EGMR Bsw62198/11

EGMRBsw62198/1115.1.2015

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Kuppinger gg. Deutschland, Urteil vom 15.1.2015, Bsw. 62198/11.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK - Mangelnde Durchsetzung von Umgangsrechten.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden, € 6.436,53– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. ist Vater eines am 21.12.2003 unehelich geborenen Sohnes. Kurz nach der Geburt verweigerte die Mutter dem Bf. jeden Kontakt zu diesem. Am 19.5.2005 beantragte der Bf. beim AG Frankfurt am Main die Regelung des Umgangsrechts. Mit einstweiliger Anordnung vom 22.5.2007 ordnete das AG begleiteten wöchentlichen Kontakt zwischen dem Bf. und seinem Sohn an. Am 21.12.2009 setzte das AG den Umgang des Bf. für ein Jahr aus. Diese Entscheidung wurde am 22.3.2010 hinsichtlich des Rechts des Kindesvaters abgeändert, Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes zu erlangen. Der GH stellte mit Urteil vom 21.4.2011 (Kuppinger/D) eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Länge dieses Verfahrens, das von 19.5.2005 bis 22.3.2010 gedauert hatte, fest.

Am 30.12.2009 legte der Bf. beim OLG Frankfurt Beschwerde gegen den Beschluss des AG vom 21.12.2009 ein. Am 12.5.2010 ordnete das OLG mit einstweiliger Anordnung sechs zum Teil begleitete Umgangstermine an, die zwischen Mai und August 2010 stattfinden sollten. Der Mutter wurde ein Ordnungsgeld bei Zuwiderhandeln angedroht. Nachdem einige der Termine gar nicht zustande gekommen und andere vorzeitig abgebrochen worden waren, beantragte der Bf. am 21.7. und am 11.8.2010 die Verhängung eines Ordnungsgelds gegen die Mutter. Mit Entscheidung vom 12.11.2010 verhängte das AG ein Ordnungsgeld in Höhe von € 300,–.

Die dagegen von beiden Parteien erhobenen Beschwerden wurden abgewiesen. Das Ordnungsgeld wurde von der Mutter bis 1.6.2011 in Raten bezahlt.

Im Hauptverfahren hob das OLG Frankfurt am Main die Entscheidung des AG vom 21.12.2009 am 1.9.2010 auf und gewährte dem Bf. ein Umgangsrecht. Das OLG bestellte einen Umgangspfleger zur Begleitung der Kontakte. Am 2.10.2010 teilte der Umgangspfleger dem OLG mit, dass der Bf. unkooperativ sei und kein Interesse am Wohlergehen des Kindes zeigen würde. Unter diesen Umständen könne der Kontakt nicht wie geplant stattfinden. Der Bf. beantragte daraufhin am 15.11.2010, den Umgangspfleger seiner Pflichten zu entheben. Nachdem es sich als außerordentlich schwierig erwies, einen neuen Umgangspfleger zu finden, stellte das AG am 29.6.2011 fest, dass die Funktion des Umgangspflegers mit 21.3.2011 geendet hatte.

Am 11.2.2011 leitete das AG von Amts wegen ein neues Umgangsverfahren ein, um die bestehende Regelung zu überprüfen. Nach wiederholten Ablehnungsanträgen gegen den Richter und einen Gutachter entschied das AG Frankfurt am Main am 12.11.2013, das Umgangsrecht des Bf. bis 31.10.2015 auszusetzen, weil der Kontakt dem Kindeswohl abträglich sei. Diese Entscheidung wurde am 17.9.2014 vom OLG Frankfurt am Main bestätigt. Gestützt auf ein Gutachten war das OLG der Ansicht, persönliche Kontakte gegen den Willen des inzwischen elf Jahre alten Kindes würden dessen psychischer Entwicklung schaden und sollten daher vorübergehend ausgesetzt werden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Umfang der Beschwerde

(87) [...] Der Bf. brachte vor, die innerstaatlichen Gerichte hätten es verabsäumt, in dem am 19.5.2005 angestrengten Verfahren sein Umgangsrecht umzusetzen.

