EGMR Bsw41548/06

EGMRBsw41548/0613.10.2011

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Trabelsi gg. Deutschland, Urteil vom 13.10.2011, Bsw. 41548/06.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK - Ausweisung eines in Deutschland geborenen Tunesiers.

Verbindung der Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf., ein tunesischer Staatsangehöriger, wurde 1983 in Deutschland geboren. Seine Eltern, die ebenfalls tunesische Staatsangehörige sind, sowie seine drei Schwestern, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, leben in Deutschland. Er hat seine ganze Schulzeit dort verbracht. Am 9.10.1997 stellten ihm die Verwaltungsbehörden eine Aufenthaltserlaubnis bis 28.3.1999 aus. Diese wurde später verlängert, zum letzten Mal am 21.10.2002 für ein Jahr.

Am 5.3.1998 verurteilte das Amtsgericht Bielefeld den damals vierzehnjährigen Bf. wegen Hehlerei und Diebstahls zu gemeinnütziger Arbeit. Zwischen Dezember 1999 und Oktober 2003 erfolgten gegen den Bf. acht strafrechtliche Verurteilungen durch das Amtsgericht Bielefeld. Insgesamt wurde eine Jugendstrafe von vier Jahren verhängt. Insbesondere wurde der Bf. am 6.2.2001 u.a. wegen räuberischer Erpressung, Raub und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtjugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Diese Strafe trug auch drei früheren Verurteilungen für u.a. Hehlerei, Diebstahl, Beleidigung und illegalen Besitz von Suchtmitteln Rechnung.

Der Bf. wurde am 30.4.2002 von den Verwaltungsbehörden Bielefeld informiert, dass seine strafrechtliche Verurteilung vom 6.2.2001 seine Ausweisung aus Deutschland zur Folge haben könnte. Sie würden zwar ausnahmsweise auf eine solche Maßnahme verzichten, ein neuerlicher Verstoß gegen deutsche Gesetze würde indes sein Aufenthaltsrecht ernsthaft gefährden.

Am 14.10.2003 wurde der Bf. nach drei weiteren Verurteilungen in den Jahren 2002 und 2003 wegen illegalem Erwerb von Suchtmitteln, gefährlicher Körperverletzung, räuberischer Erpressung und Einbruchsdiebstahl u.a. wegen einer erneuten gefährlichen Körperverletzung zu einer Gesamtjugendstrafe von vier Jahren verurteilt, die die sieben vorherigen Verurteilungen berücksichtigte.

Der seit dem 19.11.2002 in Untersuchungshaft gewesene Bf. trat seine Gefängnisstrafe am 14.1.2003 an. Am 11.10.2006 wurde er entlassen und für einen Zeitraum von drei Jahren unter Führungsaufsicht gestellt.

Am 18.3.2004 ordnete die Stadt Bielefeld die Ausweisung des Bf. für unbefristete Zeit an und gab bekannt, dass er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nach Tunesien abgeschoben werde.

Am 30.6.2005 wies das Verwaltungsgericht Minden die Beschwerde des Bf. zurück. Es befand, dass die Verwaltungsbehörden ihre Entscheidung zurecht auf § 53 Z. 1 Aufenthaltsgesetz gestützt hatten, der vorsah, dass ein Ausländer ausgewiesen werden musste, wenn er zu einer Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden war.

Nachdem das Oberverwaltungsgericht Münster sich geweigert hatte, eine Berufung des Bf. zuzulassen, rief dieser das BVerfG an. Er rügte insbesondere die Tatsache, dass seine strafrechtlichen Verurteilungen bewirkten, dass die Ausweisung zwingend vorzunehmen ist, ohne dass die deutschen Behörden die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme an den Gegebenheiten der besonderen Umstände des Einzelfalles untersuchen konnten.

Das BVerfG nahm die Beschwerde am 12.6.2006 ohne Begründung nicht zur Entscheidung an.

Am 17.6.2008 verurteilte das Amtsgericht Bielefeld den Bf. zu 80 Tagsätzen wegen eines am 31.12.2007 begangenen Verstoßes gegen das Waffenrecht. Am 14.10.2008 wurde der Bf. wegen eines am 25.5.2008 begangenen Verstoßes gegen das Suchtmittelgesetz zu 100 Tagsätzen verurteilt.

Gegen den Bf. wurde auch ein Strafverfahren wegen einer am 15. und 16.5.2007 begangenen Sachbeschädigung geführt, dessen Ausgang nicht bekannt ist.

Am 28.1.2009 erlangte der Bf. den Hauptschul-, im Juli 2010 den Realschulabschluss. Seither besucht er Abendkurse in Vorbereitung seines Bakkalaureats.

Mit Brief vom 2.3.2009 wies der mit der Führungsaufsicht betraute Beamte darauf hin, dass der Verlauf der Dreijahresperiode ziemlich positiv war. Er konkretisierte allerdings, dass das Fehlen einer Perspektive und die Unsicherheit hinsichtlich seines zukünftigen Schicksals und seines Aufenthaltsrechts dazu geführt hätten, dass der Bf. neue Delikte begangen hat.

