EGMR Bsw62507/12

EGMRBsw62507/1213.10.2016

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Cervenka gg. Tschechien, Urteil vom 13.10.2016, Bsw. 62507/12.

 

Spruch:

Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 5 Abs. 5 EMRK - Keine gerichtliche Überprüfung einer Unterbringung in Pflegeheim wegen Zustimmung der Sachwalterin.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden, € 8.025,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Dem Bf. wurde im Jänner 2005 vom BG Prag 4 die Geschäftsfähigkeit entzogen. Aufgrund eines Gutachtens ging das Gericht davon aus, dass der Bf. an einer Alkoholdemenz litt und nicht fähig war, selbständig rechtlich zu handeln. Der Bf. wurde im Verfahren nicht persönlich angehört, sondern durch einen Verfahrenspfleger vertreten, da er dem Gutachten zufolge nicht in der Lage war, die Bedeutung des Verfahrens zu erfassen. Aus demselben Grund sah das Gericht davon ab, ihm das Urteil zuzustellen. Im April 2009 bestellte das BG die Stadtverwaltung Prag zum Amtssachwalter.

Anfang 2011 kam es zu vermehrten Beschwerden der Nachbarn des Bf., weil sie von ihm beschimpft wurden, er im Stiegenhaus urinierte und ein übler Geruch von seiner Wohnung ausging.

Am 7.2.2011 wurde der Bf. von seiner Sachwalterin zum Pflegeheim Letiny begleitet. Sie unterzeichnete einen Vertrag über die Gewährung von stationären sozialen Dienstleistungen für unbestimmte Zeit. Daraufhin wurde der Bf. in das von einem Privatunternehmen betriebene Pflegeheim aufgenommen. Mit einem Schreiben vom selben Tag informierte die Stadtverwaltung das Pflegschaftsgericht über die Aufnahme des Bf. in dem Heim.

Der Bf. war mit seiner Unterbringung nicht einverstanden. In wiederholten Anbringen an das BG brachte er vor, gegen seinen Willen angehalten zu werden. Zudem beantragte er die Bestellung eines neuen Sachwalters. Das Gericht reagierte nicht auf diese Anträge. Im Juli 2011 unterzeichnete er eine Vollmacht für einen Rechtsanwalt, der sich an die Leitung des Pflegeheims, die Sachwalterin und verschiedene Gerichte wandte und die unverzügliche Entlassung des Bf. bzw. eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung beantragte. Diese Anträge wurden nicht behandelt, weil die Vollmacht mangels Geschäftsfähigkeit des Bf. bzw. Bestätigung durch die Sachwalterin als ungültig betrachtet wurde.

Im August 2011 wurde der Bf. zunächst in einem Krankenhaus in Pilsen operiert und danach in eine Rehabilitationsanstalt in Horaschdowitz verlegt. Am 27.9.2011 kündigte die Sachwalterin den Vertrag mit dem Pflegeheim Letiny. Am selben Tag wurde der Bf. aus der Rehabilitationsanstalt entlassen.

Im Oktober 2011 wies der Ombudsmann aufgrund eines Schreibens des Bf. darauf hin, dass im Fall der Einweisung einer Person, der die Geschäftsfähigkeit entzogen wurde, in eine medizinische Einrichtung ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Unterbringung auch dann einzuleiten sei, wenn der Sachwalter der Unterbringung zugestimmt hat.

Mit Urteil vom 10.11.2011 bestätigte das BG im Nachhinein die von der Amtssachwalterin unterzeichnete Vereinbarung über die Unterbringung des Bf. im Pflegeheim sowie die Beendigung seiner Anhaltung in diesem.

Zwei Verfassungsbeschwerden des Bf. wurden zurückgewiesen, weil dem Bf. nicht länger die Freiheit entzogen wurde bzw. weil er keine Nichtigkeitsbeschwerde gegen die Urteile erhoben hatte, mit denen seine Anträge auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anhaltung zurückgewiesen worden waren.