(91) Der GH stellt fest, dass in seinem Urteil vom 21.4.2011 die auf Art. 6 und Art. 8 EMRK gestützten Rügen des Bf. über die Dauer des Verfahrens von 19.5.2005 bis 22.3.2010 geprüft wurden. Der GH entschied, dass die Beschwerde ausschließlich nach Art. 6 EMRK zu prüfen sei. Der GH erinnert daran, dass eine Beschwerde durch die in ihr behaupteten Fakten charakterisiert wird und nicht durch die rechtlichen Argumente, auf die sie sich stützt. Daraus folgt, dass die Beschwerde über die Führung des Umgangsverfahrens bis zum 22.3.2010 im Wesentlichen dieselbe Angelegenheit betrifft, die vom GH im genannten Urteil bereits geprüft wurde.

(92) Daraus folgt, dass die Beschwerde über das Verfahren zwischen 19.5.2005 und 22.3.2010 als unzulässig zurückzuweisen ist, da sie im Wesentlichen mit einer schon vorher vom GH geprüften Beschwerde übereinstimmt. Der GH ist nur zuständig, das Verfahren nach diesem Zeitpunkt zu prüfen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(93) Bezüglich des Verfahrens, welches nach dem 22.3.2010 stattfand, rügt der Bf., dass die innerstaatlichen Gerichte es verabsäumt hätten, sein Umgangsrecht mit seinem Sohn durchzusetzen [...].

(95) Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).

Vollstreckung der einstweiligen Anordnung vom 12.5.2010

(100) [...] In Bezug auf die Verpflichtung des Staates, positive Maßnahmen zu setzen, hat der GH festgestellt, dass Art. 8 EMRK das Recht der Eltern beinhaltet, dass Maßnahmen ergriffen werden, um sie mit ihren Kindern wieder zu vereinen, und die damit verbundene Verpflichtung der nationalen Behörden, diese Zusammenführungen zu erleichtern.

(101) In Fällen der Durchsetzung von Entscheidungen im Bereich des Familienrechts hat der GH wiederholt festgestellt, dass entscheidend ist, ob die nationalen Behörden alle erforderlichen Schritte zur Erleichterung der Vollstreckung gesetzt haben, die unter den Umständen des Einzelfalls vernünftigerweise verlangt werden können.

(102) In diesem Zusammenhang ist die Angemessenheit einer Maßnahme anhand der Raschheit der Umsetzung zu beurteilen, da der Lauf der Zeit unheilbare Folgen für die Beziehung zwischen dem Kind und den Eltern haben kann.

(104) Hinsichtlich der Umstände des vorliegenden Falles stellt der GH fest, dass das OLG Frankfurt am Main dem Bf. am 12.5.2010 das Recht einräumte, seinen Sohn zu sechs bestimmten Terminen zwischen Mai und August 2010 für jeweils drei Stunden zu sehen. [...] Am 12.11.2010 verhängte das AG ein Ordnungsgeld in der Höhe von € 300,– gegen die Mutter, da sie sechs Mal gegen die Entscheidung über das Umgangsrecht verstoßen hatte. Obwohl die Mutter diesen Betrag im Juni 2011 beglich, fand keiner der angesetzten begleiteten Umgangstermine statt.

