Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK - Unzuständigkeitserklärung der Gerichte für Schadenersatzklage gegen tunesischen Innenminister wegen Folter.
Zulässigkeit der Beschwerde (16:1 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (15:2 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist tunesischer Staatsangehöriger. Seinen Angaben zufolge wurde er im April 1992 von der italienischen Polizei verhaftet und nach Tunis überstellt. Auf Geheiß des Innenministers A. K. sei er dann fünf Wochen lang im Innenministerium festgehalten und gefoltert worden. Nach seiner Freilassung am 1.6.1992 verließ der Bf. Tunesien in Richtung Schweiz, wo ihm am 8.11.1995 politisches Asyl gewährt wurde.
Am 14.2.2001 erfuhr der Bf., dass sich A. K. gerade in der Schweiz einem chirurgischen Eingriff unterzog, woraufhin er beim Generalanwalt des Kantons Genf Strafanzeige gegen ihn wegen schwerer Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch erstattete. Ferner beantragte er die Zuerkennung von Privatbeteiligtenstatus. Der Generalanwalt stellte das Verfahren jedoch ein, da A. K. die Schweiz mittlerweile verlassen hatte.
2004 wandte sich der Bf. mit einer gegen A. K. und die Republik Tunesien gerichteten Schadenersatzklage an das BG Genf. Er brachte vor, dass die in den Art. 82 ff. des tunesischen »Gesetzes über die Verpflichtungen und Verträge« für die Zuerkennung immateriellen Schadenersatzes vorgesehenen Voraussetzungen, welche in der Schweiz kraft Art. 133 Abs. 2 des Bundesgesetzes über das internationale Privatrecht aus 1987 (Anm: Diese Bestimmung lautet: »Haben Schädiger und Geschädigter ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im gleichen Staat, so ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem die unerlaubte Handlung begangen worden ist.«) (im Folgenden: IPRG) anwendbar seien, gegeben wären.
Mit Urteil vom 15.9.2005 erklärte das BG Genf die Schadenersatzklage des Bf. gemäß den Art. 2 und 129 IPRG wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit für unzulässig. Es befand, dass die Schweizer Gerichte wegen fehlenden Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts des Beklagten in der Schweiz und wegen Nichtsetzung von illegalen bzw. schadensbegründenden Handlungen auf Schweizerischem Hoheitsgebiet nicht zuständig seien, über den Rechtsstreit zu entscheiden. Im vorliegenden Fall sei mangels ausreichenden Zusammenhangs der Streitsache mit der Schweiz auch keine Notzuständigkeit iSd. Art. 3 IPRG (Anm: Danach sind, sofern dieses Gesetz keine Zuständigkeit in der Schweiz vorsieht und ein Verfahren im Ausland unmöglich oder nicht zumutbar ist, die schweizerischen Gerichte oder Behörden an dem Ort zuständig, mit dem der Sachverhalt einen genügenden Zusammenhang aufweist.) gegeben.
Die dagegen erhobenen Rechtsmittel des Bf. an das Kantonsgericht Genf und an das Bundesgericht blieben erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht), da sich die Schweizer Gerichte für die meritorische Behandlung seiner Schadenersatzklage wegen angeblich in Tunesien erlittener Folter für unzuständig erklärt hätten.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Natur und Reichweite des vorliegenden Streits
(96) Der GH hält es für angebracht, vorerst zu klären, um welchen Streit es hier geht und was genau auf dem Spiel steht. Er erinnert daran, dass der Bf. behauptet, gefoltert worden zu sein, und dass ihm die Schweizer Behörden Asyl aufgrund erlittener Verfolgung in seinem Heimatland gewährten. Falls sich die seinem Asylantrag zugrunde liegenden Fakten als wahr erweisen sollten, wären diese als besonders schwerwiegend einzustufen.
(97) In diesem Zusammenhang möchte der GH zunächst auf den breiten internationalen Konsens hinsichtlich der Anerkennung eines Rechts von Folteropfern hinweisen, angemessene und effektive Wiedergutmachung zu erlangen. Während die bindende Wirkung eines solchen Rechts für Staaten bezüglich auf dem Territorium des Forumstaates oder von Personen innerhalb seiner Jurisdiktion begangener Folterhandlungen kaum zweifelhaft ist, gilt dasselbe nicht für Handlungen, die von Drittstaaten oder Personen innerhalb von deren Zuständigkeitsbereich begangen wurden. Es ist nun aber genau die letztere Kategorie, welche im gegenständlichen Fall das Problem darstellt. [...]
(98) Der GH erachtet es auch für nützlich, [...] folgende vier Aspekte zu klären. Erstens [...] ließ die Kammer angesichts der Tatsache, dass das Bundesgericht von Anfang an seine örtliche Zuständigkeit zur Behandlung der Beschwerde des Bf. verneint hatte, die Frage offen, ob die Beklagten im strittigen Gerichtsverfahren Immunität von der Schweizer Gerichtsbarkeit genossen [...] (vgl. Rn. 106 des Kammerurteils).