Im März 2012 machte der Bf. einen Amtshaftungsanspruch geltend, der vom Justizministerium abgelehnt wurde. Das daraufhin von ihm gegen die tschechische Republik angestrengte Amtshaftungsverfahren wurde vom BG Prag 2 eingestellt, nachdem die von ihm unterzeichnete Vollmacht für seine Anwälte nicht anerkannt wurde und die bestellte Amtssachwalterin erklärt hatte, sich dem Verfahren nicht anzuschließen.

Im Juni 2013 wurde ein neuer Sachwalter bestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf richterliche Haftkontrolle) und von Art. 5 Abs. 5 EMRK (Recht auf Haftentschädigung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK

(83) Der Bf. rügte, dass seine unfreiwillige Unterbringung im Pflegeheim sein Recht auf Freiheit verletzt hätte und er nicht in der Lage gewesen wäre, ein gerichtliches Verfahren anzustrengen, in dem die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung überprüft und seine Entlassung angeordnet hätte werden können. [...]

Zulässigkeit

(91) Die Einreden der Regierung [die sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und die teilweise Versäumnis der Beschwerdefrist beziehen] sind eng verknüpft mit der Berechtigung der Beschwerde und müssen daher mit deren Prüfung in der Sache verbunden werden (einstimmig).

(92) Der GH stellt fest, dass dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Wie er weiters feststellt, ist er auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Unter dem Vorbehalt der Prüfung der Frage der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und der Einhaltung der Frist von sechs Monaten erklärt er die Beschwerde für zulässig (einstimmig).

In der Sache

Art. 5 Abs. 1 EMRK

(102) Der GH hatte bereits Gelegenheit, die Unterbringung von Personen, denen die Geschäftsfähigkeit entzogen war, in Pflegeheimen zu prüfen. Er hat dabei festgestellt, dass es sich um eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK handelt.

(103) Im vorliegenden Fall war der Bf. zur gegenständlichen Zeit für vollständig geschäftsunfähig erklärt und die Regierung räumte ein, dass er das Pflegeheim während des Tages nicht ohne Begleitung oder Genehmigung durch den Psychiater verlassen konnte. Er war aufgrund einer von seiner Amtssachwalterin unterzeichneten Vereinbarung zwangsweise in dem Pflegeheim untergebracht. Auch wenn er am Tag seiner Aufnahme in dem Pflegeheim und kurz davor keinen eindeutigen Widerstand zeigte, wurde aus seinem späteren Verhalten offensichtlich, dass er seiner Unterbringung nicht zugestimmt hatte. [...] Obwohl der Bf. in einer privaten Pflegeeinrichtung untergebracht wurde, war seine Unterbringung von seiner Amtssachwalterin, der Stadtverwaltung Prag, beantragt worden, die gerichtlich bestellt worden war. Daher waren die Behörden für die gerügte Situation verantwortlich.

(104) Der GH kommt [...] zu dem Schluss, dass dem Bf. von 7.2. bis 23.11.2003 mit einer Unterbrechung von 15 Tagen iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK »die Freiheit entzogen« wurde.

(106) [...] Der GH bemerkt, dass die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Bf. von keinem innerstaatlichen Gericht überprüft wurde, was in Fällen unfreiwilliger Krankenhausaufenthalte die normale Vorgangsweise wäre. Der Grund dafür lag in der Zustimmung der Sachwalterin [...], aufgrund derer nach dem innerstaatlichen Recht angenommen wurde, der Bf. befinde sich freiwillig in dem Pflegeheim. Sowohl die materiellen Voraussetzungen für eine unfreiwillige Unterbringung [...] als auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen [...] waren nicht anwendbar. Dementsprechend könnte die Unterbringung des Bf. als rechtmäßig angesehen werden, wenn dieser Begriff im Sinne einer formellen Vereinbarkeit seiner Freiheitsentziehung mit den verfahrensrechtlichen und materiellen Anforderungen des innerstaatlichen Rechts eng ausgelegt wird.

(107) [...] Die gerichtliche Überprüfung [...] der Zustimmung eines Sachwalters zu einer Freiheitsentziehung seines Schutzbefohlenen könnte nach Ansicht des GH eine relevante Garantie gegen Willkür bieten. [...]

