Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Klage vom 7.5.1986 begehrte die Klägerin von der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt die Leistung einer Versehrtenrente von 30 v.H. der Vollrente nach einem Arbeitsunfall vom 4.9.1985. Mit Klage vom 10.12.1986 begehrte die Klägerin die Leistung einer Versehrtenrente von 25 v.H. auf Grund eines im November oder Dezember 1957 erlittenen Arbeitsunfalls. Diese beiden Klagen wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Im Verlauf des damaligen Verfahrens stützte die Klägerin ihr Begehren zusätzlich darauf, daß sie seit dem Jahr 1957 an einer Berufskrankheit gemäß laufender Nr. 38 der Anlage 1 zum ASVG leide.
Das Arbeits- und Sozialgericht Wien erkannte mit Urteil vom 11.4.1989 die beklagte Partei schuldig, der Klägerin aus Anlaß einer Berufskrankheit nach § 177 ASVG, Nr. 38 der Anlage 1 zum ASVG, die sich die Klägerin bei ihrer Tätigkeit als Famulantin in der chirurgischen Abteilung der Wiener Universitätsklinik im Jahr 1957 zugezogen hat, ab dem 4.9.1985 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 25 v.H. der Vollrente als Dauerrente zu gewähren. Es wurde damals folgender Sachverhalt festgestellt:
Die Klägerin war während ihres Medizinstudiums als Famulantin in der chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik zur Zeit ihres Unfalls vom Jahr 1957 und auch schon mindestens zwei Jahre vorher tätig. Aus chirurgischer Sicht bestehen keine Folgen ihrer Unfälle in den Jahren 1957 und 1985. Eine nach dem Sturz im November oder Dezember 1957 aufgetretene Kniegelenkseiterung ist aus chirurgischer Sicht nicht als Folge des Unfalls erklärbar; die heute bestehende Gonarthrose ist eine Folge der Gelenksveränderung, dadurch bestehen eine Gangbehinderung, eine Beinverkürzung und eine Bewegungseinschränkung mit Schwellneigung im Kniegelenk. Bei der Kniegelenksentzündung handelt es sich um eine berufsbedingte Infektion mit resistenten Keimen (Hospitalismus). Dieses Urteil erwuchs mangels Anfechtung in Rechtskraft.
Mit dem daraufhin erlassenen Bescheid vom 9.8.1989 stellte die beklagte Partei die Bemessungsgrundlage gemäß §§ 178, 179 Abs. 1, 181 Abs 4 ASVG iVm § 27 Abs 4 der Satzung mit S 18.706,28 fest, sprach aus, daß als Eintritt des Versicherungsfalls der 1.11.1957 gilt und daß die Rente daher ab 1.1.1986 monatlich S 1.312,30 beträgt, in den Folgejahren erhöht gemäß dem Pensionsanpassungsgesetz.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren auf Zuspruch einer höheren Versehrtenrente ab dem 4.9.1985 im gesetzlichen Ausmaß unter Zugrundelegung des Umstandes, daß der Versicherungsfall als am 1.6.1985 eingetreten gelte, soweit dieser Stichtag für die Klägerin günstiger sei als jener zum 1.11.1957.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Die Bemessungsgrundlage sei im angefochtenen Bescheid zutreffend berechnet worden, weil vom Eintritt des Versicherungsfalls im November 1957 ausgegangen werden müsse.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin auf Grund des rechtskräftigen und vollstreckbaren Urteils des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 11.4.1989 die darin zugesprochene Versehrtenrente ab dem 4.9.1985 im gesetzlichen Ausmaß "unter Zugrundelegung des Umstandes, daß der Versicherungsfall als am 1.6.1985 eingetreten ist" zu leisten. Außer dem eingangs wiedergegebenen Sachverhalt stellte das Erstgericht noch fest, daß das rentenbegründende Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit erst durch den zweiten Unfall der Klägerin am 4.9.1985 hervorgerufen wurde.
