EGMR Bsw46043/14

EGMRBsw46043/145.6.2015

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Lambert u.a. gg. Frankreich, Urteil vom 05.6.2015, Bsw. 46043/14.

 

Spruch:

Art. 2 EMRK, Art. 6 EMRK - Abbruch der Behandlung eines Wachkoma-Patienten.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 2 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der im Namen des Patienten erhobenen Beschwerde (12:5 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (12:5 Stimmen).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 EMRK (12:5 Stimmen).

Begründung

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde wurde von den Eltern, einem Halbbruder und einer Schwester des 1976 geborenen Vincent Lambert erhoben, der seit einem Ende September 2008 erlittenen Verkehrsunfall gelähmt ist und über eine Magensonde mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt wird.

Im Juli 2011 kam ein Team von Spezialisten der Universitätsklinik Liège zum Ergebnis, dass sich Vincent Lambert in einem dauerhaften vegetativen Zustand befindet. Zwischen September 2011 und Oktober 2012 erhielt er tägliche Physiotherapie, die jedoch keine Resultate zeigte. Außerdem erhielt er 87 Mal Sprachtherapie, um eine Kommunikation aufzubauen, was jedoch nicht gelang.

Im September 2013 wurde das im Gesetz vom 22.4.2005 über Patientenrechte und Fragen des Lebensendes vorgesehene Verfahren eingeleitet. (Anm: Das Gesetz über die Öffentliche Gesundheit sieht seit seiner Novellierung durch das Gesetz vom 22.4.2005 über Patientenrechte und Fragen des Lebensendes vor, dass die Beendigung einer lebenserhaltenden Behandlung nur nach Durchführung eines »kollektiven Verfahrens« zulässig ist, bei dem das Pflegeteam und zumindest ein zweiter Arzt herangezogen und die Familie eingebunden werden muss.) Der für Vincent Lambert verantwortliche Arzt Dr. Kariger zog sechs Ärzte hinzu und organisierte zwei Treffen mit der Familie. Dabei sprachen sich die Frau von Vincent Lambert (Rachel Lambert) und sechs seiner acht Geschwister für eine Beendigung der künstlichen Ernährung aus, während die Bf. dies ablehnten. Aufgrund der Beratungen entschied Dr. Kariger am 11.1.2014, die Ernährung einzustellen, da sie aufgrund der irreversiblen Hirnschädigungen eine aussichtslose und unverhältnismäßige Behandlung darstellen würde und keinen anderen Effekt hätte als eine künstliche Verlängerung des Lebens. Der Arzt hatte keinen Zweifel, dass Vincent Lambert nicht gewünscht hätte, unter solchen Bedingungen weiterzuleben. Die Fortsetzung der künstlichen Ernährung wäre daher als unzumutbare Beharrlichkeit anzusehen.

Die Bf. wandten sich daraufhin mit einem Eilantrag an das Verwaltungsgericht Châlons-en-Champagne. Dieses ordnete mit Urteil vom 16.1.2014 an, die Entscheidung von Dr. Kariger auszusetzen. Diese Entscheidung wurde von der Ehefrau und dem Neffen von Vincent Lambert beim Conseil d'État angefochten. Dieser holte ein Gutachten über den Zustand des Patienten ein. Die Experten kamen zu dem Ergebnis, dass sich Vincent Lambert in einem vegetativen Zustand ohne Anzeichen minimalen Bewusstseins befand. Die Schädigung des Gehirns sei irreversibel und er sei nicht in der Lage, mit seinem Umfeld zu kommunizieren. Der Conseil d'État behob am 24.6.2014 das Urteil des Verwaltungsgerichts und wies die Anträge der Bf. ab. Er hielt zunächst fest, dass eine künstliche Ernährung eingestellt werden könne, wenn ihre Fortsetzung eine unzumutbare Beharrlichkeit bedeute. Zur Frage, ob die von Dr. Kariger getroffene Entscheidung den gesetzlichen Voraussetzungen entsprach, stellte der Conseil d'État zunächst fest, dass das zuvor durchgeführte Verfahren in keiner Weise zu beanstanden war. Auch die Einschätzung des Zustands von Vincent Lambert sei durch den eingeholten Bericht bestätigt worden. Was seine Wünsche betrifft, sei insbesondere aus den Aussagen seiner Ehefrau klar hervorgegangen, dass er vor seinem Unfall wiederholt zum Ausdruck gebracht hätte, er wolle in einem solchen Zustand nicht künstlich am Leben erhalten werden. Dr. Kariger könne daher nicht vorgeworfen werden, die Wünsche des Patienten falsch interpretiert zu haben. Zudem habe er die Familienangehörigen in die Entscheidung einbezogen. Die Uneinigkeit innerhalb der Familie wäre seiner Entscheidung nicht entgegengestanden. Der Conseil d'État kam daher zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung, die künstliche Ernährung einzustellen, nicht als unrechtmäßig angesehen werden könne.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