(108) Der GH bemerkt, dass die Aufnahme des Bf. in dem Pflegeheim völlig von der Zustimmung seiner Amtssachwalterin abhängig war, bei der es sich um eine Bedienstete der Stadtverwaltung Prag handelte. Vor seiner Aufnahme wurde er von zwei Psychiatern [...] und einem Arzt untersucht. [...] Auch wenn diese ärztlichen Untersuchungen nicht für den Zweck der Unterbringung des Bf. oder im Zusammenhang mit dieser erfolgten, stellten sie nach Ansicht des GH ausreichende objektive medizinische Expertise dar, aufgrund derer die Sachwalterin ihre Entscheidung traf.

(109) Allerdings stellt der GH fest, dass die Amtssachwalterin des Bf. zwar vor dessen Überstellung in das Pflegeheim ein formelles Gespräch führte, aus der Aufzeichnung dieser Unterhaltung aber nicht hervorgeht, dass sie ihm den wirklichen Charakter dieser Unterbringung eindeutig erklärte. Sie scheint ihn eher in dem Glauben gelassen zu haben, dass er eine ärztliche Behandlung erhalten und sich einer Rehabilitation unterziehen würde. Überdies hat die Regierung keine überzeugenden Beweise dafür vorgelegt, dass dem Bf. der Abschluss eines Pflegevertrags für unbestimmte Zeit bewusst gewesen wäre. Folglich kann der GH die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass der Bf. Zweifel hinsichtlich der Kompetenz seiner Sachwalterin hatte und diese ersetzen wollte.

(110) Unter diesen Umständen bietet ein Verfahren, das lediglich die Zustimmung der Amtssachwalterin zur Einweisung des Bf. in ein Pflegeheim verlangte, nach Ansicht des GH keine ausreichende Gewähr gegen Willkür.

(111) Wie der GH weiters feststellt, kontaktierte das Pflegeheim das [... zuständige] BG Pilsen-Süd nicht, [...] obwohl ihm bekannt wurde, dass der Bf. gegen seinen Willen angehalten wurde. Überdies erhielt das Gericht einen Antrag des Anwalts des Bf. auf Einleitung eines Verfahrens über die Rechtmäßigkeit der Aufnahme des Bf. in das Pflegeheim und seiner Anhaltung, den es aber an das Kreisgericht Pilsen abtrat. In einer mehr als drei Monate später getroffenen Entscheidung ließ das Kreisgericht die Angelegenheit offen [...] und stellte lediglich fest, dass der Anwalt nicht im Namen des Bf. handeln konnte [...].

(112) Zudem setzte das BG Prag 4 als Pflegschaftsgericht trotz der vom Bf. eingebrachten Anträge keine Maßnahmen, um die Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung zu klären. [...] Erst am 10.11.2011 und damit beinahe zweieinhalb Monate nach der Entlassung des Bf. aus dem Pflegeheim bestätigte das BG auf Initiative des Ombudsmanns im Nachhinein die Aufnahme des Bf. in dem Pflegeheim und die Beendigung seines Aufenthalts.

(113) Der GH ist auch besorgt über den sehr formalistischen Zugang des Verfassungsgerichts, das die erste Beschwerde des Bf. [...] hauptsächlich aus dem Grund zurückwies, dass der Bf. sich nicht mehr in dem Pflegeheim befand und die Rechtmäßigkeit seiner Unterbringung in der Zwischenzeit bestätigt worden war.

(114) Hinsichtlich der Frage der rechtlichen Verfahren erachtet der GH die von der Regierung in ihren Einreden wegen Nichterschöpfung [...] genannten Rechtsbehelfe nicht als effektiv im Sinne der EMRK. [...]

(115) [...] Wo sich die Beschwerde, wie im vorliegenden Fall, auf die Freiheitsentziehung einer vollständig geschäftsunfähigen Person [...] bezieht und wo klar ist, dass die Freiheitsentziehung gegen ihren Willen erfolgte, ist ein angemessener Rechtsbehelf in erster Linie einer, der geeignet ist, die andauernde Verletzung unverzüglich zu beenden, indem die Freilassung der Person angeordnet wird. [...]

