (idF vor BGBl II 1999/37) übernommen. Bereits zu § 8 Z 3 EinstV alt wurde judiziert, dass vom Ausfall nicht beide Extremitäten betroffen sein müssen; ausschlaggebend war vielmehr, ob der Betroffene in der Lage ist, sich selbst, also ohne fremde Hilfe, vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und umgekehrt (SZ 70/83; RIS-Justiz RS0107432). Diese Judikatur wurde nach den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage der BPGG-Novelle 1998 (RV 1186 BlgNR 20. GP, 12) dem § 4a Abs 3 BPGG zugrunde gelegt. Demnach soll eine Mindesteinstufung in Stufe 5 dann gerechtfertigt sein, wenn neben dem aktiven Gebrauch eines Rollstuhls "eine derart schwere Beeinträchtigung der oberen Extremitäten vorliegt, dass zum Transfer in und aus dem Rollstuhl die Hilfe einer anderen Person notwendig ist". Im Hinblick auf die Gesetzesintention besteht kein Anlass, von der seinerzeit zu § 8 Z 3 EinstV alt entwickelten Judikatur abzugehen (vgl zur Sehbehinderung 10 ObS 372/97x).
Den Feststellungen der Vorinstanzen ist jedoch nicht zu entnehmen, ob die Klägerin zum Transfer in und aus dem Rollstuhl der Hilfe einer anderen Person bedarf. Aus dem Befund und dem Gutachten des in erster Instanz beigezogenen Sachverständigen geht hervor, dass einmal täglich morgens eine Heimhilfe zur Klägerin (zur Hilfe beim Waschen und Anziehen) kommt. Ansonsten kommt die Schwiegertochter öfter am Tag vorbei; diese bringt auch das Essen. Alle 30 Minuten geht die Klägerin wegen ihrer partiellen Harninkontinenz auf den Leibstuhl. Im Gutachten wird eine erhebliche Sturzgefahr konstatiert und darauf hingewiesen, dass die Klägerin zur Fortbewegung überwiegend auf den Rollstuhl angewiesen ist. Laut Befund ist sie mit einem Stock im Haus einige Schritte gehfähig.
Auch aus diesen Ausführungen über die zweifellos sehr eingeschränkte Beweglichkeit kann ein Schluss, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage wäre, den Transfer in und aus dem Rollstuhl ohne Hilfe einer anderen Person vorzunehmen, nicht gezogen werden. Die Beantwortung dieser Frage bedarf nach präziserer Klärung mit Hilfe des Sachverständigen näherer Feststellungen, die im fortgesetzten Verfahren zu treffen sind, um beurteilen zu können, ob für den Fall des Vorliegens einer Cerebralparese eine diagnosebezogene Einstufung nach § 4a Abs 3 BPGG in die Pflegegeldstufe 5 vorzunehmen ist oder nicht.
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