(80) Die Bf. brachten vor, der Abbruch der künstlichen Ernährung Vincent Lamberts würde die staatlichen Verpflichtungen nach Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verletzen. Der Entzug von Nahrung und Flüssigkeit würde eine der Folter gleichkommende Misshandlung iSv. Art. 3 EMRK (hier: Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) darstellen. [...] Schließlich brachten sie vor, der Abbruch der künstlichen Ernährung würde auch die physische Integrität von Vincent Lambert verletzen und damit gegen Art. 8 EMRK verstoßen.

Legitimation der Bf., im Namen von Vincent Lambert zu handeln

Rekapitulation der Grundsätze

(91) Wo die Beschwerde nicht von den Opfern selbst erhoben wird [...] ist wesentlich, dass die Vertreter zeigen, dass sie spezifische und ausdrückliche Anweisungen vom behaupteten Opfer, in dessen Namen sie handeln, erhalten haben. Die Konventionsorgane haben allerdings festgestellt, dass sich im Fall von Opfern behaupteter Verletzungen von Art. 2, 3 und 8 EMRK [...] besondere Überlegungen ergeben können. [...]

(92) Besondere Beachtung wurde der Verletzlichkeit der Opfer [...] geschenkt, die sie unfähig machte, eine Beschwerde über die Angelegenheit an den GH zu erheben. Berücksichtigt wurden dabei auch die Verbindungen zwischen der die Beschwerde erhebenden Person und dem Opfer.

Anwendung im vorliegenden Fall

(96) Die Bf. behaupteten im Namen von Vincent Lambert eine Verletzung von Art. 2, 3 und 8 EMRK.

(97) Wie der GH zunächst feststellt, ist die Rechtsprechung betreffend Beschwerden, die im Namen verstorbener Personen erhoben werden, im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil Vincent Lambert nicht verstorben ist, sondern sich in einem im medizinischen Gutachten als vegetativ beschriebenen Zustand befindet. Der GH muss sich daher vergewissern, ob Umstände jener Art vorliegen, unter denen er in früheren Fällen festgestellt hat, dass eine Beschwerde im Namen einer verletzlichen Person erhoben werden kann, ohne dass diese entweder eine gültige Vollmacht abgegeben oder Anweisungen an die für sie handelnde Person erteilt hat.

(98) Keiner der Fälle, in denen ausnahmsweise akzeptiert wurde, dass eine Person im Namen einer anderen handeln kann, ist mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. Der Fall Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpenau/RO unterscheidet sich vom vorliegenden Fall insofern, als das direkte Opfer tot war und es niemanden gab, der es vertreten hätte können. Im vorliegenden Fall, in dem das direkte Opfer nicht in der Lage ist, seine Wünsche zu äußern, wollen mehrere enge Familienangehörige sich in seinem Namen äußern und vertreten dabei Positionen, die einander diametral widersprechen. Die Bf. berufen sich hauptsächlich auf das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben, dessen »Heiligkeit« vom GH in Pretty/GB betont wurde, während sich die Drittbeteiligten [die Ehefrau, ein Neffe und eine Halbschwester] auf das Recht auf Achtung des Privatlebens und insbesondere das vom Begriff der persönlichen Autonomie umfasste Recht jedes Einzelnen stützen, zu entscheiden, wie und wann sein Leben enden sollte.

(99) Die Bf. schlagen vor, der GH möge die in Koch/D dargelegten Kriterien anwenden, die sie ihrer Ansicht nach aufgrund ihrer engen familiären Bindungen und dem ausreichenden persönlichen oder rechtlichen Interesse am Ausgang des Verfahrens sowie der Tatsache, dass sie zuvor Interesse an dem Fall zum Ausdruck gebracht haben, erfüllen.

