Spruch:
Art. 8 EMRK - Kein Zugang für Sterbewilligen zu tödlich wirkendem Medikament.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).
Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).
Zurückweisung des Antrages auf Ersatz von Kosten und Auslagen als verspätet (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Die 1931 geborene Bf. möchte bereits seit längerer Zeit sterben. Laut eigener Aussage sei sie mit den Jahren immer gebrechlicher geworden und nicht mehr gewillt, die Abnahme ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten hinzunehmen. Sie könne keine langen Spaziergänge mehr unternehmen, ihr Freundeskreis habe sich zunehmend verringert und ihr Leben sei immer monotoner geworden. Nach einem missglückten Selbstmordversuch im Jahr 2005 wurde sie sechs Monate lang in einer psychiatrischen Klinik behandelt - was ihren Wunsch zu sterben jedoch nicht zu ändern vermochte.
Die Bf. wollte daraufhin ihrem Leben mit einer tödlichen Dosis des verschreibepflichtigen Präparats Natrium-Pentobarbital ein Ende setzen. Am 20.10.2008 stellte der von ihr konsultierte Psychiater Dr. T. ihr ein Attest hinsichtlich ihrer Einsichts- bzw. Urteilsfähigkeit aus. Danach lasse die psychiatrische Untersuchung keinen Zweifel daran, dass sie sich ihr eigenes Urteil bilden könne. Ihr Wunsch zu sterben sei wohlüberlegt, bestehe seit Jahren und gründe sich nicht auf eine Geisteskrankheit. Aus medizinisch-psychiatrischer Sicht habe er keine Einwände gegen eine Verschreibung von Natrium-Pentobarbital. Er selbst könne allerdings kein Rezept ausstellen, da er die Rolle von medizinischem Experten und behandelndem Arzt nicht vertauschen wolle.
Die Bf. wandte sich sodann an drei weitere Mediziner, welche die Ausstellung eines Rezepts aus beruflichen bzw. standesrechtlichen Gründen sowie wegen des Risikos von langwierigen Gerichtsprozessen verweigerten.
Am 16.12.2008 stellte die Bf. bei der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich den Antrag, ihr 15 Gramm Natrium-Pentobarbital auszuhändigen, was diese jedoch mit dem Hinweis ablehnte, weder Art. 8 EMRK noch die schweizerische Verfassung verpflichteten den Staat, einer sterbewilligen Person den Selbstmord ihrer Wahl zu ermöglichen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich wies das dagegen erhobene Rechtsmittel mit der Begründung ab, der bloße - wenngleich beharrliche - Wunsch zu sterben reiche für die Ausstellung eines Rezepts nicht aus. Auf eine eingehende ärztliche Überprüfung sämtlicher Aspekte und auf eine ärztliche Verschreibung könnte in keinem Fall verzichtet werden.
Die Bf. rief hierauf das Bundesgericht mit dem Antrag an, es möge aussprechen, dass die Verschreibung einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital an einen urteilsfähigen, körperlich wie psychisch Gesunden keine Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht darstelle.
Mit Urteil vom 12.4.2010 wies das Bundesgericht die Beschwerde mit der Begründung ab, er habe sich mit einer ähnlichen Problematik bereits im Fall Haas/CH auseinandergesetzt. Demnach treffe den Staat keine positive Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass ein Sterbewilliger Zugang zu einem für den Suizid besonders geeigneten gefährlichen Stoff erhalte, um schmerz- oder risikolos aus dem Leben scheiden zu können. Mit Blick auf die sich an die Sterbehilfe mit medizinischen Mitteln knüpfenden ethischen Fragen sei es in erster Linie am Gesetzgeber, darüber zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen er die Abgabe von Natrium-Pentobarbital zulasse. Die Bf. erfülle unstreitig nicht die Voraussetzungen der medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften vom 25.11.2004 betreffend die Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende, da sie an keiner tödlich verlaufenden Krankheit leide. Sie hege vielmehr den Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, weil sie immer älter und schwächer werde. Zwar habe das Bundesgericht im oben zitierten Fall festgestellt, dass bei einer unheilbaren, dauerhaften und schweren psychischen Beeinträchtigung eine Verschreibung von Natrium-Pentobarbital nach neueren ethischen, rechtlichen und medizinischen Stellungnahmen nicht notwendigerweise eine Verletzung der medizinischen Sorgfaltspflicht zur Folge haben müsse, dabei sei jedoch äußerste Zurückhaltung geboten. Daraus könne nicht abgeleitet werden, die Ärzteschaft oder der Staat seien gehalten, mittels Abgabe von Natrium-Pentobarbital für den von der Bf. gewünschten Tod zu sorgen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. beklagt sich, dass die Schweizer Behörden, indem sie ihr die Möglichkeit verwehrten, eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital zu bekommen, ihr Recht, über Zeitpunkt und Art ihr Todes zu entscheiden, verletzt hätten. Sie behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).
Der GH hat bereits in seinem Urteil im Fall Haas/CH anerkannt, dass das Recht einer Person zu entscheiden, wann und in welcher Form ihr Leben enden sollte - vorausgesetzt sie ist in der Lage, darüber eine freie Wahl zu treffen und entsprechend zu handeln - einen Aspekt ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK darstellt. Der Wunsch der Bf., mit einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital versorgt zu werden, um damit ihrem Leben ein Ende zu setzen, fällt folglich in das von Art. 8 EMRK geschützte Privatleben.