(105) [...] Der GH stellt fest, dass die Entscheidung des AG keine Informationen über die finanzielle Situation der Mutter enthält. Dennoch kann der GH nicht umhin zu beobachten, dass das Ordnungsgeld von insgesamt € 300,– eher gering erscheint, da die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen die Verhängung einer Geldbuße von bis zu € 25.000,– für jeden Fall eines Verstoßes erlauben. Es ist daher zweifelhaft, ob vernünftigerweise erwartet werden konnte, dass diese Sanktion eine Zwangswirkung auf die Mutter des Kindes haben würde, die beharrlich den Kontakt zwischen dem Bf. und seinem Sohn verhinderte. Der GH nimmt die Begründung des AG zur Kenntnis, wonach die persönliche Verantwortlichkeit der Mutter, obwohl sie für das Misslingen des Umgangs verantwortlich war, eher gering gewesen wäre, weil die Anforderungen an ihre Erziehungsfähigkeit hoch waren und sie gezwungen war, nicht nur ihren eigenen Standpunkt binnen weniger Wochen zu überdenken, sondern auch die gefestigten Verhaltensmuster des Kindes zu ändern.

(106) Der GH stellt in diesem Kontext fest, dass die Parteien sich bereits 2005 über begleiteten Umgang einigten und das AG einen solchen Umgang am 22.5.2007 anordnete. Angesichts der Tatsache, dass der Mutter in diesem früheren Verfahren ihre allgemeine Verpflichtung bewusst gemacht worden sein muss, den Kontakt zwischen dem Bf. und seinem Sohn zu erlauben, ist die Begründung des AG schwer nachzuvollziehen, die Mutter hätte ihren Standpunkt »binnen weniger Wochen« überdenken müssen. [...]

(107) Auch wenn es möglich ist, dass härtere Sanktionen die allgemeine Haltung der Mutter in Bezug auf die Umgangsrechte des Bf. nicht geändert hätten, befreit dies die innerstaatlichen Gerichte nicht von ihrer Verpflichtung, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um den Kontakt erleichtern. [...]

(108) Im Hinblick auf die Raschheit des Vollstreckungsverfahrens stellt der GH fest, dass das Verfahren mehr als zehn Monate anhängig war [...]. Das AG entschied nicht gleich über den ersten Antrag des Bf., sondern wartete auf die Stellungnahmen zu den folgenden Anträgen, bevor es eine Entscheidung traf. Angesichts der besonderen Dringlichkeit der Angelegenheit ist der GH nicht davon überzeugt, dass diese Verbindung, die eine Verzögerung von mehreren Wochen verursachte, der Effizienz des Verfahrens gedient hat. Darüber hinaus trat eine Verzögerung von etwa einem Monat auf, als das AG die Rücksendung des Hauptakts durch das OLG abwartete, obwohl das Hauptverfahren vor diesem Gericht schon sechs Wochen vorher beendet worden war. Daraus folgt, dass diese Verzögerung durch einen schnelleren Versand des Hauptakts vermieden hätte werden können.

(109) Unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falles, einschließlich der verstrichenen Zeit, des Kindeswohls, der Kriterien seiner eigenen Rechtsprechung und des Vorbringens der Parteien, stellt der GH fest, dass die deutschen Gerichte es verabsäumt haben, angemessene und wirksame Maßnahmen zur Vollstreckung der Umgangsentscheidung vom 12.5.2010 zu ergreifen.

(110) Dementsprechend hat eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Vollstreckung der Entscheidung vom 1.9.2010

(111) Nach Ansicht des Bf. scheiterte die Umsetzung des begleiteten Umgangs am unangemessenen und unprofessionellen Verhalten des Umgangspflegers. Das Verfahren zu dessen Abberufung sei ineffizient gewesen und habe unverhältnismäßig lange gedauert. [...]

(117) Das Verfahren zur Abberufung des Umgangspflegers begann am 15.11.2010 mit dem Antrag des Bf. und endete am 29.6.2011 mit der Feststellung des AG, dass der begleitete Umgang am 21.3.2011 geendet habe. Es dauerte somit sieben Monate und zwei Wochen. Wie der GH feststellt, konnte nach dem geltenden Recht ein Umgangspfleger nur abberufen werden, wenn zugleich ein neuer bestellt wurde. Das AG unternahm erhebliche Bemühungen, um einen neuen Umgangspfleger zu finden, die jedoch vergeblich waren. [...]