(100) Der GH stellt jedoch fest, dass der Bf. in Koch/D vorbrachte, das Leiden seiner Frau und die Umstände ihres Todes hätten ihn in einem Ausmaß berührt, das eine Verletzung seiner eigenen durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte begründete. Der GH musste daher über diesen Punkt entscheiden und vor diesem Hintergrund hielt er die in seiner Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Erhebung einer von einem Angehörigen im Namen einer verstorbenen Person erhobenen Beschwerde entwickelten Kriterien für berücksichtigenswert.

(101) Diese Kriterien sind [...] im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil Vincent Lambert nicht tot ist und die Bf. Beschwerde in seinem Namen erheben wollen.

(102) Eine Durchsicht der Fälle, in denen die Konventionsorgane akzeptiert haben, dass eine dritte Partei ausnahmsweise im Namen einer verletzlichen Person handeln darf, offenbart die beiden folgenden Hauptkriterien: das Risiko, dass das direkte Opfer eines effektiven Schutzes seiner Rechte beraubt wird und das Fehlen eines Interessenskonflikts zwischen Opfer und Bf.

(103) Diese Kriterien auf den vorliegenden Fall anwendend sieht der GH keine Gefahr, dass Vincent Lambert eines effektiven Schutzes seiner Rechte beraubt wird, da es den Bf. nach ständiger Rechtsprechung offensteht, sich vor dem GH in ihrem eigenen Namen auf das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben zu berufen.

(104) Was das zweite Kriterium betrifft, muss sich der GH vergewissern, ob die Interessen der Bf. und jene von Vincent Lambert übereinstimmen. In diesem Zusammenhang stellt er fest, dass einer der Schlüsselaspekte der innerstaatlichen Verfahren genau in der Feststellung der Wünsche von Vincent Lambert bestand, beruhte doch die Entscheidung Dr. Karigers vom 11.1.2014 auf der Gewissheit, dass Vincent Lambert nicht gewollt hätte, unter solchen Bedingungen weiterzuleben. In seinem Urteil vom 24.6.2014 stellte der Conseil d'État angesichts der Aussagen der Frau von Vincent Lambert und eines seiner Brüder und einiger weiterer Geschwister fest, dass Dr. Kariger die vom Patienten vor seinem Unfall geäußerten Wünsche nicht falsch interpretiert hatte. Der GH hält es daher nicht für erwiesen, dass eine Übereinstimmung der Interessen zwischen den Behauptungen der Bf. und dem bestand, was Vincent Lambert sich gewünscht haben würde.

(105) Der GH kommt zu dem Schluss, dass die Bf. nicht legitimiert sind, die Beschwerden unter Art. 2, 3 und 8 EMRK im Namen von Vincent Lambert zu erheben.

(106) Daraus folgt, dass diese Beschwerden iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK ratione personae unvereinbar mit der Konvention und gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK [als unzulässig] zurückzuweisen sind (12:5 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterin Tsotsoria und der Richter Hajiyev, Šikuta, de Gaetano und Gritco).

Legitimation von Rachel Lambert, im Namen von Vincent Lambert zu handeln

(107) Rachel Lambert beantragte [...], ihren Ehemann Vincent Lambert als Drittbeteiligte im Verfahren vertreten zu dürfen. [...]

(110) Wie der GH feststellt, gestattet keine Bestimmung der Konvention einem Drittbeteiligten, eine andere Person vor dem GH zu vertreten. Außerdem ist ein Drittbeteiligter gemäß Art. 44 Abs. 3 lit. a VerfO »jede betroffene Person, die nicht Beschwerdeführer ist«.

(111) Dementsprechend muss der Antrag von Rachel Lambert zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK

(112) [...] Der GH betont, dass er [...] all die vom vorliegenden Fall aufgeworfenen materiellen Fragen unter Art. 2 EMRK prüfen wird, da sie von den Bf. im eigenen Namen erhoben wurden.

Zulässigkeit

(115) Der GH erinnert an seine Rechtsprechung, wonach die Angehörigen einer Person, deren Tod mutmaßlich die Verantwortlichkeit des Staates begründet, behaupten können, Opfer einer Verletzung von Art. 2 EMRK zu sein. Obwohl Vincent Lambert noch am Leben ist, besteht kein Zweifel, dass sein Tod binnen kurzer Zeit eintreten würde, wenn die künstliche Ernährung eingestellt würde. Auch wenn die Verletzung eine potentielle oder zukünftige ist, können sich die Bf. daher in ihrer Eigenschaft als enge Angehörige von Vincent Lambert auf Art. 2 EMRK stützen.