(99) Der GH vermerkt, dass dieser Ansatz der internationalen Praxis in diesem Bereich entspricht. [...] Es ist daher nicht notwendig, die Frage der möglichen Immunität von der [Schweizer] Gerichtsbarkeit zu prüfen.
(100) Zweitens ist hinsichtlich der Kritik des Bf. an den Strafverfolgungsbehörden, wonach sie es im Hinblick auf [die Ergreifung von] A. K. an Sorgfalt mangeln lassen hätten (diese Kritik wird von den Autoren der im Annex des Kammerurteils abgedruckten abweichenden Sondervoten geteilt), zu sagen, dass der Bf. seine Strafanzeige am 14.2.2001 erstattete und der Generalanwalt noch am selben Tag dem Leiter der Sicherheitspolizei via E-Mail ein Ersuchen übermittelte, »zu versuchen, den Beschuldigten, der angeblich in der Universitätsklinik Genf zwecks Vornahme einer Herzoperation weilt, ausfindig zu machen und zu identifizieren« und »falls möglich, ihn festzunehmen und ihn dem Untersuchungsrichter vorzuführen.« Nach Erhalt des Ersuchens kontaktierte die Polizei unverzüglich das Hospital, welches bestätigte, dass A. K. dort tatsächlich Patient gewesen war, die Klinik jedoch am 11.2.2011 verlassen hätte und dann abgereist wäre. Der Bf. hat die Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft nicht angefochten. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass er den Schweizer Strafverfolgungsbehörden keinen Vorwurf der Nachlässigkeit machen kann, was die Behandlung der Strafanzeige des Bf. angeht. Die GK wird daher diesen Aspekt bei der Beurteilung der Befolgung von Art. 6 EMRK nicht in Erwägung ziehen.
(101) Drittens möchte der GH betonen, dass der Bf. anlässlich der Verhandlung am 14.6.2017 bestätigt hat, der [tunesischen] »Truth and Dignity Commission« (TDC) (Anm: Sie wurde von der Tunesischen Republik nach dem Fall des Regimes (Jänner 2011) eingerichtet, um dessen Opfern finanzielle Wiedergutmachung und Rehabilitation zu verschaffen.) einen Antrag übermittelt und im Februar 2016 eine formelle Eingangsbestätigung, sonst aber keine weiteren Nachrichten von ihr erhalten zu haben. [...] Der GH ist der Auffassung, dass die Möglichkeit einer Beschwerde an die TDC, eventuell gefolgt von einem gerichtlichen Verfahren [...], für die Prüfung des vorliegenden Falls nicht relevant ist.
(102) Was viertens die Tatsache angeht, dass der Bf. niemals ein Verfahren in Italien angestrengt hat, ob nun gegen die tunesischen Behörden hinsichtlich der erlittenen Folter oder gegen die italienischen Behörden wegen der Festnahme und Übergabe an die tunesischen Behörden am 22.4.1992, ist seitens des GH festzuhalten, dass er den Parteien vor der Verhandlung am 14.7.2017 eine spezielle Frage zu dieser Angelegenheit gestellt hat, ohne darauf jedoch eine eindeutige Antwort erhalten zu haben. Er erinnert daran, dass das Bundesgericht die Frage offen gelassen hat, ob die zweite Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 3 IPRG erfüllt war, nämlich dass eine Klage im Ausland unmöglich sei oder aus vernünftigen Gründen nicht angestrebt werden konnte [vgl. Rn. 111 des Kammerurteils]. Folglich und in Ermangelung von mehr Informationen zu diesem Thema bleibt der Ausgang eines solchen Verfahrens einschließlich der Frage der Zuständigkeit der italienischen Gerichte spekulativ. Unter diesen Umständen vermag der GH über diese Frage nicht zu entscheiden.
Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK
(103) In ihrem Vorbringen vor der Kammer bezog sich die Regierung in erster Linie auf das Urteil des EGMR im Fall Al-Adsani/GB. [...] Ihrer Ansicht nach würde das Schweizer Recht nicht dazu berechtigen, eine Schadenersatzklage hinsichtlich von Folterhandlungen einzubringen, ohne dass eine Verbindung zur Schweizer Gerichtsbarkeit bestünde. Art. 6 Abs. 1 EMRK sei daher auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
(104) Die Kammer wies dieses Vorbringen zurück (vgl. Rn. 85 des Kammerurteils) [...].
(105) Die GK vermerkt, dass die Regierung ihr Vorbringen im Straßburger Verfahren nicht erneuert bzw. die Ansicht der Kammer zu diesem Punkt nicht bestritten hat. Sie hält es dennoch für nützlich, folgende Beobachtungen hinzuzufügen.