(118) In Anbetracht dieser Überlegungen kann der GH nicht feststellen, dass die Führung des Verfahrens [...] die Rechte des Bf. unter Art. 8 EMRK verletzt hätte.

Verfahren zur Überprüfung der Umgangsregelung

(121) Das Verfahren zur Überprüfung der Umgangsregelung wurde vom AG am 11.2.2011 von Amts wegen eingeleitet und endete vor diesem Gericht am 12.11.2013. Das Berufungsverfahren wurde mit Entscheidung des OLG Frankfurt am Main am 17.9.2014 beendet. Damit dauerte das Verfahren zwei Jahre und neun Monate vor dem Gericht erster Instanz und rund zehn Monate vor dem OLG. Der Bf. brachte zwei Ablehnungsanträge wegen Befangenheit des Richters des AG ein und die gegnerische Partei einen. Jeder davon verursachte eine Verzögerung von einigen Wochen. Eine weitere Verzögerung von beinahe fünf Monaten wurde durch die Ablehnung des Sachverständigen durch den Bf. verursacht. [...] Verhandlungen wurden zweimal auf Antrag des Bf. vertagt, der schließlich angab, nicht vor Gericht erscheinen zu können. [...]

(122) Angesichts dieser Tatsachen kann der GH nicht feststellen, dass die Dauer des Verfahrens vor den Familiengerichten, auch wenn sie erheblich war, durch einen Mangel besonderer Sorgfalt seitens der Gerichte verursacht wurde. Insbesondere kann die behauptete Unfähigkeit des Bf., an den Verhandlungen teilzunehmen, nicht den Familiengerichten angelastet werden. Der GH gelangt zu dem Schluss, dass es die Familiengerichte hinsichtlich des am 11.2.2011 eingeleiteten Verfahrens nicht verabsäumt haben, dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 8 EMRK zu entsprechen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(123) Der Bf. rügt auch die Dauer der Gerichtsverfahren über das Umgangsrecht [...].

(124) Der Bf. hätte nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren einen Anspruch auf eine Entschädigung geltend machen können, hat dies aber nicht getan. [...]

(126) Der Bf. hatte Zugang zu einer Entschädigungsklage, die nach den Übergangsbestimmungen des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren mit dessen Inkraftreten am 3.12.2011 zur Verfügung stand. Der GH hat bereits früher festgestellt, dass dieses Gesetz grundsätzlich in der Lage ist, angemessene Entschädigung für die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zu gewähren und dass von einem Bf. erwartet werden kann, von diesem Rechtsmittel Gebrauch zu machen, selbst wenn es erst nach Erhebung der Beschwerde an den GH verfügbar wurde. Der Bf. brachte nach Ansicht des GH keinen Grund vor, der die Schlussfolgerung erlauben würde, dass eine Entschädigungsklage keine vernünftigen Aussichten auf Erfolg gehabt hätte [...].

(127) Dieser Teil der Beschwerde muss wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 8 EMRK

(130) Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).

(137) [...] In Verfahren, deren Länge einen klaren Einfluss auf das Familienleben des Bf. hat, [...] sind die Staaten verpflichtet, einen geeigneten Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, der zur gleichen Zeit vorbeugend und entschädigend wirkt. [...]

(138) Zum vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass das umstrittene Verfahren das Umgangsrecht des Bf. mit seinem kleinen Kind betrifft. Damit ist klar, dass der Fall unter die Kategorie von Verfahren fällt, die Gefahr laufen, durch ihre Dauer vorentschieden zu werden. Nach den oben genannten Grundsätzen muss damit geprüft werden, ob das deutsche Recht zu der betreffenden Zeit einen Rechtsbehelf gegen die Verfahrensdauer vorsah, welcher nicht nur monetäre Entschädigung bot, sondern auch wirksam war, um das Verfahren vor den Familiengerichten zu beschleunigen.