Am 1.12.2010 wurde der Bf. wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstößen gegen das Waffenrecht angeklagt. Der Ausgang dieses Verfahrens ist nicht bekannt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).

Zur Zulässigkeit

Die Regierung bringt vor, dass die Beschwerde insoweit unzulässig ist, als der Bf. das Fehlen einer zeitlichen Befristung der Ausweisung rügt. Der Bf. hätte es unterlassen, eine Befristung zu verlangen, wie es ihm nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz möglich gewesen wäre und folglich diesbezüglich nicht die innerstaatlichen Rechtsmittel erschöpft.

Da der GH der Meinung ist, dass es richtig ist, diese Frage im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung zu untersuchen, verbindet er sie mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Da kein anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt, erklärt der GH die Beschwerde für zulässig (einstimmig).

Zur Entscheidung in der Sache

Zum Vorliegen eines Eingriffs

Der GH bemerkt, dass der Bf., der unverheiratet ist, keine Kinder hat und zum Zeitpunkt des Aufenthaltsverbots 21 Jahre bzw. bei Endgültigkeit der Maßnahme über 22 Jahre alt war, aber immer noch bei seinen Eltern wohnte. Der GH erinnert daran, dass er es in bestimmten Fällen von jungen Erwachsenen, die noch keine eigene Familie gegründet haben, zugelassen hat, dass ihre Bindung zu ihren Eltern und anderen nahen Familienangehörigen ebenfalls als Familienleben gesehen wird. Das Vorliegen eines solchen Familienlebens iSd. Art. 8 EMRK ist nach jenem Zeitpunkt, zu dem das Aufenthaltsverbot endgültigen Charakter erlangt hat, zu beurteilen.

Der GH erinnert weiters daran, dass dann, wenn nicht alle ansässigen Migranten notwendigerweise ein Familienleben iSd. Art. 8 EMRK haben, dieser gleichermaßen ein Recht, Bindungen mit ihresgleichen und der Außenwelt zu knüpfen und zu unterhalten schützt und manchmal auch Aspekte der sozialen Identität eines Individuums umfasst. Es muss deshalb akzeptiert werden, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen den ansässigen Migranten und der Gemeinschaft, in der sie leben, integraler Bestandteil des Begriffs des Privatlebens iSd. Art. 8 EMRK ist. Unabhängig vom Bestehen eines Familienlebens erweist sich die Ausweisung eines ansässigen Immigranten als eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Achtung des Privatlebens. Im vorliegenden Fall befindet der GH, dass die Ausweisungsentscheidung zwar gleichzeitig das Familienleben des Bf. beeinträchtigt, vor allem aber sein Privatleben.

Zur Rechtfertigung

Die Ausweisung beruhte auf einer innerstaatlichen gesetzlichen Grundlage, nämlich § 53 Z. 1 Aufenthaltsgesetz.

Es wird auch nicht bestritten, dass der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgt, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten.

Der GH erinnert daran, dass er die diesbezüglich einschlägigen Kriterien in seinem Urteil Üner/NL zusammengefasst hat. In Maslov/A hat er diese Kriterien präzisiert.

Der GH bemerkt, dass der Bf. trotz seiner Geburt in Deutschland lediglich eine befristete Aufenthaltserlaubnis besessen hat, die ein letztes Mal am 21.10.2002 für ein Jahr verlängert worden ist. Er beobachtet, dass der Bf. keine Schritte unternommen zu haben scheint, um eine Verlängerung seines Aufenthaltstitels zu erlangen oder wie seine Schwestern einen Einbürgerungsantrag zu stellen. Der Bf. kann deshalb nicht berechtigterweise darauf vertrauen, nicht Gegenstand einer Abschiebung aus Deutschland zu sein.

Der Bf. wurde mehrmals wegen räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung, also Delikten, die ein bestimmtes Maß an Schwere und Gewalt aufweisen, sowie wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz verurteilt. Auch wenn die ersten Verurteilungen Delikte betrafen, die der Bf. begangen hatte, als er noch minderjährig war, so betrafen seine späteren Verurteilungen, insbesondere jene vom 14.10.2003, doch eine Reihe von Delikten, die im Alter von 19 und 20 Jahren begangen wurden.

Der GH beobachtet außerdem, dass der Bf. die letztgenannten Delikte begangen hat, obwohl er von den Verwaltungsbehörden hinsichtlich der Konsequenzen einer neuerlichen Verurteilung gewarnt worden war. Im Übrigen stellte er seine kriminellen Machenschaften auch nicht ein, nachdem ihm die Ausweisungsanordnung zugestellt worden war bzw. nachdem er eine Gefängnisstrafe verbüßen musste. Schließlich muss man auch die beträchtliche Zahl an Delikten hervorheben, die der Bf. während eines relativ langen Zeitraumes begangen hat.

Der Bf. war seit seiner Geburt im März 1983 bis zum 20.10.2003, dem Tag des Ablaufs seiner letzten Aufenthaltserlaubnis, legal in Deutschland aufhältig.