(107) Im vorliegenden Fall bestehen für den GH keine Zweifel über die Existenz eines »echten und ernsthaften« Streits, wie er von seiner Rechtsprechung gefordert wird. Die Tatsache, dass der belangte Staat das Bestehen eines Rechts von Folteropfern auf Erhalt einer Entschädigung nicht wirklich bestreitet, sondern eher dessen extraterritoriale Anwendung, ist dabei unerheblich [...].
(108) Der GH ist auch der Ansicht, dass sich der Bf. auf ein solches Recht berufen kann, von dem man zumindest aus vertretbaren Gründen sagen kann, dass es vom Schweizer Recht anerkannt wird. Zusätzlich zu Art. 41 des Bundesgesetzes betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) [...], welcher das allgemeine Prinzip der Haftung für unerlaubte Handlungen festlegt, nimmt der GH Bezug auf die einschlägigen Elemente des Völkerrechts (Anm: Vgl. den Annex »Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von groben Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auf Rechtsschutz und Wiedergutmachung« zur Resolution 60/147 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 16.12.2005 und die Resolution des Instituts für Internationales Recht vom 30.8.2015 zur universellen Zivilgerichtsbarkeit hinsichtlich der Wiedergutmachung für internationale Verbrechen.), insbesondere auf Art. 14 UN-Antifolterkonvention. Letzterer garantiert ein im allgemeinen Völkerrecht solide eingebettetes Recht von Opfern von Folterhandlungen auf Wiedergutmachung und gerechte und angemessene Entschädigung. Mit der Ratifikation dieses Instruments am 2.12.1986 durch die Schweiz wurden seine Bestimmungen integraler Bestandteil der Schweizer Rechtsordnung und damit die nationalen Behörden verpflichtet, sie zu befolgen.
(109) Was nun die Frage angeht, ob die Vertragsparteien dieses Instruments verpflichtet sind, dieses Recht sogar hinsichtlich von Folterhandlungen zu garantieren, die von ausländischen Amtsträgern außerhalb ihres Territoriums getätigt wurden (so die Auffassung des Bf.), findet der GH, dass diese die meritorische Würdigung des gegenständlichen Falls betrifft [...].
(110) Der GH schließt daraus, dass das Recht von Opfern von Folterhandlungen auf den Erhalt von Schadenersatz im Schweizer Recht heutzutage anerkannt wird. Ferner steht unter den Parteien außer Streit, dass es sich bei diesem Anspruch um einen zivilrechtlichen handelt.
(111) Angesichts des Vorgesagten ist festzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auf den vorliegenden Fall anwendbar ist (16:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek).
In der Sache
(117) Es versteht sich, dass das Recht des Bf. auf Zugang zu einem Gericht von den Schweizer Gerichten insofern eingeschränkt wurde, als diese erklärten, für seine Schadenersatzklage nicht zuständig zu sein. Der GH muss daher prüfen, ob diese Einschränkung ein legitimes Ziel verfolgte und – wenn ja – ob es gegenüber dem verfolgten Ziel in einem angemessenen Verhältnis stand.
Verfolgte die Einschränkung ein legitimes Ziel?
(122) [...] Die GK erkennt verschiedene [legitime Ziele], welche alle mit den Prinzipien einer ordnungsgemäßen Justizverwaltung und der Wahrung der Effektivität von internen Entscheidungen der Gerichte verbunden sind.
(123) Zuerst ist kaum zweifelhaft, dass ein Klagsvorbringen wie das vom Bf. geäußerte – nämlich dass er 1992 in Tunis der Folter unterworfen worden sei – die Schweizer Gerichte vor beträchtliche Probleme gestellt hätte, was die Sammlung und Bewertung von Beweisen anbelangt.
(124) Dazu kommt, dass der Vollzug eines der Klage stattgebenden Urteils sich in der Praxis als schwierig erwiesen hätte (vgl. Rn. 107 des Kammerurteils). [...]
(125) Ferner scheint es aus Sicht des Staates legitim, Personen von der Wahl des für sie günstigsten Gerichtsstandes (»Forum shopping«) abzuhalten – und zwar insbesondere in einem Kontext, wo die den Gerichten zugeteilten Ressourcen beschränkt sind.
(126) Darüber hinaus hält der GH die von der Regierung geäußerte Sorge für gerechtfertigt, wonach die Zulässigerklärung einer Klage wie jener des Bf., bei der ein Zusammenhang mit der Schweiz zum relevanten Zeitpunkt relativ schwach war, wahrscheinlich ähnliche Klagen anderer Opfer in derselben Situation nach sich ziehen würde. Dies hätte eine exzessive Arbeitslast für die Schweizer Gerichte zur Folge. [...]
(127) Schließlich möchte die GK ergänzend anmerken, dass ein Staat nicht die potentiellen diplomatischen Schwierigkeiten ignorieren darf, die bei der Anerkennung einer Zivilgerichtsbarkeit unter den vom Bf. vorgeschlagenen Bedingungen auftreten würden.
