Spruch:
Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 11 EMRK - Festnahme von Garri Kasparov am Weg zu Oppositionskundgebung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 11 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Der Bf. hat keine Entschädigung beantragt.
Begründung:
Sachverhalt:
Am 18.5.2007 wollte der Bf. Garri Kasparov zusammen mit anderen Aktivisten nach Samara fliegen, um an einer Kundgebung der Opposition anlässlich des EU-Russland-Gipfels teilzunehmen.
Laut dem Bf. beschlagnahmte der Polizist A. bei der Identitätskontrolle seinen Pass und sein Ticket. Danach sei er angewiesen worden, dem Polizisten zu folgen und auf die Polizeistation im zweiten Stock des Flughafengebäudes gebracht worden. Um 11:20 Uhr seien der Bf. und fünf seiner Begleiter weiters angewiesen worden, im zweiten Stock des Flughafengebäudes zu bleiben und es sei ihnen mitgeteilt worden, dass sie befragt werden würden, wie sie ihre gefälschten Tickets gekauft hätten. Um 12:20 Uhr sei der Bf. dazu befragt worden. Während der Zeit auf der Polizeistation sei es ihm untersagt worden, diese zu verlassen, wobei ihn ein am Eingang postierter, bewaffneter Beamter daran gehindert hätte. Er sei bis 13:30 Uhr auf der Station gewesen. Zum Beweis seiner Darstellung legte er drei Dokumente vor: eine Kopie des Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokolls, einen Bericht des vernehmenden Beamten und eine von ihm und seinen Begleitern am Flughafen aufgesetzte handgeschriebene Erklärung.
Die Regierung schilderte die Ereignisse wie folgt: es seien bei den Behörden Informationen aufgetaucht, wonach für den betreffenden Flug gefälschte Tickets verkauft worden seien. Am 18.5.2007 seien 20 Tickets entdeckt worden, die Spuren von Fälschungen enthielten. Diese seien beschlagnahmt und einer forensischen Untersuchung unterzogen worden (die in 13 Fällen eine Fälschung festgestellt hätte) und die betroffenen Passagiere seien am Betreten des Flugzeugs gehindert worden. Die Behauptung des Bf., wonach sein Pass ebenfalls beschlagnahmt worden sei, könne durch die Aufzeichnungen ebensowenig bestätigt werden wie jene, dass er von 8:30 bis 13:30 Uhr vernommen worden sei.
Der Bf. wandte sich wegen seiner angeblich rechtswidrigen Festnahme durch die Polizei an die Staatsanwaltschaft und verlangte, die Beamten zur Verantwortung zu ziehen. Am 28.6.2007 entschied die Staatsanwaltschaft, kein Strafverfahren gegen die Polizeibeamten einzuleiten, da sie innerhalb ihrer Befugnisse und aus hinreichenden Gründen gehandelt hätten.
Der Bf. focht diese Ablehnungsentscheidung der Staatsanwaltschaft beim Moskauer Bezirksgericht an, das die Beschwerde allerdings abwies.
Die Kassationsbeschwerde des Bf. gegen diese Entscheidung wurde vom Moskauer Stadtgericht am 20.8.2007 abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Rechtmäßigkeit der Haft) durch seine Verhaftung und Anhaltung am Flughafen von Sheremetyevo. Er rügte weiters Verletzungen von Art. 5 Abs. 2 (Recht auf Information) und Abs. 4 (Recht auf richterliche Haftkontrolle) EMRK. Darüber hinaus beschwerte er sich insbesondere über eine Verletzung von Art. 11 EMRK (hier: Versammlungsfreiheit), da er durch seine Verhaftung und Anhaltung nicht an der Oppositionsversammlung in Samara teilnehmen hätte können, und über eine Verletzung von Art. 18 EMRK (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) sowie von Art. 2 4. Prot. EMRK (Recht auf Freizügigkeit).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
Zulässigkeit
(30) Der GH vertritt die Ansicht, dass die Frage, ob der Bf. seiner Freiheit beraubt wurde und ob Art. 5 Abs. 1 EMRK folglich Anwendung findet, in enger Beziehung zur Begründetheit seiner Beschwerde steht. Daher verbindet der GH diese Vorfrage mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig). Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde nicht aus anderen Gründen unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).