(116) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Die Beschwerde muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(119) [...] Die Bf. brachten wiederholt vor, [...] der vorliegende Fall betreffe eine absichtliche Tötung; sie verwendeten dabei den Begriff »Euthanasie«.

(121) Wie der GH feststellt, erlaubt das Gesetz vom 22.4.2005 weder Euthanasie noch unterstützten Selbstmord. Es gestattet Ärzten, einem vorgegebenen Verfahren entsprechend, nur dann den Abbruch einer Behandlung, wenn deren Fortsetzung eine unzumutbare Beharrlichkeit zeigen würde. [...]

(124) Der GH nimmt zur Kenntnis, dass sowohl die Bf. als auch die Regierung zwischen der absichtlichen Tötung und der »therapeutischen Enthaltung« unterscheiden und betont die Wichtigkeit dieser Unterscheidung. Im Kontext der französischen Rechtslage, die eine absichtliche Tötung verbietet und nur unter gewissen besonderen Umständen erlaubt, eine lebenserhaltende Behandlung abzubrechen oder zu verwehren, ist der GH der Ansicht, dass der vorliegende Fall nicht die negativen Verpflichtungen des Staates unter Art. 2 EMRK berührt. Er wird die Beschwerde nur vom Standpunkt der positiven Verpflichtungen des Staates aus prüfen.

Allgemeine Überlegungen

Vorliegende Rechtsprechung

(136) Der GH hat nie über die Frage entschieden, die Gegenstand der vorliegenden Beschwerde ist. Er hat jedoch eine Reihe von Fällen geprüft, die ähnliche Angelegenheiten betrafen.

(137, 138) In einer ersten Gruppe von Fällen beriefen sich die Bf. oder ihre Angehörigen auf das Recht zu sterben [...]. In einer zweiten Gruppe von Fällen wandten sich die Bf. gegen die Anwendung oder den Abbruch einer Behandlung. [...]

(139) Der GH bemerkt, dass er mit Ausnahme der Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts von Art. 8 EMRK in Koch/D in keinem dieser Fälle eine Konventionsverletzung festgestellt hat.

Kontext

(140) Art. 2 EMRK verlangt von den Staaten, angemessene Schritte zum Schutz des Lebens jener zu setzen, die sich in seinem Hoheitsgebiet befinden. Im Bereich des Gesundheitswesens erfordern diese positiven Verpflichtungen, dass der Staat Regeln erlässt, die öffentliche und private Krankenhäuser zwingen, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Patienten zu ergreifen.

(141) Wie der GH betont, betrifft der vorliegende Fall nicht die Frage der Euthanasie, sondern vielmehr den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung.

(142) In Haas/CH wiederholte der GH, dass die Konvention als Ganzes gelesen werden muss. Er erachtete es als angemessen, sich im Zusammenhang mit der Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 8 EMRK auf Art. 2 EMRK zu beziehen. Der GH ist der Ansicht, dass dies auch im umgekehrten Fall gilt: in einem Fall wie dem vorliegenden sollte bei der Prüfung einer möglichen Verletzung von Art. 2 EMRK auch Art. 8 EMRK und das Recht auf Achtung des Privatlebens und der von diesem umfasste Begriff der persönlichen Autonomie beachtet werden. In Pretty/GB schloss der GH nicht aus, dass es einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens [...] darstellen könnte, die Bf. daran zu hindern, ihre Wahl zu treffen, um ein ihrer Ansicht nach unwürdiges und leidvolles Lebensende zu vermeiden. In Haas/CH bestätigte er, dass das Recht einer Person zu entscheiden, auf welche Weise und zu welcher Zeit ihr Leben enden solle, einer der Aspekte des Rechts auf Achtung ihres Privatlebens sei. [...]

(143) [...] In den Fällen Glass/GB und Burke/GB berücksichtigte der GH hinsichtlich der Frage der Anwendung oder des Abbruchs einer medizinischen Behandlung die folgenden Faktoren: das Bestehen eines den Vorgaben des Art. 2 EMRK entsprechenden regulatorischen Rahmens im innerstaatlichen Recht und der Praxis; die Beachtung der vom Bf. früher geäußerten Wünsche sowie der Wünsche seiner Angehörigen und der Meinungen anderer medizinischer Betreuer; die Möglichkeit einer Anrufung der Gerichte im Fall von Zweifeln, welche Entscheidung den Interessen des Patienten am besten gerecht würde. Der GH wird diese Faktoren bei der Prüfung des vorliegenden Falls berücksichtigen. [...]