(128) Mit Rücksicht auf die vorhergehenden Erwägungen kommt der GH zu dem Ergebnis, dass die Einschränkung des Rechts des Bf. auf Zugang zu einem Gericht die oben dargelegten legitimen Ziele verfolgte. [...]
War die Einschränkung verhältnismäßig?
Das relevante Völkerrecht und der daraus resultierende Ermessensspielraum
(176) Wie auch die Kammer macht der GH zwei Völkerrechtskonzepte aus, die für den vorliegenden Fall relevant sind, nämlich zum einen die Notzuständigkeit, zum anderen die Universalkompetenz. [...]
(178) Der GH ist der Ansicht, dass die universelle Gerichtsbarkeit in strafrechtlichen Angelegenheiten von den Staaten – anders als im Bereich des Zivilrechts – relativ weitgehend akzeptiert wird. [...] Dies wird durch die Tatsache belegt, dass Art. 5 Abs. 2 UN-Antifolterkonvention (Anm: Diese Bestimmung lautet: »Ebenso trifft jeder Vertragsstaat die notwendigen Maßnahmen, um seine Gerichtsbarkeit über diese Straftaten für den Fall zu begründen, dass der Verdächtige sich in einem der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates unterstehenden Gebiet befindet und er ihn nicht nach Artikel 8 an einen der in Absatz 1 des vorliegenden Artikels bezeichneten Staaten ausliefert.«) eindeutig eine Universalkompetenz auf strafrechtlichem Gebiet vorsieht. Anderes ist für Art. 14 (Anm: Diese Bestimmung lautet: »(1) Jeder Vertragsstaat stellt in seiner Rechtsordnung sicher, dass das Opfer einer Folterhandlung Wiedergutmachung erhält und ein einklagbares Recht auf gerechte und angemessene Entschädigung einschließlich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation hat. Stirbt das Opfer infolge der Folterhandlung, so haben seine Hinterbliebenen Anspruch auf Entschädigung. (2) Dieser Artikel berührt nicht einen nach innerstaatlichem Recht bestehenden Anspruch des Opfers oder anderer Personen auf Entschädigung.«) zu sagen, der hinsichtlich der geografischen Reichweite Zweifel offen lässt.
(179) In seiner absoluten Form hängt das Konzept der universellen Gerichtsbarkeit weder von einem Verbindungsfaktor ratione personae (welcher die Personen festlegt, die Gegenstand eines solch eine Gerichtsbarkeit ausübenden Gerichts sind), noch von einem Verbindungsfaktor ratione loci (welcher fordert, dass diese Gerichtsbarkeit nur bei Vorhandensein gewisser geografischer oder sonstiger ortsbezogener Anknüpfungspunkte ausgeübt wird) [...] ab.
(180) Bezüglich insbesondere des letzteren Elements, nämlich des Fehlens einer Verbindung zu der fraglichen Gerichtsbarkeit, unterscheidet sich die universelle Gerichtsbarkeit in ihrer absoluten Form vom Konzept der Notzuständigkeit. Letztere bezieht sich auf die ausnahmsweise (oder verbleibende) Jurisdiktion, die von den Zivilgerichten eines Staates in Fällen wahrgenommen wird, in denen sie normalerweise keine Befugnis zur Prüfung eines Streits unter den vom staatlichen Recht festgelegten allgemeinen oder speziellen Zuständigkeitsregelungen hätten, ein Verfahren im Ausland sich in Recht und Praxis aber als unmöglich oder überbordend und unangemessen schwierig erweisen würde.
(181) Angesichts dieser Überlegungen wird der GH nun prüfen, ob die Schweizer Behörden von Rechts wegen verpflichtet waren, ihre Gerichte für den Bf. entweder aufgrund der Universalkompetenz für Folter oder der Notzuständigkeit zu öffnen. [...]
Die Universalkompetenz für Folter
(182) Der GH hält fest, dass Art. 38 des Statuts des IGH die formellen Völkerrechtsquellen näher anführt. Hinsichtlich des vorliegenden Falls [...] wird er prüfen, ob die Schweiz verpflichtet war, die universelle Gerichtsbarkeit für Folterhandlungen auf zivilrechtlichem Gebiet kraft internationalen Gewohnheitsrechts oder Vertragsrechts anzuerkennen. [...]
(183) Bezüglich [der Existenz] eines möglichen internationalen Gewohnheitsrechts geht aus der vom GH durchgeführten rechtsvergleichenden Studie hervor, dass von den 39 untersuchten europäischen Staaten lediglich die Niederlande die zivilrechtliche Universalkompetenz hinsichtlich von Folterhandlungen anerkennen [...]. Zumindest im Fall Akpan (Anm: Urteil des Bezirksgerichts Den Haag vom 30.1.2013.) existierte ein solides Verbindungsglied zu den Niederlanden insoweit, als die Körperschaft, gegen welche ein Verfahren angestrengt wurde, Tochtergesellschaft eines unter der Herrschaftsgewalt dieses Staates errichteten Unternehmens [die Ölfirma Royal Dutch Shell] war. Man kann daher in Bezug auf diesen Fall nicht von universeller Gerichtsbarkeit im absoluten Sinn sprechen.