In der Sache
(34) […] Bei der Untersuchung der Beschwerde des Bf. hinsichtlich des Art. 5 Abs. 1 EMRK ist es für den GH wichtig, auf zwei Sachen einzugehen: erstens, ob dem Bf. aufgrund der Umstände des Falles seine Freiheit entzogen wurde, und bejahendenfalls zweitens, ob diese Entziehung mit Art. 5 Abs. 1 EMRK kompatibel ist.
Wurde dem Bf. die Freiheit entzogen?
(37) Unter Anwendung der […] Grundsätze [aus seiner Rechtsprechung] auf den Fall des Bf. obliegt es in erster Linie diesem, einen schlüssigen Anscheinsbeweis dafür zu erbringen, dass er am Tag des Geschehens unter der ausschließlichen Kontrolle der Behörden war.
(38) Bei der Prüfung, ob der Bf. dies getan hat, stellt der GH fest, dass die Regierung seine Kernaussage nicht in Zweifel gezogen hat: sie hat nämlich nicht bestritten, dass, als der Bf. […] für den Flug nach Samara einchecken wollte, der Polizeibeamte A. eingegriffen, sein Ticket beschlagnahmt und ihn […] aufgefordert hat, den Check-in-Bereich mit ihm zu verlassen. Die Regierung hat des Weiteren nicht bestritten, dass der Bf. nachher von den Polizeibeamten auf der Polizeistation am Flughafen befragt wurde. Obwohl die Regierung geltend macht, dass der Bf. nicht isoliert wurde und den Raum immer verlassen konnte, hat sie auch die Anwesenheit eines bewaffneten Wachmanns am Eingang der Polizeistation nicht bestritten. Die einzigen Tatsachen, die sie ausdrücklich bestreitet, sind, dass der Pass des Bf. beschlagnahmt und Letzterer bis 13:30 Uhr befragt wurde.
(39) Die Darstellung der Ereignisse des Bf. ist schon an sich glaubwürdig. Die drei vom Bf. vorgelegten Dokumente bestätigen seine Version. Diese zeitnahen Aufzeichnungen stellen überzeugende Beweise dafür dar, was tatsächlich an diesem Tag am Moskauer Flughafen geschah. Es handelt sich dabei um besonders starke bestätigende Beweise, da der Bf. in bzw. auf allen Dokumenten sorgfältig die relevanten Zeiten protokollierte: die Notiz, die er auf dem Durchsuchungsprotokoll machte und die festhielt, dass sein Ticket um 8:30 Uhr vormittags beschlagnahmt wurde; auf dem Bericht hielt er fest, dass er ab dann unrechtmäßig angehalten worden sei; und in der handgeschriebenen Erklärung notierten er und seine fünf Begleiter, dass die Polizisten ihnen um 11:20 Uhr kategorisch untersagt hätten, den zweiten Stock des Flughafengebäudes zu verlassen. In bzw. auf allen drei Dokumenten vermerkte er außerdem die Zeiten, wann er die Notizen machte […]. Es ist aus diesen Notizen leicht ersichtlich, dass er sich als festgenommen erachtete: er erklärt das ausdrücklich auf dem [...] Bericht und in der handgeschriebenen Erklärung. Die handgeschriebene Erklärung hielt schließlich fest, dass nicht nur die Tickets der Gruppe beschlagnahmt wurden, sondern auch ihre Reisepässe.
(40) Aus diesen Gründen stellt die Version des Geschehensablaufs des Bf. zumindest einen glaubwürdigen prima facie-Beweis dafür dar, dass er ab dem Moment, als er den Check-in-Bereich mit der Polizei verließ, bis zu seiner Entlassung um 13:30 Uhr unter deren ausschließlicher Kontrolle stand.
(41) Hierbei handelt es sich deshalb im Einklang mit dem Urteil Creanga/RO um einen Fall, wo sich die Beweislast auf die Regierung verlagern muss und es somit richtig ist, von ihr einen detaillierten stundenweisen Bericht darüber zu verlangen, was auf der Polizeistation am Flughafen geschah, und von ihr zu verlangen, für die Zeit, die der Bf. dort verbrachte, Rechenschaft abzulegen. Dementsprechend ist die Regierung dazu verpflichtet, überzeugende schriftliche Beweise zu erbringen, um ihre Version der Ereignisse zu unterstützen.