(116) [...] Die zweite Verfassungsbeschwerde wurde wegen Nichterschöpfung der Rechtsmittel, nämlich einer Nichtigkeitsbeschwerde, [...] zurückgewiesen. Allerdings [...] führten die nationalen Gerichte keine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der [...] Unterbringung des Bf. [...] durch. [...] Tatsächlich geht aus dem Sachverhalt klar hervor, dass seine Amtssachwalterin systematisch allen von ihm angestrebten verfahrensrechtlichen Maßnahmen widersprach.

(117) Der GH stellt fest, dass das BG am 3.6.2013 einen neuen Sachwalter für den Bf. bestellte. Allerdings scheinen jegliche Verfahrensschritte, die der Sachwalter setzen hätte können, um die Rechtmäßigkeit der Unterbringung des Bf. überprüfen zu lassen, rein theoretisch und spekulativ zu sein, da er erst eineinhalb Jahre nachdem das Gericht im Nachhinein die Aufnahme des Bf. in das Pflegeheim und die Beendigung seines Aufenthalts bestätigt hatte, bestellt wurde.

(118) Vor diesem Hintergrund hätte nach Ansicht des GH keiner der von der Regierung vorgeschlagenen Rechtsbehelfe in der gebotenen Zeit direkten Zugang des Bf. zu einem Gericht sicherstellen können, das über die Rechtmäßigkeit seiner Unterbringung in dem Pflegeheim entschieden hätte.

(119) Außerdem wäre jede rechtliche Handlung, einschließlich einer Nichtigkeitsklage, die zu einer Aufhebung des Urteils des BG Prag 4 vom 10.11.2011 geführt hätte, nur für das Entschädigungsverfahren relevant gewesen. Dieses hätte aber als rein kompensatorischer Rechtsbehelf keinen angemessenen Schutz hinsichtlich der Beschwerde des Bf. geboten. [...]

(120) Angesichts dieser Überlegungen verwirft der GH die Einrede der Regierung betreffend die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe (einstimmig).

(121) [...] Es war nicht von Vornherein klar, dass die Verfassungsbeschwerden im Fall des Bf. ineffektiv wären. [...] Der GH kann dem Bf. nicht vorwerfen, versucht zu haben, sie auszuschöpfen.

(123) Angesichts dieser Überlegungen ist der GH der Ansicht, dass die Freiheitsentziehung des Bf. nicht durch Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt war.

(124) Es hat folglich eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Art. 5 Abs. 4 EMRK

(133) [...] Die Anhaltung des Bf. dauerte mehr als sechs Monate, was nicht als zu kurze Zeitspanne für die Einleitung einer gerichtlichen Überprüfung betrachtet werden kann. Folglich ist Art. 5 Abs. 4 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar.

(134) Der GH stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht ermächtigt waren, hinsichtlich der Unterbringung des Bf. in dem Pflegeheim zu intervenieren, weil wegen der Zustimmung seiner Sachwalterin angenommen wurde, er würde sich dort freiwillig aufhalten. Die Regierung wies auf keinen anderen für den Bf. verfügbaren angemessenen Rechtsbehelf hin, der zu seiner Entlassung geführt hätte.

(135) Der GH schließt daher darauf, dass es kein Verfahren gab, in dem über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Bf. entschieden und seine Entlassung angeordnet hätte werden können. [...]

(136) Folglich verwirft der GH die Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und stellt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK fest (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK

(137) Der Bf. brachte vor, er hätte nach dem innerstaatlichen Recht kein durchsetzbares Recht auf eine Entschädigung für seine unrechtmäßige Freiheitsentziehung gehabt. [...]

Zulässigkeit

(138) Die Regierung behauptete [...], dass ein Schadenersatzverfahren gegen den Staat [...] anhängig sei und die Beschwerde daher wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig wäre.