(184) Außerhalb von Europa wird die Universalkompetenz in zivilrechtlichen Angelegenheiten nur von den Vereinigten Staaten [...] und Kanada anerkannt (vorausgesetzt, der Kläger vermag darzutun, dass die Folter im Zuge eines Terrorakts stattfand).
(185) Laut den dem GH zur Verfügung stehenden Informationen sehen zudem mehrere Europaratsstaaten eine Universalkompetenz ihrer Gerichte für strafrechtliche Angelegenheiten vor und gestatten dem Kläger, sich dem vor den Strafgerichten angestrengten Verfahren als Privatbeteiligter anzuschließen. [...] Wie dem auch sei, möchte der GH hervorheben, dass der Bf. 2001 gemeinsam mit dem Antrag auf Zuerkennung von Privatbeteiligtenstatus eine Strafanzeige erstattete, das Strafverfahren jedoch eingestellt wurde, da A. K. [...] die Schweiz verlassen hatte.
(186) Der GH vermerkt ferner, dass die von der Europäischen Kommission im Fall Kiobel gg. Royal Dutch Petroleum Co. (auf den Amnesty International und die Internationale Juristenkommission [in ihrer Eigenschaft als drittintervenierende Parteien] hinweisen) in ihrem amicus curiae-Schriftsatz [an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten] genannten Staaten eine Universalkompetenz nur dann akzeptieren, wenn die Klagen der zivilbeteiligten Parteien im Rahmen des Strafverfahrens eingebracht wurden. Ferner betrifft der von Amnesty International vorgelegte vorläufige Überblick über die weltweit geübte Universalkompetenz, der 2012 publiziert wurde, vorwiegend die Universalkompetenz im strafrechtlichem Sinn des Begriffs – und nicht im zivilrechtlichen Sinn, um die es hier ausschließlich geht.
(187) Im Lichte dieser Erwägungen ist darauf zu schließen, dass jene Staaten, welche die universelle Gerichtsbarkeit für zivilrechtliche Angelegenheiten anerkennen [...], derzeit die Ausnahme sind. Obwohl sich die Staatenpraxis auf diesem Gebiet entwickelt hat, reicht der Verbreitungsgrad der Universalkompetenz für Zivilsachen nicht aus, um auf die Entstehung – geschweige die Festigung – eines internationalen Gewohnheitsrechts schließen zu lassen, welches die Schweizer Gerichte zum Eingeständnis verpflichtet hätte, für die Prüfung der Klage des Bf. zuständig zu sein.
(188) Der GH ist der Ansicht, dass das Vertragsrecht nach derzeitigem Stand der Dinge ebenso nicht geeignet ist, für die Anerkennung von universeller ziviler Gerichtsbarkeit für Folterhandlungen »herzuhalten«, also den Staat für den Fall, dass kein anderer Zuständigkeitszusammenhang ersichtlich ist, zur Bereitstellung von zivilrechtlichen Rechtsbehelfen hinsichtlich von Folterhandlungen zu verpflichten, die außerhalb seines Territoriums von Amtsträgern eines anderen Staates begangen wurden.
(189) Zugegebenermaßen hat sich der UN-Ausschuss gegen Folter in seiner Allgemeinen Stellungnahme Nr. 3 (2012) für eine extensive Auslegung von Art. 14 UN-Anti-folterkonvention [...] ausgesprochen und die Staaten dazu ermutigt, den darin vorgesehenen Rechtsbehelf auch in Situationen anzubieten, in denen die Folterhandlungen außerhalb des Territoriums des [vom Opfer angerufenen] Staates begangen wurden – wie es scheint, einschließlich solcher, die von Amtsträgern eines ausländischen Staates vorgenommen wurden.
(190) Andererseits ist zu vermerken, dass sich der UN-Ausschuss gegen Folter bei der Prüfung individueller Mitteilungen hinsichtlich dieser Frage reservierter gezeigt hat. Soweit es dem GH bekannt ist, hat der genannte Ausschuss jedenfalls noch nie eine Verletzung der UN-Antifolterkonvention festgestellt, weil ein Staat es verabsäumt hätte, die universelle zivile Gerichtsbarkeit in seiner Rechtsordnung anzuerkennen. [...]
(191) Die weiteren, zu Art. 14 UN-Antifolterkonvention vorgebrachten Argumente von Amnesty International und der Internationalen Juristenkommission werden vom GH aus folgenden Gründen nicht akzeptiert: Mit Blick erstens auf den Text dieser Bestimmung muss festgehalten werden, dass Art. 14, der das Recht von Folteropfern auf Wiedergutmachung in allgemeiner Art und Weise gewährleistet, dazu schweigt, wie dieses Recht effektiv umgesetzt werden soll und wie es um den geografischen Geltungsbereich bestellt ist, was die diesbezüglichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten angeht. Es kann daher nicht gesagt werden, dass der Text von Art. 14 als solcher Argumente zugunsten [des Bestehens ] von universeller ziviler Gerichtsbarkeit liefert. [...]