(42) Die Regierung hat [aber] gar keinen schriftlichen Beweis vorgelegt, um ihre Version zu bekräftigen. […]
(43) Unter Anwendung des Ansatzes im Fall Creanga/RO hat der GH aus dem Säumnis einer Regierung, Aufzeichnungen vorzulegen, konsequent nachteilige Rückschlüsse gezogen. […]
(44) Der vorliegende Fall ist nicht anders. Mangels jeglicher schriftlicher Beweise seitens der Regierung, die die Version des Geschehensablaufs des Bf. wiederlegen, akzeptiert der GH daher die Darstellung des Bf. Bezüglich zweier Punkte im Bericht des Bf., die die Regierung ausdrücklich bestreitet, nämlich die Beschlagnahme des Reisepasses und die Dauer der Befragung, stellt der GH fest, dass der Bericht des Bf. glaubwürdiger ist. Zum ersten Punkt: es ist eine logische Schlussfolgerung, dass wenn das Ticket beschlagnahmt wurde, die Polizei auch den Reisepass beschlagnahmte – wenn auch nur, um die Informationen auf dem Reisepass mit den Passagierdaten auf dem Ticket zu vergleichen. Zum zweiten Punkt sieht der GH, wenn die Regierung es versäumte, irgendwelche Aufzeichnungen vorzulegen oder zumindest anzugeben, wann die Befragung endete, wenn nicht um 13:30 Uhr, keinen Grund, dem Bf. nicht zu glauben.
(45) Zusammenfassend akzeptiert der GH deshalb, dass der Bf., als er um 8:30 Uhr einzuchecken versuchte, von einem Polizeibeamten gebeten wurde, mit ihm den Check-in-Bereich zu verlassen; er wurde in einen separaten Raum am Flughafen gebracht; sein Ticket und sein Reisepass wurden beschlagnahmt; er wurde in diesem Raum bis 13:30 Uhr festgehalten, während er befragt und durchsucht wurde; währenddessen stand ein bewaffneter Wachmann an der Tür und verhinderte ein Verlassen des Raumes. Der Bf. befand sich daher von 8:30 bis 13:30 Uhr unter der Kontrolle der Polizei.
(46) Auf der Grundlage dieser Fakten gelangt der GH zur Auffassung, dass dem Bf. iSd. Art. 5 Abs. 1 EMRK seine Freiheit entzogen wurde. Die folgenden vier Fakten sind entscheidend. Erstens hatte der Bf. kaum eine andere Wahl, als dem Polizeibeamten aus dem Check-in-Bereich zu folgen; hätte er sich geweigert, hätte er eine scheinbar rechtmäßige polizeiliche Anordnung missachtet. Zweitens war es für ihn nicht möglich, den Raum, in dem er befragt wurde, zu verlassen, auch wenn er nicht physisch festgehalten wurde – der bewaffnete Wachmann an der Tür hinderte ihn daran. Drittens ist die Behauptung der Regierung kein Argument, wonach der Bf. nicht angehalten wurde, weil er nicht verhaftet worden sei: […] die Charakterisierung oder Nichtcharakterisierung einer tatsächlichen Situation durch einen Staat kann den Schluss des GH im Hinblick auf eine Freiheitsentziehung nicht entscheidend beeinflussen. Viertens muss die Freiheitsentziehung des Bf. aufgrund ihrer Natur vom Fall Gahramanov/AZ unterschieden werden, wo die Anhaltung des Bf. auf einem Flughafen während einer Routinegrenzkontrolle zur Klärung seiner Situation nicht als Freiheitsentziehung eingestuft wurde, insbesondere weil seine Haft nicht die strikt zu diesem Zweck notwendige Zeit überschritt. Im Fall von Herrn Kasparov ging die Polizei über die schlichte Klärung der Lage bezüglich seines Tickets hinaus und begann vorgeblich, die Straftat der Fälschung zu untersuchen, indem sie ihn befragte, durchsuchte und einen Bericht darüber erstellte. Seine Anhaltung ging somit weit über die Zeit hinaus, die man benötigte, um die üblichen Reiseformalitäten am Flughafen zu prüfen. Deshalb lag hier im Gegensatz zum Fall Gahramanov/AZ keine übliche Situation vor, die jeder, der an einem Flughafen durchreist, für die Zwecke des Gemeinwohls erwarten kann dulden zu müssen.