In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, daß der erste Unfall der Klägerin in der Folge zu einer Berufskrankheit geführt und der zweite Unfall das rentenbegründende Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit erbracht habe. Eine prozentuelle Aufteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in bezug auf die beiden Unfallgeschehen könne aus medizinischer Sicht nicht vorgenommen werden. Da nun der Arbeitsunfall im Jahr 1985 als das dür den Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit entscheidende Kriterium angesehen werde, müsse von § 174 Z 1 ASVG ausgegangen werden, wonach der Versicherungsfall mit dem Arbeitsunfall als eingetreten gelte. Die von der beklagten Partei vertretene Auffassung zur "Günstigkeitsregel" des § 174 Z 2 ASVG sei aus dem Gesetz nicht ableitbar. Die beklagte Partei vermeine nämlich, diese Regel solle lediglich sicherstellen, daß auch ein Versicherter, bei dem keine Krankheit im Sinne der Krankenversicherung vorliege, seinen Anspruch auf Anerkennung des Versicherungsfalles einer Berufskrankheit erfolgreich ehestmöglich durchsetzen könne. Hätte der Gesetzgeber eine solche Regelung beabsichtigt, wären die Begriffe "oder" bzw. "günstiger" in § 174 ASVG ehtbehrlich. Im übrigen ergebe diese Interpretation den kuriosen Fall einer Berufskrankheit ohne Krankheit. Die Notwendigkeit einer Krankenbehandlung iS des § 120 Z 1 ASVG bedeute nämlich nicht deren Dringlichkeit.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei teilweise Folge und änderte den Spruch des erstgerichtlichen Urteils nur insoweit ab, daß als Tag des Eintritts des Versicherungsfalles der 4.9.1985 (anstelle des 1.6.1985) zu treten habe. Die Abweisung eines Mehrbegehrens erfolgte nicht. Das Berufungsgericht führte aus, die Klägerin habe ihren zweiten Arbeitsunfall am 4.9. und nicht am 1.6.1985 erlitten. Durch diesen Unfall sei das rentenbegründende Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit hervorgerufen worden. Wenn das Erstgericht ungeachtet dieser Feststellung den Versicherungsfall als am 1.6.1985 eingetreten sah, handle es sich dabei weder um eine Aktenwidrigkeit noch um eine unrichtige Feststellung, sondern um eine unrichtige rechtliche Beurteilung, die korrigiert werden könne. Im übrigen sei die Berufung nicht berechtigt. Dafür, daß der Gesetzgeber zwei unterschiedliche Krankheitsbegriffe habe einführen wollen, biete das Gesetz keine Anhaltspunkte. Der Schluß, daß mit der Formulierung "wenn dies für den Versicherten günstiger ist" gemeint sein sollte "wenn keine Krankheit im Sinn des § 120 Abs. 1 Z 1 ASVG vorliegt", sei nicht nachvollziehbar. Viel eher sei anzunehmen, daß der Gesetzgeber des Falles gedacht habe, daß der Beginn der Berufskrankheit zeitlich nicht mit dem Eintritt einer Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenbegründenden Ausmaß zusammenfalle. In einem solchen Fall gelte daher, wenn das für den Versicherten günstiger sei, der Versicherungsfall als mit dem Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten. Schon aus diesem Grund erweise sich das Klagebegehren als gerechtfertigt. Dazu komme aber noch, daß die 1957 erworbene Berufskrankheit lediglich eine Mitursache darstelle, die Minderung der Erwerbsfähigkeit aber tatsächlich durch den Arbeitsunfall am 4.9.1985 herbeigeführt worden sei, so daß der Versicherungsfall mit diesem Datum als eingetreten gelte.
Die dagegen von der beklagten Partei erhobene Revision ist im Ergebnis im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Auszugehen ist zunächst davon, daß die Klägerin im Jahr 1957 neben ihrem Studium als medizinische Hilfskraft teilzeitbeschäftigt und nach dem ASVG voll versichert war (Klagebeantwortung ON 3 S. 2; Aktenvermerk der beklagten Partei vom 17.7.1989, Blatt 10 des Anstaltsaktes).