(192) Hinsichtlich der travaux préparatoires möchte der GH zunächst einmal vermerken, dass diese gemäß Art. 32 WVK bei der Auslegung von Verträgen nur als »ergänzendes Mittel« heranzuziehen sind. [...] Auch die Kammer kam zu dem Schluss, dass sich aus den vorbereitenden Arbeiten zur UN-Antifolterkonvention mit Blick auf den geografischen Anwendungsbereich von Art. 14 keine konkreten Hinweise entnehmen ließen (vgl. Rn. 117 des Kammerurteils). [...] Die GK pflichtet dem bei. Zwar trifft es zu, dass der von den Niederlanden gemachte Vorschlag auf Einfügung der Wörter »egal in welchem Territorium seines Zuständigkeitsbereichs [die Folterhandlung] begangen wurde« zum Zeitpunkt der Annahme der UN-Antifolterkonvention nicht mehr aufschien. Die Gründe für dieses Unterlassen bleiben unklar. (Anm: Vgl. Nowak/McArthur, The United Nations Convention against Torture: A Commentary (2008), 457.) Unter diesen Umständen gestaltet es sich als schwierig, diesem Vorschlag entscheidende Bedeutung beizumessen. Aus den travaux préparatoires kann daher nicht geschlossen werden, dass die Urheber der UN-Antifolterkonvention beabsichtigten, eine universelle Gerichtsbarkeit im Rahmen des Art. 14 zu akzeptieren.
(193) In diesem Zusammenhang brachten Amnesty International und die Internationale Juristenkommission auch vor, dass die Abwesenheit von Vorbehalten zu Art. 14 UN-Antifolterkonvention, abgesehen von einem von den Vereinigten Staaten gemachten, auf eine Akzeptanz universeller ziviler Gerichtsbarkeit durch die Vertragsparteien hindeute. Der GH vermag sich dieser Argumentation ebenfalls nicht anzuschließen. Konfrontiert mit einem Text, in dem ein solches Szenario keinerlei Erwähnung findet, und mit den travaux préparatoires, die zu diesem Thema mehr oder weniger schweigen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Staaten die Möglichkeit universeller Gerichtsbarkeit einfach nicht ins Auge gefasst und sich folglich nicht verpflichtet gefühlt hatten, Vorbehalte zu Art. 14 aufzunehmen, um eine derartige Zuständigkeit von seinem Anwendungsbereich auszuschließen.
(194) Der GH will nicht verhehlen, dass in jüngster Zeit gewisse rechtlich nicht bindende Dokumente angenommen wurden, die den Staaten empfehlen, Folteropfern effektiven Zugang zur Justiz zu garantieren. Laut diesen Dokumenten werden die Gerichte von Drittstaaten für den Fall, dass der Staat, in dem die Folterhandlung stattfand, dem Opfer keine Wiedergutmachung leistet, dazu ermutigt, sich für diesen Fall – beispielsweise im Wege der Akzeptanz universeller Gerichtsbarkeit – zuständig zu erklären, um eine Rechtsverweigerung zu verhindern.
(195) Diese Texte schließen insbesondere die vom Institut für Internationales Recht (IIL) am 30.8.2015 in Tallinn angenommene Resolution [mit dem Titel »Universelle zivile Gerichtsbarkeit hinsichtlich der Entschädigung für internationale Verbrechen«] mit ein. Wenngleich das »Recht auf angemessene und effektive Wiedergutmachung« für Opfer internationaler Verbrechen und deren »Recht auf effektiven Zugang zur Justiz zwecks Beanspruchung einer Entschädigung« in Art. 1 Abs. 1 und 2 der Resolution mit Nachdruck bekräftigt werden, so ist doch der Wortlaut der Resolution zögerlicher bezüglich der Frage, ob eine generelle Verpflichtung für staatliche Gerichte existiert, ihre Zuständigkeit zur Prüfung von Entschädigungsforderungen von Opfern in Fällen auszuüben, in denen kein anderer Staat eine stärkere Verbindung zu der Streitigkeit hat. In der Tat scheint der Gebrauch der Konditionalform in Art. 2 Abs. 1 der Resolution nahezulegen, dass es sich dabei mehr um eine Angelegenheit de lege ferenda als um eine solche des positiven Rechts handelt.
(196) Zusätzlich äußerte der Berichterstatter des IIL [...] die Ansicht, dass Art. 14 UN-Antifolterkonvention keine universelle zivile Gerichtsbarkeit auf dem Gebiet internationaler Verbrechen auferlege. Ebenso scheint sich auch die Lehre nicht darin einig zu sein, ob diese Bestimmung eine extraterritoriale Anwendung zulässt [...].