(47) Aus den oben dargelegten Gründen stellt der GH fest, dass der Bf. eine Freiheitsentziehung erlitt.
Stand die Freiheitsentziehung des Bf. im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 EMRK?
(49) Art. 5 Abs. 1 EMRK bietet eine taxative Aufzählung von Ausnahmen, wann in das Recht auf persönliche Freiheit eingegriffen werden kann und nur eine enge Interpretation dieser Ausnahmen kann dem Zweck dieser Bestimmung dienen sicherzustellen, dass niemand einer willkürlichen Freiheitsentziehung unterworfen wird.
(51) Der einzige Grund [für die Freiheitsentziehung des Bf. unter Art. 5 Abs. 1 EMRK] wäre jener in lit. c: rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Vorführung des Bf. vor die zuständige Gerichtsbehörde aufgrund des hinreichenden Verdachts der Begehung einer Straftat oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, ihn an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern.
(52) »Hinreichender Verdacht« bedeutet, dass Fakten oder Informationen vorliegen, die einen objektiven Beobachter überzeugen würden, dass die betroffene Person eine Straftat begangen haben kann. Die beklagte Regierung muss zumindest gewisse Fakten oder Informationen zur Verfügung stellen, die den GH überzeugen können, dass die festgenommene Person begründet verdächtigt war, die behauptete Straftat begangen zu haben.
(53) Wie bereits ausgeführt, hat die Regierung gar keine schriftlichen Beweise vorgelegt, um ihre Version des Geschehensablaufs zu unterstützen. Sie hat es beispielsweise versäumt, eine Kopie des forensischen Gutachtens vorzulegen, das angeblich Spuren von Fälschungen an den […] beschlagnahmten Tickets entdeckte. Deshalb liegt für den GH kein Beweis vor, der ihn überzeugen könnte, dass überhaupt irgendeine Fälschung begangen wurde, und noch weniger dafür, dass es einen begründeten Verdacht dafür gab, dass der Bf. an einer solchen teilnahm.
(54) Das Vorbringen der Regierung, dass dies der Grund war, warum der Bf. zur Befragung angehalten wurde, wird in der Tat wesentlich durch die widersprüchlichen Beweise im innerstaatlichen Verfahren untergraben. […] Auch wenn der GH die Aussage des Leiters der operativen Untersuchungsstelle der allgemeinen Luftfahrt des Innenministeriums akzeptieren würde, [der sagt, dass die Polizei anlässlich des EU-Russland-Gipfels in Samara Maßnahmen setzte, um Personen mit extremistischem Hintergrund zu identifizieren und in diesem Zusammenhang die angeblich gefälschten Tickets entdeckt worden seien], [… ] hat der GH bereits festgestellt, dass die Festnahme von zum Gipfel in Samara Reisenden aufgrund der unklaren Bezugnahme auf »Straftaten mit extremistischem Hintergrund« für die Zwecke des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK nicht ausreichend war (siehe den Fall Shimovolos/RUS). […] So kommt der GH zum Schluss, dass der Bf. nicht aufgrund eines hinreichenden Verdachts iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK, eine Straftat begangen zu haben, oder um ihn an der Begehung einer solchen zu hindern, festgenommen und verhaftet wurde.
(55) In jedem Fall stellt der GH fest, dass die Behörden den Freiheitsentzug nicht offiziell anerkannten und die erforderlichen Formalitäten für die Festnahme einer Person nicht einhielten. Er wiederholt, dass eine nicht aufgezeichnete Freiheitsentziehung mangels jeglicher nachvollziehbarer Erklärung seitens der Regierung dafür für sich ausreichend ist, um eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK festzustellen.