(139) Im Hinblick auf die Wirksamkeit des durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingeführten Rechtsbehelfs stellt der GH fest, dass dieser Rechtsbehelf erst im Dezember 2011 verfügbar wurde und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem das Verfahren bereits eineinhalb Jahre dauerte und eine Beschwerde vor dem GH anhängig war. Der Bf. entschied sich, keinen Gebrauch von der durch die Übergangsbestimmung vorgesehenen Möglichkeit zu machen, eine finanzielle Entschädigung zu beantragen. Der GH erinnert daran, dass er bereits festgestellt hat, dass keine Gründe für die Annahme vorlagen, der neue Rechtsbehelf würde einem Bf. keine Gelegenheit zur Erlangung angemessener und ausreichender Wiedergutmachung für seine Nachteile gewähren. Er hat allerdings die Frage nicht geprüft, ob das Gesetz auch als wirksame Möglichkeit zur Beschleunigung des Verfahrens angesehen werden kann, wenn das Recht auf Achtung des Familienlebens ansonsten illusorisch zu werden droht.

(140) Im Hinblick auf die Warnfunktion, die der Verzögerungsrüge von der belangten Regierung zugeschrieben wird, akzeptiert der GH, dass eine solche Rüge im Einzelfall das Gericht zur Beschleunigung des Verfahrens ermutigen kann. Er stellt jedoch fest, dass das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren keine andere Sanktion an das Versäumnis knüpft, eine Verzögerungsrüge zu befolgen, als die Möglichkeit einer Entschädigungsklage. Der GH ist ferner nicht davon überzeugt, dass die Möglichkeit einer Entschädigungsklage eine ausreichende beschleunigende Wirkung auf anhängige Verfahren bezüglich der Umgangsrechte mit Kleinkindern darstellt, wenn dies notwendig ist, um eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens zu verhindern.

(141) Im Lichte dieser Erwägungen ist der GH nicht davon überzeugt, dass die durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingeführten Regelungen den speziellen Anforderungen an einen Rechtsbehelf entsprechen, der dazu gedacht ist, den positiven Verpflichtungen des Staates nach Art. 8 EMRK in Verfahren über das Umgangsrecht eines Elternteils mit seinem jungen Kind zu genügen.

(142) Der GH ist der Auffassung, dass die Untätigkeitsbeschwerde, die keine gesetzliche Grundlage im innerstaatlichen Recht hatte, aber von mehreren OLG vor Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren anerkannt wurde, angesichts der Unsicherheit ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen und ihrer praktischen Effekte auf das konkrete Verfahren nicht als wirksamer Rechtsbehelf gegen die überlange Dauer eines Zivilverfahrens angesehen werden kann. [...]

(143) Der GH stellt schließlich fest, dass die Regierung in einem anderen Kontext § 155 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, der die Familiengerichte verpflichtet, Umgangsverfahren vorrangig und rasch zu erledigen, als bloße Empfehlung bezeichnet hat. [...] In Ermangelung einer gesetzlichen Sanktion für die Nichtbefolgung kann diese Vorschrift nicht als wirksamer präventiver Rechtsbehelf gegen die übermäßige Dauer eines Umgangsverfahrens angesehen werden.

(144) Der Bf. hatte somit keinen wirksamen Rechtsbehelf iSv. Art. 13 EMRK, der das Verfahren über sein Umgangsrecht beschleunigen hätte können.

(145) Dementsprechend hat eine Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden; € 6.436,53 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Hokkanen/FIN v. 23.9.1994 = NL 1994, 333 = ÖJZ 1995, 271

Ignaccolo-Zenide/RO v. 25.1.2000

Nuutinen/FIN v. 27.6.2000 = NL 2000, 138

Sylvester/A v. 24.4.2003 = NL 2003, 89 = ÖJZ 2004, 113

Kuppinger/D v. 21.4.2011

Taron/D v. 29.5.2012 (ZE) = NL 2012, 154 = EuGRZ 2012, 514

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.1.2015, Bsw. 62198/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 39) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_1/kuppinger.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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