(197) Insoweit sich der Bf. schließlich als von der Schweiz anerkannter Flüchtling [...] auf Art. 16 GFK (Anm: Danach hat ein Flüchtling in dem vertragsschließenden Staat, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, freien und ungehinderten Zugang zu den Gerichten.) beruft, ist festzuhalten, dass er sich vor dem Bundesgericht nur sehr allgemein auf diese Bestimmung bezog, ohne darzulegen, aus welchen Gründen und inwiefern sie für die Beschwerde [...] relevant war. Der GH stellt dazu fest, dass Art. 16 GFK in allgemeiner Weise auf das Recht von Flüchtlingen auf Zugang zu den Gerichten Stellung nimmt, ohne jedoch ein Recht als solches auf Anstrengung eines Verfahrens gegen einen fremden Staat oder gegen einen Amtsträger wegen einer im Ausland begangenen Folterhandlung zu garantieren. [...]
(198) Mit Rücksicht auf das oben Gesagte kommt der GH zum Schluss, dass die Schweizer Behörden aufgrund des Völkerrechts nicht gehalten waren, ihre Gerichte für den Bf. wegen [des Bestehens] einer universellen zivilen Gerichtsbarkeit für Folterhandlungen zu öffnen.
Die Notzuständigkeit
(199) [...] Der GH muss nun entscheiden, ob das Völkerrecht den Schweizer Behörden eine Verpflichtung auferlegte, dem Bf. eine Notzuständigkeit zur Verfügung zu stellen, damit seine Schadenersatzforderung [...] geprüft werden konnte. [...]
(200) Zuerst einmal geht aus der von der GK durchgeführten Studie hervor, dass von den 40 untersuchten Staaten einschließlich der Schweiz 28 die Notzuständigkeit nicht anerkennen. In Kanada wurde sie erst kürzlich anerkannt und ist dort strikten Bedingungen unterworfen. Im Gegensatz dazu erkennen die Länder mit angloamerikanischer Tradition dieses Konzept nicht an. Vielmehr wenden diese das Prinzip des forum non conveniens an, welches es einem Gericht ermöglicht, die Prüfung eines Falls abzulehnen, wenn ein Gericht eines anderen Staates eine geeignetere Verbindung dazu hat.
(201) Angesichts der obigen Überlegungen und der Tatsache, dass das Konzept der Notzuständigkeit von den Staaten nicht generell akzeptiert wird, kann daher nicht davon die Rede sein, dass eine Regel des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts existiert, welche das Konzept der Notzuständigkeit gewährleisten würde.
(202) Der GH vermerkt ferner, dass auch keinerlei Verpflichtung nach Völkervertragsrecht existiert, welches die Staaten zur Bereitstellung einer Notzuständigkeit verpflichten würde.
Umfang des Ermessensspielraums
(205) Zwecks Klärung der Frage, ob die Schweizer Behörden im vorliegenden Fall ihren Ermessensspielraum überschritten haben, muss sich der GH nun Art. 3 IPRG und den relevanten Entscheidungen der Schweizer Gerichte, darunter insbesondere das Urteil des Bundesgerichts vom 22.5.2007, zuwenden.
(206) [...] Vorab ist festzustellen, dass der Gesetzgebung wegen der bloßen Tatsache der Einführung einer Notzuständigkeit, welche die Zuständigkeit der Gerichte eher erweitern als reduzieren soll, nicht der Vorwurf gemacht werden kann, sie habe damit ihren Ermessensspielraum überschritten.
(207) Was nun die von der Schweizer Gesetzgebung für die Erfüllung der von Art. 3 IPRG festgelegten Voraussetzungen in einem bestimmten Fall angeht, gibt die oben angesprochene Rechtsvergleichungsstudie [siehe Rn. 200] zu erkennen, dass die Notzuständigkeit in all den Staaten, die sie anerkennen, nur ausnahmsweise und abhängig von zwei kumulativen Bedingungen angewendet wird, nämlich das Fehlen einer anderen Notzuständigkeit und die Existenz eines ausreichenden Anknüpfungspunktes zwischen dem Fall und dem Staat, der die Zuständigkeit übernimmt. Dieselben zwei Bedingungen finden sich auch im Gemeinschaftsrecht. (Anm: Vgl. Art. 11 der VO (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (Notzuständigkeit [forum necessitatis]).) Bezüglich des Anknüpfungspunktes legen die relevanten Texte nicht die anzuwendenden Kriterien fest, sondern überlassen diese Aufgabe den innerstaatlichen Gerichten. In dieser Hinsicht entspricht Art. 3 IPRG voll den in diesem Bereich vorherrschenden Gepflogenheiten.
(208) Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Schweizer Gesetzgebung im Wege der Einführung einer Notzuständigkeit gemeinsam mit den in Art. 3 IPRG niedergelegten Kriterien ihren Ermessensspielraum nicht überschritten hat.
(209) Der GH wird sich nun dem Ermessensspielraum der innerstaatlichen Gerichte zuwenden [...].