(56) Daraus folgt, dass die Festnahme und die Haft des Bf. keinen rechtmäßigen Zweck nach Art. 5 Abs. 1 EMRK verfolgten. Sie waren daher nicht rechtmäßig gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c und stellen somit eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK dar (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 2 und Abs. 4 EMRK
(57) Der Bf. beklagte auch, dass er entgegen Art. 5 Abs. 2 EMRK nicht unverzüglich über die Gründe seiner Festnahme und die Beschuldigungen ihm gegenüber informiert worden sei und dass es ihm nicht möglich gewesen wäre, ein Verfahren einzuleiten, um die Rechtmäßigkeit seiner Festnahme anzufechten.
(59) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerden mit der oben unter Art. 5 Abs. 1 EMRK untersuchten verbunden sind und daher gleichfalls für zulässig erklärt werden müssen (einstimmig). Allerdings entscheidet der GH unter Berücksichtigung seiner Feststellungen zu Art. 5 Abs. 1 EMRK, dass es nicht notwendig ist, diese Beschwerden zu prüfen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK
(60) Der Bf. behauptet des Weiteren, dass seine Festnahme und seine Haft am 18.5.2007 ihn daran gehindert hätten, an der oppositionellen Kundgebung […] an diesem Tag in Samara teilzunehmen. [...]
(62) Der GH stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet […] und nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
(67) […] Die Festnahme und die Haft des Bf. sowie die Beschlagnahme seines Reisepasses und seines Tickets machten es ihm unmöglich, an diesem Tag [nach Samara] zu fliegen. Nachdem ihm der Zugang zum Flug nach Samara verweigert worden war, war es für ihn unmöglich, es so kurzfristig auf andere Weise rechtzeitig nach Samara zu schaffen. Seine Festnahme und Haft hinderte ihn daran, an der Kundgebung teilzunehmen. Somit lag hier ein Eingriff in sein Recht auf Versammlungsfreiheit vor.
(69) Der GH hat bereits festgestellt, dass die Festnahme und die Haft des Bf. nicht rechtmäßig iSd. Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK waren. Da das Erfordernis des Art. 11 Abs. 2 EMRK, dass ein Eingriff in die Ausübung der Versammlungsfreiheit »gesetzlich vorgesehen« sein muss, dem unter Art. 5 Abs. 1 EMRK ähnlich ist, dass eine Freiheitsentziehung »rechtmäßig« sein muss, waren die Verhaftung und Haft des Bf. nicht nach Art. 11 Abs. 2 EMRK »gesetzlich vorgesehen«. […] Es erfolgte daher eine Verletzung des Art. 11 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 18 EMRK
(70) Der Bf. rügte, dass seine Festnahme und seine Haft den Zweck verfolgten, sein Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit auszuhöhlen.
(72) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde mit den Rügen unter Art. 5 und Art. 11 EMRK verbunden ist und daher gleichfalls für zulässig erklärt werden muss (einstimmig).
(73) Der GH hat bereits festgestellt, dass der Bf. willkürlich und rechtswidrig festgenommen und angehalten wurde und ihn dies daran hinderte, an der Kundgebung der Opposition teilzunehmen.
(74) Angesichts des Vorgesagten stellt der GH fest, dass es nicht notwendig ist zu untersuchen, ob in diesem Fall eine Verletzung des Art. 18 EMRK erfolgt ist (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richterin Keller).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK
(75) […] Der GH erachtet, dass auch diese Beschwerde zulässig ist (einstimmig), jedoch ist es unter Berücksichtigung der Ausführungen zu Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht notwendig, sie zu untersuchen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Der Bf. hat keine Entschädigung beantragt.
Vom GH zitierte Judikatur:
Fox, Campbell und Hartley/GB v. 30.8.1990
Shimovolos/RUS v. 21.6.2011
Creanga/RO v. 23.2.2012 (GK)
El-Masri/MK v. 13.12.2012 (GK) = NLMR 2012, 405
Gahramanov/AZ v. 15.10.2013 (ZE) = NLMR 2013, 397
Iustin Robertino Micu/RO v. 13.1.2015
Lykova/RUS v. 22.12.2015
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.10.2016, Bsw. 53659/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2016, 412) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_5/Kasparov.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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