Im letztgenannten Urteil hat es der GH für angemessen erachtet, den Antrag des Bf., Zugang zu Natrium-Pentobarbital ohne ärztliche Verschreibung zu erlangen, unter der positiven Verpflichtung des Staates zu prüfen, Maßnahmen zu treffen, um eine würdevolle Selbsttötung zu ermöglichen. Der vorliegende Fall wirft hingegen die Frage auf, ob es der Staat verabsäumt hat, Richtlinien zur Verfügung zu stellen, in denen definiert wird, ob und - wenn ja - unter welchen Voraussetzungen es Allgemeinmedizinern gestattet ist, einer Person wie in der Situation der Bf. ein solches Rezept auszustellen.
Art. 115 des schweizerischen Strafgesetzbuchs sieht vor, dass Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord nur strafbar sind, sofern sie aus selbstsüchtigen Beweggründen erfolgten. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichts in Haas/CH darf ein Arzt Natrium-Pentobarbital lediglich unter bestimmten Bedingungen (Anm: So müssen eine gründliche ärztliche Untersuchung und eine medizinische Indikation vorliegen, ferner muss hinsichtlich der Überprüfung der Echtheit des beharrlichen Wunsches, sterben zu wollen, und des hierfür notwendigen Einsichtsvermögens eine Überwachung durch einen medizinischen Spezialisten über einen bestimmten Zeitraum hinweg erfolgen.) verschreiben, damit sein Patient seinem Leben ein Ende setzen kann.
Im gegenständlichen Fall bezog sich das Bundesgericht auf die medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften betreffend die Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Besagte Richtlinien wurden jedoch von einer Nichtregierungsorganisation verfasst und haben nicht (formale) Gesetzesqualität. Dazu kommt, dass sie nur auf Kranke Anwendung finden, bei welchen der Arzt aufgrund klinischer Anzeichen zur Überzeugung gekommen ist, dass ein Prozess begonnen hat, der erfahrungsgemäss innerhalb von Tagen oder einigen Wochen zum Tod führt. Da die Bf. nicht an einer tödlichen Krankheit leidet, fällt ihr Fall eindeutig nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinien. Die Regierung hat kein zusätzliches Material vorgelegt, in dem Prinzipien oder Standards festgelegt sind, die als Richtschnur dienen könnten, ob und unter welchen Umständen ein Arzt berechtigt ist, Personen in der Situation der Bf. ein Rezept für Natrium-Pentobarbital auszustellen. Das Fehlen klarer Richtlinien in derartigen Fällen könnte auf Mediziner, die ansonsten geneigt wären, jemandem wie der Bf. das dafür erforderliche Rezept auszustellen, einen abschreckenden Effekt haben. Tatsächlich hatten sich Dr. T. und weitere Mediziner geweigert, das Ansuchen der Bf. wegen möglicher Verletzung von Standespflichten bzw. aus Furcht vor einem langwierigen Gerichtsprozess und daraus resultierender negativer beruflicher Konsequenzen positiv zu behandeln.
Die Ungewissheit hinsichtlich des Ausgangs ihres Antrags - in einer Situation, die einen besonders bedeutsamen Aspekt ihres Lebens betraf - musste bei der Bf. beträchtliche Seelenqualen auslösen. Sie hätte sich nicht in einer Angst und Ungewissheit bezüglich des Ausmaßes ihres Rechts, ihrem Leben ein Ende zu setzen, befunden, hätte es klare, staatlich genehmigte Richtlinien gegeben, welche die Umstände definierten, unter denen es Ärzten in einer Konstellation wie der vorliegenden gestattet wäre, das gewünschte Rezept auszustellen. Der GH erkennt an, dass es Schwierigkeiten geben mag, in derartigen kontroversiellen Fragen mit unwiderlegbarer ethischer und moralischer Tragweite den notwendigen politischen Konsens zu erhalten. Derartige Schwierigkeiten sind jedoch Bestandteil jedes demokratischen Prozesses und können die staatlichen Behörden nicht von ihrer Aufgabe entbinden, auf diesem Gebiet ihrer Verantwortung aktiv nachzukommen.
Diese Überlegungen reichen aus, um darauf zu schließen, dass das schweizerische Recht, das die Möglichkeit des Erhalts einer tödlichen Dosis von Natrium-Pentobarbital gegen ärztliche Verschreibung vorsieht, nicht ausreichende Richtlinien bereithält, welche Klarheit über den Umfang dieses Rechts verschaffen. Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Raimondi und der Richterinnen Jociene und Karakas).
Hingegen hält es der GH nicht für erforderlich, über die von der Bf. aufgeworfene zentrale Frage zu entscheiden, ob jemandem wie in ihrer Situation Zugang zu der genannten Substanz hätte ermöglicht werden müssen, da es Sache des nationalen Gesetzgebers ist, in diesem Punkt umfassende und klare Regelungen zu erlassen.
Zu den weiteren gerügten Verletzungen der EMRK
Die Bf. beklagt sich über Verletzungen der Art. 6 Abs. 1, Art. 8 und Art. 13 EMRK, da die Gerichte es verabsäumt hätten, näher auf ihre Argumente einzugehen. Sie rügt ferner eine Verletzung der Art. 2 und Art. 3 EMRK.
Der GH vermag keinen Anschein einer Konventionsverletzung zu erkennen. Dieser Teil der Beschwerde ist offensichtlich unbegründet und muss daher gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Bf. stellte keinen Antrag auf Zuerkennung einer angemessenen Entschädigung. Ihr Antrag auf Ersatz der Kosten und Auslagen ist als verspätet eingebracht zurückzuweisen (einstimmig)
Vom GH zitierte Judikatur:
Pretty/GB v. 29.4.2002 = NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311
Haas/CH v. 20.1.2011 = NL 2011, 20
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.5.2013, Bsw. 67810/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 162) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_3/Gross.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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