(211) Der Bf. kritisiert vor allem die [...] Ansicht des Bundesgerichts, es müsse zwecks Prüfung seiner Zuständigkeit auf die Umstände des Ausgangspunkts – also auf das Jahr 1992 [in dem die mutmaßliche Folterung stattfand] – Bezug nehmen. Er meint, das Bundesgericht habe eine falsche Entscheidung getroffen, indem es die von ihm nachfolgend mit der Schweiz eingegangenen Bindungen nicht berücksichtigt habe.
(212) Zu diesem Punkt ist festzuhalten, dass laut dem Bundesgericht der englische Begriff »case« (im Französischen »cause«) im eingeschränkten Sinne von »Tatsachenkomplex« verstanden werden müsse. Mit anderen Worten sind es die behaupteten Tatsachen – und nicht die Person des Klägers –, welche eine ausreichende Verbindung zu der Schweiz aufweisen müssen. [...]
(213) Laut der Regierung habe die Frage, welche Elemente die unverzichtbaren Bestandteile eines »Falls« bildeten, auch eine zeitliche Dimension. Wenn eine Klage eine Reihe von Umständen betreffe, die vor ihrer Einbringung bereits geendet hätten, müssten die Elemente des Falls geprüft werden, wie sie sich zum relevanten Zeitpunkt ereignet hätten, also vor der Anstrengung des Verfahrens. Gesetzt den Fall, ein Element des Falles wäre verändert worden, nachdem die entscheidende Reihe von Umständen aufgehört habe zu existieren, sei diese Änderung nicht mehr Teil des »Falles« und vermöge daher nicht länger eine ausreichende Rechtfertigung zur Einrichtung einer Notzuständigkeit darzustellen.
(214) Mit Blick auf den weiten Ermessensspielraum, der den nationalen Gerichten in diesem Bereich gewährt wird, und im Lichte der einschlägigen Judikatur der Schweizer Gerichte [zu Art. 3 IPRG] vermag der GH im vorliegenden Fall weder willkürliche noch offensichtlich unvernünftige Elemente in der Auslegung von Art. 3 IPRG seitens des Bundesgerichts zu erblicken. [...]
(216) [...] Ferner deuten keine Elemente darauf hin, dass das Bundesgericht seinen Ermessensspielraum anderweitig überschritten hätte. Die Einschränkungen des Rechts des Bf. auf Zugang zu einem Gericht waren folglich nicht unverhältnismäßig gegenüber den gesetzlich verfolgten Zielen.
Allgemeine Schlussfolgerungen
(217) [...] [Der GH stellt fest], dass somit keine Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht iSv. Art. 6 EMRK stattgefunden hat (15:2 Stimmen; abweichende Sondervoten von Richter Dedov und von Richter Serghides).
(218) Diese Schlussfolgerung stellt freilich nicht den breiten Konsens innerhalb der internationalen Gemeinschaft in Frage, was die Existenz eines Rechts von Folteropfern auf angemessene und effektive Wiedergutmachung betrifft. Der GH möchte die Staaten ermutigen, diesem Recht Wirkung im Wege der Ausstattung ihrer Gerichte mit der notwendigen Zuständigkeit zur Prüfung von Schadenersatzforderungen zu verleihen – und zwar auch dann, wenn diese auf Tatsachen fußen, die außerhalb ihrer geografischen Grenzen erfolgten. In dieser Hinsicht sind die Anstrengungen jener Staaten, die entschädigungsuchenden Folteropfern einen möglichst effektiven Zugang zu den Gerichten verschaffen, durchaus lobenswert.
(219) Andererseits ist es aus Sicht des eine Notzuständigkeit vorsehenden Staates nicht unvernünftig, ihre Ausübung von gewissen verbindenden Faktoren mit diesem Staat abhängig zu machen, über deren Vorliegen von ihm im Einklang mit geltendem Völkerrecht und ohne den ihm unter der Konvention eingeräumten Ermessensspielraum zu überschreiten entschieden werden muss.
(220) Angesichts der dynamischen Natur in diesem Bereich will der GH die Möglichkeit von zukünftigen Entwicklungen nicht ausschließen. Obwohl er im vorliegenden Fall keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt hat, lädt er die Konventionsstaaten ein, in ihrer Rechtsordnung jedwede Entwicklungen zu berücksichtigen, welche die effektive Umsetzung des Rechts auf Entschädigung für Folter erleichtern, und jede Klage solcher Art sorgfältig zu bewerten, um – falls angebracht – die Elemente identifizieren zu können, die ihre Gerichte verpflichten würden, sich für die Prüfung des Falls zuständig zu erklären.
Vom GH zitierte Judikatur:
Al-Adsani/GB v. 21.11.2001 (GK) = NL 2001, 247 = EuGRZ 2002, 403
Arlewin/S v. 1.3.2016
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.3.2018, Bsw. 51357/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 125) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_2/Nait-Liman.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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