Gemäß § 179 Abs. 1 ASVG ist in der Unfallversicherung Bemessungsgrundlage, soweit sie nicht nach § 181 ASVG zu ermitteln ist (Bemessungsgrundlage nach festen Beträgen), die Summe der allgemeinen Beitragsgrundlagen im letzten Jahr vor dem Eintritt des Versicherungsfalles. Für die Höhe der Bemessungsgrundlage ist daher der Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalles maßgeblich. Gemäß § 174 ASVG gilt der Versicherungsfall als eingetreten 1. bei Arbeitsunfällen mit dem Unfallereignis, 2. bei Berufskrankheiten mit dem Beginn der Krankheit (§ 120 Abs. 1 Z 1) oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, mit dem Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit (§ 203). Der Gesetzgeber hielt die Präzisierung des Begriffes "Eintritt des Versicherungsfalles" wegen der Alternative bei Berufskrankheiten für notwendig und meinte, damit werde die Fassung der folgenden Bestimmungen, für die dieser Begriff von Bedeutung sei, erleichtert (RV zur Stammfassung des ASVG 599 BlgNR 7. GP 62). In ähnlicher Weise normiert § 551 Abs. 3 der deutschen RVO: "Für die Berufskrankheiten gelten die für Arbeitsunfälle maßgebenden Vorschriften entsprechend. Als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls gilt der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung, oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit". Beide Gesetze umschreiben nicht näher, was unter dem Begriff "für den Versicherten günstiger" zu verstehen ist und wann der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit angenommen werden muß. Da der Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalles nach § 174 ASVG insbesondere auch für die Berechnung der Bemessungsgrundlage von Bedeutung ist, ist der Begriff "günstiger" im Sinne von wirtschaftlich vorteilhafter zu verstehen. Das Urteil über den für den Versicherten wirtschaftlich günstigsten Zeitpunkt ist unter Berücksichtigung sämtlicher in Betracht kommender Umstände zu treffen. So sind etwa die Höhe und der Beginn der Rente, aber auch die Summe der allgemeinen Beitragsgrundlagen im letzten Jahr vor dem Eintritt des Versicherungsfalles in Betracht zu ziehen. Es ist festzustellen, welcher Zeitpunkt für den Versicherten das günstigere wirtschaftliche Gesamtergebnis in sich schließt. Eine feststehende Aussage über die für den Versicherten günstigste Regelung ist nicht möglich. Zwar wird zumeist der frühere Zeitpunkt für den Versicherten zugleich auch der günstigste sein, weil dann seine Rente früher beginnt. Der Beginn der Erwerbsunfähigkeit kommt nicht etwa nur dann in Frage, wenn er vor dem Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung liegt; es sind durchaus Fälle denkbar, in denen der Beginn der Erwerbsunfähigkeit nach dem Beginn der Krankheit liegt und trotzdem die Annahme dieses späteren Zeitpunktes für den Versicherten günstiger ist, etwa weil sich die allgemeinen Beitragsgrundlagen im letzten Jahr vorher erhöht haben. "Günstiger" für den Versicherten ist also nicht schematisch der frühestmögliche Zeitpunkt, sondern je nach Lage des Einzelfalles unter Umständen auch der spätestmögliche, nämlich wenn sich erst hierdurch ein Leistungsanspruch begründen läßt oder eine höhere Leistung in Betracht kommt (vgl. Gitter im Gesamtkommentar Sozialversicherung Band 6, 69. Teillieferung 52/11 f; Lauterbach, Unfallversicherung3 51. Lieferung 302/28; Ricke im Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht Rz 9 zu § 551 RVO; Tomandl, Leistungsrecht (1977), 77; BSGE 26, 230; ähnlich Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung 58. Nachtrag 490 r jeweils mwN).Die alternative Fassung des § 174 Z 2 ASVG ist zweifellos problematisch, weil dadurch der Versicherungsfall der Berufskrankheit im Hinblick auf Unfallheilbehandlung und Versehrtenrente unter Umständen je zu einem anderen Zeitpunkt als eingetreten "gilt", eine Fiktion, die den einheitlichen Begriff des Versicherungsfalles sprengt. Ginge man aber davon aus, daß es - gleichgültig im Hinblick auf welche Leistung - nur einen Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalls geben könne, dann drohte diese Bestimmung leerzulaufen, wenn zuerst Sachleistungen benötigt werden (Tomandl aaO).