Ermessensspielraum

(144) Der GH hat im Kontext der positiven Verpflichtungen des Staates anerkannt, dass dieser bei der Behandlung komplexer wissenschaftlicher, rechtlicher und ethischer Fragen insbesondere betreffend den Beginn und das Ende des Lebens, worüber kein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten besteht, einen gewissen Ermessensspielraum hat. [...]

(145) Zur Frage des unterstützten Selbstmords stellte der GH im Kontext des Art. 8 EMRK fest, dass kein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats hinsichtlich des Rechts des Einzelnen bestand, zu entscheiden, auf welche Weise und zu welcher Zeit sein Leben enden soll. Er schloss daraus, dass der Ermessensspielraum der Staaten in diesem Bereich »beträchtlich« sei.

(147) [...] Zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats besteht kein Konsens, den Abbruch künstlicher lebenserhaltender Behandlung zu erlauben, obwohl die Mehrheit der Staaten dies zu gestatten scheint. Während die genauen Vorschriften über den Behandlungsabbruch zwischen den Staaten variieren, besteht doch ein Konsens über die überragende Bedeutung der Wünsche des Patienten im Entscheidungsfindungsprozess, wie auch immer diese Wünsche ausgedrückt werden.

(148) Der GH ist daher der Ansicht, dass den Staaten in diesem das Ende des Lebens betreffenden Bereich, ebenso wie in jenem betreffend den Beginn des Lebens, ein Ermessensspielraum gewährt werden muss. Dieser bezieht sich nicht nur darauf, ob der Abbruch einer künstlichen lebenserhaltenden Behandlung erlaubt wird, und auf die genauen Regelungen über einen solchen Abbruch, sondern auch auf die Mittel, mit denen ein gerechter Ausgleich zwischen dem Schutz des Rechts auf Leben der Patienten und dem Schutz ihres Rechts auf Achtung ihres Privatlebens und ihrer persönlichen Autonomie getroffen wird. [...]

Anwendung auf den vorliegenden Fall

(149) Die Bf. behaupteten, es mangle dem Gesetz vom 22.4.2005 an Klarheit und Eindeutigkeit und sie beschwerten sich über den Prozess, der zur Entscheidung des Arztes vom 11.1.2014 führte. Ihrer Ansicht nach resultierten diese Mängel aus dem Versäumnis der innerstaatlichen Behörden, ihren Schutzpflichten aus Art. 2 EMRK nachzukommen.

Der rechtliche Rahmen

(151) Der GH stützt sich auf den rechtlichen Rahmen, der durch das Gesetz über die Öffentliche Gesundheit in der durch das Gesetz vom 22.4.2005 geänderten Form errichtet wurde. [...] Die französischen Gerichte waren vor den im vorliegenden Fall ergangenen Entscheidungen nie aufgefordert, die Vorschriften des Gesetzes vom 22.4.2005 auszulegen, obwohl es schon neun Jahre lang in Kraft war. Der Conseil d'État hatte im vorliegenden Fall die Aufgabe, den Anwendungsbereich des Gesetzes klarzustellen und die Konzepte der »Behandlung« und der »unzumutbaren Beharrlichkeit« zu definieren.

(152) In seiner Entscheidung vom 14.2.2014 bestimmte der Conseil d'État den Anwendungsbereich des Gesetzes. Er stellte fest, dass schon aus dem Wortlaut der anwendbaren Bestimmungen und aus dem der Verabschiedung vorangegangenen parlamentarischen Verfahren klar hervorgehe, dass die fraglichen Bestimmungen allgemein und auf alle Klienten des Gesundheitssystems anwendbar wären, unabhängig davon, ob sich der Patient am Ende seines Lebens befindet oder nicht.

(154) Der Conseil d'État interpretierte in seiner Entscheidung vom 14.2.2014 das Konzept der Behandlung, die abgebrochen oder eingeschränkt werden kann. Er stellte fest [...], dass der Gesetzgeber beabsichtigt hatte, in diese Formen einer Behandlung alle Handlungen einzuschließen, die darauf abzielen, die Vitalfunktionen des Patienten künstlich aufrechtzuerhalten, und dass künstliche Ernährung in diese Kategorie fiel. [...]