Der GH erinnert daran, dass dem Verhalten des Betroffenen nach seinen strafrechtlichen Verurteilungen nur in Fällen, in denen eine lange Zeitspanne zwischen der endgültigen Entscheidung, die die Ausweisung vorschreibt, und der tatsächlichen Abschiebung vergangen ist, Rechnung getragen werden muss. Im vorliegenden Fall wurde die Ausweisungsentscheidung am 30.6.2005 endgültig, doch war der Bf. bislang noch nicht Gegenstand einer Abschiebung nach Tunesien. Auch wenn diese Zeitspanne ausreichend lang scheint, um die Ereignisse nach der endgültigen Entscheidung zu berücksichtigen, so erachtet es der GH nicht für notwendig, sich im vorliegenden Fall zu dieser Frage zu äußern. Auch wenn der Bf., der bis Oktober 2006 inhaftiert war, seine schulische Laufbahn wiederaufgenommen, zwei schulische Abschlüsse erlangt hat und aktuell Abendkurse besucht, um sein Bakkalaureat vorzubereiten, so war er doch 2008 Gegenstand erneuter strafrechtlicher Verurteilungen, wurde im Dezember 2010 erneut wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt und war während seiner Anhaltung Gegenstand mehrerer Disziplinarmaßnahmen. Da die genannten Umstände somit gleichzeitig für und gegen den Bf. sprechen, kann der GH dieser Periode keine große Bedeutung beimessen.

Der GH bemerkt, dass der Bf. in Deutschland geboren wurde und dort seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Er spricht und schreibt deutsch und hat seine gesamte Ausbildung in Deutschland erhalten, wo auch alle seine Angehörigen leben. Selbst wenn er somit in diesem Land seine hauptsächlichen Bindungen hat, so ist nicht ersichtlich, dass er besondere soziale Bindungen über jene zu seiner Familie hinaus entwickelt hat.

Hinsichtlich der Bindungen des Bf. zu Tunesien bemerkt der GH, dass der Bf. vorgebracht hat, dass er überhaupt keine Verbindung mehr zu Tunesien habe und dass er die dort gebräuchlichen Sprachen nicht spreche.

Der GH erinnert daran, dass der Betroffene im Fall Maslov/A überzeugend dargetan hatte, dass er zum Zeitpunkt seiner Abschiebung nicht bulgarisch sprach, da seine Familie zur türkischen Minderheit in Bulgarien gehörte. Wenn der Bf. nun aber zweifellos starke Beziehungen zu Deutschland hat, kann man aufgrund der von den Parteien vorgelegten Informationen dennoch nicht behaupten, dass er keine Verbindung mehr zu seinem Herkunftsland und keine Ahnung vom Arabischen hat.

Der GH bemerkt, dass die Verwaltungsbehörden eine unbefristete Ausweisung ausgesprochen haben. Die Verwaltungsgerichte haben sich nicht mit der Frage befasst, ob es angesichts der Umstände des Falles notwendig gewesen wäre, die Ausweisung mit einer zeitlichen Befristung zu versehen.

Der GH bemerkt, dass die Verwaltungsbehörden die Ausweisung entsprechend den Umständen des Falles von Amts wegen mit einer zeitlichen Befristung versehen können. Außerdem war das BVerfG der Ansicht, dass in bestimmten Fällen hinsichtlich von auf deutschem Boden geborenen Ausländern, die keine von der Konvention geschützten familiären Verbindungen hatten, eine zeitliche Befristung nicht ausreichen kann, um die Ausweisung verhältnismäßig werden zu lassen. In den Augen des GH hat die Regierung nicht dargetan, dass ein Antrag des Bf. auf zeitliche Befristung der Ausweisung sich auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ausgewirkt hätte.

Im Übrigen sieht § 11 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz die Möglichkeit vor, ausnahmsweise eine Genehmigung zu erhalten, um den deutschen Boden für kurze Zeit zu betreten.

Unter Berücksichtigung der Natur und der beträchtlichen Zahl der vom Bf. begangenen Delikte, von denen ein Teil eine bestimmte Schwere aufweist und vom Bf. im Erwachsenenalter begangen worden ist und das, obwohl er vor den Konsequenzen seiner kriminellen Machenschaften gewarnt worden war sowie angesichts der Unsicherheit seines Aufenthaltstitels und des Umstandes, dass die Wirkung der strittigen Maßnahme im Wesentlichen allein dem Privatleben unterfällt, kommt der GH zu dem Schluss, dass die Ausweisung nicht unverhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel gewesen ist und daher noch als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann.

Der GH weist infolgedessen die Einrede der Regierung hinsichtlich des Fehlens einer zeitlichen Befristung zurück und stellt fest, dass keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Grant/GB v. 23.5.2006

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

Maslov/A v. 23.6.2008 (GK) = NL 2008, 157 = ÖJZ 2008, 779

Yesufa/GB v. 26.1.2010 (ZE)

Mutlag/D v. 25.3.2010

Gezginci/CH v. 9.12.2010

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.10.2011, Bsw. 41548/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 300) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_5/Trabelsi.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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