Zum Begriff "Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit" wird in der Bundesrepublik Deutschland überwiegend die Meinung vertreten, daß nicht schon das Erreichen irgend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit generell der hiefür maßgebende Zeitpunkt ist, sondern daß es auf eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grad ankommt, also in der Regel auf eine solche von wenigstens 20 v.H. (BSGE 26, 230; Gitter aaO 52/13; Ricke aaO Rz 8; Lauterbach aaO 302/29, Brackmann aaO 490 R I jeweils mwN). Der erkennende Senat folgt dieser Ansicht schon deshalb, weil im § 174 Z 2 ASVG der § 203 ASVG in Klammer zitiert ist. Diese Verweisung auf § 203 ASVG kann aber nur den Sinn haben, daß der Gesetzgeber eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Auge hat, die über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus mindestens 20 v.H. beträgt.
Geht man von diesen Rechtsgrundsätzen aus, dann ist nicht entscheidend, daß sich die Klägerin wegen der Berufskrankheit bereits Ende 1957 in stationärer Krankenhauspflege befunden hat. Da es, wovon beide Streitteile übereinstimmend ausgehen, für die Klägerin zweifellos günstiger ist, einen späteren Eintritt des Versicherungsfalles anzunehmen, ist dieser mit dem Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Ausmaß anzunehmen. Nach den unbekämpften Feststellungen der Tatsacheninstanzen wurde dieses rentenbegründende Ausmaß der MdE erst durch den Arbeitsunfall vom 4.9.1985 hervorgerufen, wenngleich sich die Klägerin die Berufskrankheit tatsächlich bereits 1957 zugezogen hatte.
Dennoch ist die Sache nicht spruchreif. Die Vorinstanzen haben das auf Gewährung einer Geldleistung gerichtete Klagebegehren in Anwendung des § 89 Abs. 2 ASGG nur dem Grunde nach erledigt und übersehen, daß die genannte Bestimmung voraussetzt, daß ein auf eine Geldleistung gerichtetes Klagebegehren dem Grunde und der Höhe nach bestritten ist. Nur in einem solchen Fall kann das Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannt und dem Versicherungsträger bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung aufgetragen werden. Daß die beklagte Partei schuldig ist, der Klägerin ab dem 4.9.1985 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 25 v.H. der Vollrente als Dauerrente zu gewähren, wurde bereits mit dem rechtskräftigen Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 11.4.1989 ausgesprochen. Die beklagte Partei war daraufhin kraft Gesetzes verpflichtet, die endgültige Höhe der Leistung mit Bescheid festzusetzen, was sie mit dem im vorliegenden Fall angefochtenen Bescheid getan hat. Gegen diesen Bescheid konnte die Klägerin, da sie mit der festgesetzten Höhe nicht einverstanden war, neuerlich mit Klage vorgehen (Kuderna ASGG 446 f Anm. 6 und 7 zu § 89; 10 Ob S 279/90
= SSV-NF 4/116 - in Druck). Das nunmehr erhobene, auf eine Geldleistung gerichtete Klagebegehren war nur der Höhe nach bestritten, weshalb die Vorinstanzen den Rechtsstreit nicht iS des § 89 Abs. 2 ASGG erledigen durften, sondern der beklagten Partei unter Bindung an das Begehren unter allfälliger Abweisung eines Mehrbegehrens eine bestimmte monatliche Leistung (ziffernmäßig) auferlegen und dafür eine Leistungsgrist bestimmen hätten müssen. Da die für die Rentenhöhe maßgebenden Umstände bisher nicht erörtert wurden, bedarf es einer Verhandlung in erster Instanz, weshalb auch das Urteil des Erstgerichtes aufzuheben und die Rechtssache an dieses zurückzuverweisen war.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs. 1 ZPO.
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