(156) Nach Art. L 1110-5 des Gesetzes stellt eine Behandlung eine unzumutbare Beharrlichkeit dar, wenn sie aussichtslos oder unverhältnismäßig ist oder keinen anderen Effekt hat als eine künstliche Aufrechterhaltung des Lebens. Es ist dieses letzte Kriterium, das im vorliegenden Fall angewendet wurde und von den Bf. als ungenau erachtet wird.

(158) In seinem Urteil vom 24.6.2014 präzisierte der Conseil d'État die Faktoren, die vom Arzt bei der Einschätzung, ob die Kriterien für eine unzumutbare Beharrlichkeit zutreffen, zu berücksichtigen sind [...]. Es sind dies die medizinischen Faktoren [...] und die nicht medizinischen Faktoren, nämlich die Wünsche des Patienten, denen der Arzt besondere Beachtung schenken muss, wie immer sie auch ausgedrückt wurden, und die Ansichten der Vertrauensperson, der Familie oder der dem Patienten Nahestehenden.

(159) Der GH bemerkt, dass der Conseil d'État in diesem Urteil zwei wichtige Schutzvorkehrungen feststellte. Erstens hielt er fest, dass »die bloße Tatsache, dass sich eine Person in einem irreversiblen Zustand der Bewusstlosigkeit befindet oder ihre Autonomie unwiederbringlich verloren hat und daher von einer solchen Form der Ernährung abhängig ist, für sich selbst keine Situation darstellt, in der die Fortsetzung der Behandlung als unzumutbare Beharrlichkeit ungerechtfertigt erscheinen würde«. Zweitens betonte er, dass dann, wenn die Wünsche eines Patienten unbekannt sind, nicht angenommen werden könne, er würde es ablehnen, am Leben erhalten zu werden.

(160) Auf der Grundlage dieser Analyse kann der GH den Argumenten der Bf. nicht zustimmen. Seiner Ansicht nach bilden die Bestimmungen des Gesetzes vom 22.4.2005, wie sie vom Conseil d'État ausgelegt wurden, einen rechtlichen Rahmen, der aus Sicht des Art. 2 EMRK ausreichend klar ist, um in Situationen wie der vorliegenden die von Ärzten getroffenen Entscheidungen präzise zu regeln. Der GH kommt daher zum Schluss, dass der Staat einen rechtlichen Rahmen vorgesehen hat, der geeignet ist, den Schutz des Lebens von Patienten sicherzustellen.

Der Entscheidungsfindungsprozess

(161) Die Bf. beschwerten sich über den Entscheidungsfindungsprozess, der ihrer Ansicht nach kollektiv sein oder zumindest eine Vermittlung im Fall einer Uneinigkeit vorsehen hätte müssen.

(162) []... Weder aus Art. 2 EMRK noch aus der Judikatur des GH können irgendwelche Anforderungen an das Verfahren abgeleitet werden, das einzuhalten ist, um eine mögliche Einigung sicherzustellen. [...]

(163) Obwohl das Verfahren im französischen Recht als »kollektiv« bezeichnet wird und mehrere Konsultationsphasen umfasst [...], wird die Entscheidung vom behandelnden Arzt alleine getroffen. [...]

(165) Das dem GH vorliegende rechtsvergleichende Material zeigt eindeutig, dass in jenen Ländern, die einen Abbruch oder eine Verweigerung der Behandlung zulassen, [...] eine große Bandbreite von Vorkehrungen betreffend die letzte Entscheidung über den Abbruch der Behandlung vorgesehen ist. Sie kann vom Arzt (dies ist die gebräuchlichste Situation), von der Familie oder rechtlichen Vertretern oder den Gerichten getroffen werden.

(166) Wie der GH feststellt, dauerte das kollektive Verfahren im vorliegenden Fall von September 2013 bis Jänner 2014. In jeder Phase seiner Umsetzung ging es über die gesetzlichen Erfordernisse hinaus. Während die Konsultation eines weiteren Arztes vorgeschrieben ist, zog Dr. Kariger sechs Ärzte hinzu, von denen einer von den Bf. vorgeschlagen wurde. Er berief eine Versammlung des gesamten Pflegeteams ein und zwei Treffen mit der Familie. [...] Seine 13 Seiten umfassende Entscheidung [...] enthielt sehr detaillierte Gründe. Der Conseil d'État stellte in seinem Urteil vom 24.2.2014 fest, dass sie mit keinen Unregelmäßigkeiten behaftet war.

(167) Der Conseil d'État befand, dass der Arzt dem Erfordernis entsprochen hatte, die Familie zu konsultieren, und dass es rechtmäßig war, dass er bei Fehlen einer Einstimmigkeit zwischen den Familienmitgliedern seine Entscheidung traf. Der GH stellt fest, dass das französische Recht die Konsultierung der Familie vorsieht, aber nicht ihre Mitwirkung an der Entscheidung oder eine Mediation für den Fall einer Uneinigkeit zwischen Familienmitgliedern. Auch gibt es anders als in manchen anderen Ländern keine vorgegebene Reihenfolge, in der die Ansichten der Familienmitglieder zu berücksichtigen sind.

(168) Der GH nimmt das Fehlen eines Konsenses über die Angelegenheit zur Kenntnis und ist der Ansicht, dass die Organisation des Entscheidungsfindungsprozesses, einschließlich der Bestimmung jener Person, von der die endgültige Entscheidung über den Behandlungsabbruch getroffen wird, und der genauen Vorkehrungen für das Treffen der Entscheidung, in den staatlichen Ermessensspielraum fällt. Er stellt fest, dass das Verfahren im vorliegenden Fall lang und sorgfältig war und [...] – auch wenn die Bf. mit seinem Ergebnis nicht einverstanden sind – den aus Art. 2 EMRK erwachsenden Anforderungen entsprach.

Gerichtliche Rechtsmittel

(169) Zuletzt wird der GH die Rechtsbehelfe prüfen, die den Bf. im vorliegenden Fall zur Verfügung standen [...].

(170) Die Bf. hatten einen Eilantrag an das Verwaltungsgericht [...] gestellt. [...]

(171) Der GH stellt fest, dass [...] die Rolle des für solche Eilanträge zuständigen Richters nicht nur die Befugnis umfasst, die Durchführung der ärztlichen Entscheidung auszusetzen, sondern auch eine vollumfängliche Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit vorzunehmen [...].

(173) [...] Der Conseil d'État prüfte den Fall in der Besetzung als Plenargericht, was in Verfahren über einstweilige Verfügungen höchst ungewöhnlich ist. [...] Er ordnete einen Expertenbericht an, mit dem er drei anerkannte Spezialisten für Neurologie beauftragte. [...]

(174) Der GH bemerkt, dass der Expertenbericht mit großer inhaltlicher Tiefe erstellt wurde. Die Experten untersuchten Vincent Lambert neun Mal, führten eine Reihe von Tests durch und machten sich mit der gesamten Krankenakte und allen relevanten Unterlagen in der Gerichtsakte vertraut. Zwischen 24.3. und 23.4.2014 trafen sie außerdem alle betroffenen Parteien [...].

(175) In seinem Urteil vom 24.6.2014 prüfte der Conseil d'État zuerst die Vereinbarkeit der relevanten Bestimmungen des Gesetzes über die Öffentliche Gesundheit mit Art. 2, 8, 6 und 7 EMRK [...]. Seine Prüfung umfasste die Rechtmäßigkeit des kollektiven Verfahrens und die Befolgung der gesetzlich vorgesehenen materiellen Voraussetzungen, die er insbesondere angesichts der Feststellungen des Expertenberichts als erfüllt ansah. [...]

(176) Der GH bemerkt weiters, dass der Conseil d'État [...] festzustellen versuchte, was die Wünsche von Vincent Lambert waren. Da dieser keine Anweisungen gegeben und auch keine Vertrauensperson benannt hatte, berücksichtigte der Conseil d'État die Aussage seiner Ehefrau, Rachel Lambert. Er stellte fest, dass sie und ihr Mann, die beide Krankenpfleger [...] waren, oft ihre beruflichen Erfahrungen diskutiert hatten und dass Vincent Lambert bei mehreren solchen Gelegenheiten den Wunsch geäußert hatte, nicht in einem hochgradig abhängigen Zustand künstlich am Leben erhalten zu werden. Der Conseil d'État stellte fest, dass diese Äußerungen – deren Tenor von einem der Brüder Vincent Lamberts bestätigt wurde – von Rachel Lambert detailliert und mit den entsprechenden Daten berichtet worden waren. Er berücksichtigte auch die Tatsache, dass mehrere der anderen Geschwister von Vincent Lambert bestätigt hatten, dass diese Äußerungen der Persönlichkeit ihres Bruders, seinen Erfahrungen und Ansichten entsprachen, und stellte fest, dass die Bf. nicht behaupteten, er habe gegenteilige Äußerungen gemacht. [...]