(139) In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 29.10.2015 brachte die Regierung vor, der Bf. hätte, als er nur teilweise geschäftsunfähig war, ein Entschädigungsverfahren [...] ohne Vertretung durch seine Sachwalterin anstrengen können. [...]

(140) Der GH stellt fest, dass das Schadenersatzverfahren am 11.7.2013 endete. Daher weist er diesen Teil der Einrede der Regierung zurück. Der GH findet weiters, dass der verbleibende Teil der Einrede der Regierung [...] mit der Behandlung der Beschwerde in der Sache verbunden werden muss (einstimmig).

(141) Der GH stellt fest, dass dieser Teil der Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] ist. Er ist auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Unter Vorbehalt der Prüfung der Frage der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe erklärt er die Beschwerde für zulässig (einstimmig).

In der Sache

(147) Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass Art. 5 Abs. 5 EMRK angesichts seiner Feststellung einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK anwendbar ist. Er muss sich daher vergewissern, ob der Bf. vor dem vorliegenden Urteil auf der innerstaatlichen Ebene ein durchsetzbares Recht auf Schadenersatz hatte oder ob er nach Erlass dieses Urteils ein solches Recht haben wird. [...]

(148) Der Bf. war [...] mit seiner Klage nach dem Amtshaftungsgesetz nicht erfolgreich. Das BG akzeptierte die von ihm erteilte Vollmacht des Anwalts nicht, weil er für geschäftsunfähig erklärt war und sich sein Sachwalter ad litem – die Stadtverwaltung Prag – der Klage nicht angeschlossen hatte.

(149) Wie der GH weiters feststellt, sehen die §§ 7 und 8 des Amtshaftungsgesetzes eine Entschädigung für Schäden vor, die aus einer rechtswidrigen gerichtlichen Entscheidung resultierten. Dies war aber hier nicht der Fall: die tschechischen Gerichte hatten die Maßnahme als rechtmäßig erachtet. Zudem argumentierte die Regierung damit, dass die Unterbringung des Bf. im Pflegeheim dem innerstaatlichen Recht entsprochen hat. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass der Bf. nach den genannten Bestimmungen ohne Anerkennung der Rechtswidrigkeit der Unterbringung durch die innerstaatlichen Instanzen keine Entschädigung geltend machen konnte.

(150) Die Behauptung der Regierung, der neue Sachwalter [...] hätte dem Schadenersatzverfahren beitreten können und müssen [...], überzeugt den GH nicht. [...]

(153) Wie er bereits festgestellt hat, kann der GH die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass die Art der Anwendung der relevanten Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes den Bf. davon ausschloss, – vor oder nach den Feststellungen des GH im vorliegenden Urteil – eine Entschädigung für die in Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgte Freiheitsentziehung zu erhalten. Von den tschechischen Gerichten, die die Entschädigungsklage des Bf. aus im Wesentlichen formalen Gründen zurückwiesen, wurde das innerstaatliche Recht nicht im Geiste des Art. 5 EMRK ausgelegt und angewendet. Der GH verwirft folglich diesen Teil der sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beziehenden Einrede der Regierung (einstimmig).

(154) Der Bf. hatte daher kein durchsetzbares Recht auf eine Entschädigung, wie dies von Art. 5 Abs. 5 EMRK verlangt wird. Folglich hat eine Verletzung von [Art. 5 Abs. 5 EMRK] stattgefunden (einstimmig).

Zu den weiteren behaupteten Verletzungen

(160) [...] Mit den Verfassungsbeschwerden des Bf. wurden nur die Fragen der Freiheitsentziehung gebührend geltend gemacht. [...]

(161) Dieser Teil der Beschwerde muss daher [... als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden; € 8.025,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Shtukaturov/RUS v. 27.3.2008 (GK) = NL 2008, 79

Stanev/BG v. 17.1.2012 (GK) = NLMR 2012, 23

Bureš/CZ v. 18.10.2012

Sýkora/CZ v. 22.11.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.10.2016, Bsw. 62507/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2016, 416) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_5/Cervenka.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte