Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Beschlagnahme von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegenden Dokumenten.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt eine ausreichende gerechte Entschädigung für den von den Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen).
Begründung
Sachverhalt:
Bei den Bf. handelt es sich um die Baufirmen Vinci Construction und GTM Génie Civil et Services. Am 3.10.2007 suchte die Generaldirektion für Wettbewerbsangelegenheiten und Betrugsbekämpfung beim zuständigen Strafrichter des Tribunal de grande instance Paris um Genehmigung zur Durchsuchung von Geschäftslokalen und Beschlagnahme relevanter Dokumente mehrerer Baufirmen, darunter jene der Bf., im Rahmen einer Untersuchung wegen des Verdachts illegaler Preisabsprachen an. Mit Beschluss vom 5.10.2007 gab der Strafrichter dem Ansuchen statt.
Die Durchsuchung der Geschäftslokale der Bf. fand am 23.10.2007 statt. Es wurden zahlreiche Dokumente und elektronische Akten sowie der gesamte E-Mail-Verkehr mancher Angestellter beschlagnahmt.
Die Bf. erhoben dagegen Einspruch beim die Hausdurchsuchung anordnenden Strafrichter des Tribunal de grande instance. Sie brachten vor, die Beschlagnahmen seien überschießend gewesen und wären beliebig erfolgt, ferner hätten zahlreiche beschlagnahmte Dokumente keine Verbindung zur Untersuchung aufgewiesen oder wären von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht umfasst gewesen. Sie beklagten sich weiters darüber, dass kein detailliertes Inventar der beschlagnahmten Dokumente angelegt worden sei und stellten abschließend einen Antrag auf Ungültigerklärung der Durchsuchung und Herausgabe der beschlagnahmten Dokumente.
Mit Beschluss vom 2. bzw. 9.9.2008 wies der Strafrichter die Begehren mit der Begründung ab, die Durchsuchungen bzw. Beschlagnahmen seien rechtmäßig, nämlich auf der Grundlage von Art. L. 450-4 Handelsgesetzbuch und Art. 56 StPO, erfolgt und hätten auch den Anforderungen der EMRK entsprochen.
Die dagegen erhobenen Rechtsmittel an den Cour de cassation blieben erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs).
Zur Verbindung der beiden Beschwerden
(28) Der GH hält es [...] für angemessen, die beiden Beschwerden in Anwendung von Art. 42 Abs. 1 VerfO [...] zu verbinden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Die Bf. rügen unter Berufung auf die Art. 6 und 13 EMRK eine Verletzung ihres Rechts auf einen effektiven Rechtsbehelf, da sie gegen den Beschluss des Strafrichters vom 5.10.2007 nicht »vollen Rekurs« erheben und die Abwicklung der Operation vom 23.10.2007 nur bei diesem hätten anfechten können. Letzterer habe somit nicht über die notwendige richterliche Unparteilichkeit verfügt.
(30) [...] Dem GH erscheint es angemessener, diesen Beschwerdepunkt lediglich unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu prüfen.
Zur Zulässigkeit
(39) Zum Beschwerdepunkt betreffend die fehlende Unparteilichkeit des Strafrichters, der über die Rechtmäßigkeit des Ablaufs der von ihm zuvor genehmigten Durchsuchung der Geschäftslokale und der Beschlagnahmen befand, ist zu sagen, dass die Bf. diesen Punkt nicht vor den Cour de cassation gebracht haben. [...]
(40) Dieser Beschwerdepunkt ist daher wegen fehlender Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs für unzulässig zu erklären (einstimmig).
(41) Der GH ist der Ansicht, dass die von der Regierung erhobene Unzulässigkeitseinrede [der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs] die ZweitBf. betreffend, was das Fehlen eines effektiven Rechtsbehelfs gegen die Genehmigung der Durchsuchung der Geschäftslokale und der Beschlagnahme von Dokumenten angeht, eng mit dem Hauptgegenstand des Beschwerdepunkts unter Art. 6 Abs. 1 EMRK verbunden ist. Er wird diesen daher anlässlich der meritorischen Prüfung der Beschwerde behandeln.
(42) Der vorliegende Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(43) Der GH hat bereits in einer Reihe von Urteilen festgehalten, dass das in Art. L. 450-4 Abs. 6 Handelsgesetzbuch vorgesehene Verfahren den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht Genüge zu tun vermochte. Er sieht keinen Grund, von dieser Feststellung im gegenständlichen Fall abzugehen.
(44) Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
(45-46) Die Bf. bringen vor, die Durchsuchung ihrer Geschäftslokale habe eine massive und wahllose Beschlagnahme von Dokumenten mit sich gebracht, von denen ein Großteil persönlicher Natur gewesen wäre und keinen Bezug zu den ihnen gemachten Vorwürfen aufgewiesen hätte. Manche Dokumente seien von der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht umfasst gewesen. Die Bf. beklagen sich ferner über eine Verletzung ihres Rechts auf einen effektiven Rechtsbehelf bzw. auf ein faires Verfahren angesichts des Fehlens eines erschöpfenden Inventars der beschlagnahmten Dokumente. Dadurch sei es ihnen unmöglich gewesen festzustellen, ob die durchgeführte Beschlagnahme mit dem Durchsuchungsbefehl übereingestimmt hätte. Schließlich rügen sie die mangelnde aufschiebende Wirkung der gegen die gerügten Maßnahmen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel. Die Bf. berufen sich hinsichtlich dieser letzten beiden Punkte auf die Art. 6 und 8 EMRK.
(47) [...] Der GH ist der Ansicht, dass die Rügen der Bf. hinsichtlich des Ablaufs der Operation einschließlich ihrer gerichtlichen Überprüfung grundsätzlich das Recht auf Achtung der Wohnung, des Privatlebens und des Briefgeheimnisses (in diesem Zusammenhang das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Klient) betreffen. Er wird diesen Beschwerdepunkt daher ausschließlich unter Art. 8 EMRK prüfen, der ja auch verfahrensrechtliche Aspekte umfasst.
Zur Zulässigkeit
(62) Diese Beschwerdepunkte sind weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie müssen daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(68) Der GH erinnert daran, dass das Vertraulichkeitsprinzip zwischen Anwalt und Klient beim Austausch von Schriftstücken [...] erhöhten Schutz genießt.
(70) Die gerügten Maßnahmen stellen einen Eingriff in die von Art. 8 EMRK garantierten Rechte der Bf. dar. [...]
(71) Besagter Eingriff war auch gesetzlich vorgesehen, wurden doch die Durchsuchung der Geschäftslokale und die Beschlagnahme von Gegenständen auf einschlägige Rechtsgrundlagen gestützt. Die Bf. beklagen sich übrigens auch nicht über Defizite im innerstaatlichen Recht, sondern stellen lediglich die Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit der strittigen Maßnahmen in Abrede.
(72) Im vorliegenden Fall bezweckte der Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung der Wohnung und des Briefgeheimnisses das Auffinden von Indizien bzw. Beweisen für die Existenz illegaler Preisabsprachen. Er verfolgte somit die legitimen Ziele der »Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Wohls des Landes« und der »Verhütung von Straftaten« iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK.
(73) Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff verhältnismäßig und zur Erreichung der genannten legitimen Ziele notwendig war.
(74) Ähnlich wie im Fall Société Canal Plus und andere/F verfolgte die von den französischen Behörden vorgenommene Durchsuchung der Geschäftslokale der Bf. das Ziel der Auffindung von Beweisen für illegale Wettbewerbspraktiken, was als solches – gemessen an den Anforderungen des Art. 8 EMRK – nicht unverhältnismäßig erscheint. Darüber hinaus sah das einschlägige innerstaatliche Verfahren eine Reihe von Garantien vor.
(75) Zu prüfen ist nun, ob diese im Fall der Bf. in konkreter und effektiver Weise angewendet wurden [...], dies vor allem in Hinblick auf die große Zahl der beschlagnahmten Dokumente und elektronischen Dateien sowie die Notwendigkeit des Schutzes der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Klient.
(76) Der GH hält ebenso wie die Regierung fest, dass sich die Untersuchungsbeamten bemüht haben, ihre Suche einzugrenzen und Beschlagnahmen nur im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Untersuchung durchzuführen. Außerdem kann er sich der Argumentation der Bf. nicht anschließen, wonach sie nicht in die Lage versetzt worden seien, die im Zuge der Operation beschlagnahmten Dokumente zu identifizieren. Vielmehr wurde ein ausreichend präzises Inventar angelegt (in dem der Name der Dateien, ihr Umfang, ihre Herkunft und ihre digitale Signatur aufschienen) und den Bf. einschließlich einer Kopie der beschlagnahmten Dokumente ausgehändigt. Es kann daher keine Rede davon sein, dass die Beschlagnahme der besagten Gegenstände »auf massive und beliebige Weise« erfolgte.
(77) Auf der anderen Seite ist festzuhalten, dass die gegenständlichen Beschlagnahmen sich auf zahlreiche elektronische Dateien erstreckten, darunter der vollständige berufliche E-Mail-Verkehr mancher Mitarbeiter. Es ist unbestritten, dass eine gewisse Zahl von Dateien und Informationen dem zwischen Anwalt und Mandanten geltenden Verschwiegenheitsprinzip unterlag. [...]
(78) Während des Ablaufs der Operation erlangten die Bf. weiters weder Kenntnis vom Inhalt der beschlagnahmten Dokumente noch konnten sie mit den Untersuchungsbeamten deren Geeignetheit als »Beschlagnahmeobjekt« diskutieren. Mit Rücksicht darauf, dass die Bf. nicht in der Lage waren, im Vorhinein gegen die Beschlagnahme von mit der Untersuchung nicht im Zusammenhang stehenden oder dem Vertraulichkeitsprinzip unterliegenden Dokumenten Einspruch zu erheben, hätte man ihnen im Nachhinein Gelegenheit zur konkreten und effektiven Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Vorgangsweise geben sollen. Ein Rechtsbehelf, wie er in Art. L. 450-4 Handelsgesetzbuch vorgesehen ist, hätte es ihnen gegebenenfalls gestattet, die Rückgabe der betreffenden Dokumente oder die Zusicherung ihrer vollständigen Löschung – im Fall von Kopien von elektronischen Dateien – zu erlangen.
(79) Der GH ist der Ansicht, dass in Fällen, in denen jemand begründet vorbringt, dass spezielle – mit der Untersuchung nicht im Zusammenhang stehende oder dem Vertraulichkeitsprinzip unterliegende – Dokumente beschlagnahmt worden seien, der mit dem Fall betraute Richter dazu aufgerufen ist, über deren weiteres Schicksal nach Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu entscheiden und – nach Lage des Falles – ihre Rückgabe anzuordnen. Im vorliegenden Fall haben die Bf. von dem genannten Rechtsbehelf Gebrauch gemacht, jedoch hat sich der zuständige Strafrichter des Tribunal de grande instance damit begnügt, die Rechtmäßigkeit der strittigen Beschlagnahmen lediglich in formaler Hinsicht zu prüfen. Es wäre von ihm allerdings die Vornahme einer konkreten Prüfung zu erwarten gewesen, war ihm doch bekannt, dass sich unter den beschlagnahmten Dokumenten auch Schriftverkehr mit Rechtsanwälten befand.
(80) Unter diesen Umständen waren die in den Geschäftslokalen der Bf. durchgeführten Beschlagnahmen nicht verhältnismäßig gegenüber dem verfolgten Ziel.
(81) Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Zupancic, gefolgt von Richter De Gaetano).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt eine ausreichende gerechte Entschädigung für den von den Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen).
Vom GH zitierte Judikatur:
Société Colas Est u.a./F v. 16.4.2002 = NL 2002, 88
André u.a./F v. 24.7.2008
Société Canal Plus und andere/F v. 21.12.2010
Robathin/A v. 3.7.2012 = NL 2012, 229 = ÖJZ 2012, 1103
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.4.2015, Bsw. 63629/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 126) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/15_2/Vinci Construction.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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