(177) Sich auf Art. 8 EMRK stützend brachten die Bf. vor, dass der Conseil d'État die mündlichen Äußerungen Vincent Lamberts nicht hätte berücksichtigen dürfen, weil sie zu allgemein gewesen wären.

(178) Der GH weist zunächst darauf hin, dass der Patient die wesentliche Partei des Entscheidungsfindungsprozesses ist und seine Zustimmung im Mittelpunkt bleiben muss. Dies gilt selbst dann, wenn der Patient nicht in der Lage ist, seine Wünsche auszudrücken. [...]

(179) Der GH bemerkt auch [...], dass einige Länder im Fall des Fehlens früherer Anweisungen verlangen, dass Versuche unternommen werden, um die mutmaßlichen Wünsche des Patienten zu ergründen [...].

(180) Zuletzt weist der GH darauf hin, dass er in seinem Urteil Pretty/GB das Recht jedes Einzelnen anerkannt hat, die Zustimmung zu einer Behandlung zu verweigern, die eine Verlängerung seines Lebens bewirken könnte. Dementsprechend gelangt der GH zur Ansicht, dass der Conseil d'État davon ausgehen durfte, dass die ihm vorgelegten Aussagen ausreichend präzise waren, um festzustellen, was die Wünsche von Vincent Lambert hinsichtlich des Abbruchs oder der Fortsetzung seiner Behandlung waren.

Abschließende Überlegungen

(181) Der GH ist sich der Bedeutung der vom vorliegenden, extrem komplexe medizinische, rechtliche und ethische Angelegenheiten betreffenden Fall aufgeworfenen Fragen sehr bewusst. Unter den Umständen des Falles wiederholt der GH, dass es in erster Linie Sache der innerstaatlichen Instanzen war sich zu vergewissern, ob die Entscheidung, die Behandlung abzubrechen, mit dem innerstaatlichen Recht und der Konvention vereinbar war, und die Wünsche des Patienten dem nationalen Recht entsprechend festzustellen. Die Rolle des GH bestand darin sich zu vergewissern, ob der Staat seinen positiven Verpflichtungen nach Art. 2 EMRK entsprochen hat. [...]

Der GH kommt angesichts des ihnen im vorliegenden Fall eingeräumten Ermessensspielraums zum Schluss, dass die innerstaatlichen Behörden ihren aus Art. 2 EMRK erwachsenden positiven Verpflichtungen entsprochen haben.

Schlussfolgerung

(182) Daraus folgt, dass im Fall der Umsetzung des Urteils des Conseil d'État vom 24.6.2014 keine Verletzung von Art. 2 EMRK stattfinden würde (12:5 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterin Tsotsoria und der Richter Hajiyev, Šikuta, de Gaetano und Gritco).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(184) [...] Angesichts seiner Feststellungen unter Art. 2 EMRK erachtet es der GH nicht als notwendig, über diesen Beschwerdepunkt gesondert abzusprechen (12:5 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterin Tsotsoria und der Richter Hajiyev, Šikuta, de Gaetano und Gritco).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

(186) Selbst unter der Annahme der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf das Verfahren, das zur Entscheidung des Arztes vom 11.1.2014 führte, erachtet der GH diesen Teil der Beschwerde – soweit er nicht bereits unter Art. 2 EMRK behandelt wurde – für offensichtlich unbegründet.

(187) Daraus folgt, dass dieser Aspekt der Beschwerde [als unzulässig] zurückzuweisen ist (12:5 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterin Tsotsoria und der Richter Hajiyev, Šikuta, de Gaetano und Gritco).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sanles Sanles/E v. 26.10.2000 (ZE)

Pretty/GB v. 29.4.2002 = NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311

Glass/GB v. 18.3.2003

Burke/GB v. 11.7.2006

Ada Rossi u.a./I v. 16.12.2008 (ZE) = NL 2009, 3

Haas/CH v. 20.1.2011 = NL 2011, 20

Koch/D v. 19.7.2012 = NL 2012, 249 = EuGRZ 2012, 616

Nencheva u.a./BG v. 18.6.2013 = NL 2013, 193

Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu/RO v. 17.7.2014 (GK) = NL 2014, 321

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.6.2015, Bsw. 46043/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 195) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_3/Lambert.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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