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Spruch:
Art. 5 EMRK, Art. 7 EMRK, Art. 4 7. Prot. EMRK - Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in wiederaufgenommenem Strafverfahren.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 40.000,– für immateriellen Schaden; € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Begründung:
Mit Urteil vom Mai 1993 – bzw. nach einer Zurückverweisung vom Juli 1995 – wurde der Bf. vom Geschworenengericht Zürich wegen Mord und vorsätzlicher Tötung zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er 1983 einen Mann auf besonders brutale Weise getötet und 1990 seine Partnerin angestiftet hatte, eine Frau zu erwürgen. Seine Fähigkeit, die Unrechtmäßigkeit der Taten einzusehen, wurde aufgrund einer Persönlichkeitsstörung und der Alkoholisierung im Tatzeitpunkt als erheblich gemindert angesehen. Das Geschworenengericht sah davon ab, die Sicherungsverwahrung anzuordnen, da der Zweck des effektiven Schutzes der Gesellschaft vor dem als besonders gefährlich anzusehenden Angeklagten, dessen Behandlung schwierig wäre, durch die Vollstreckung einer langjährigen Freiheitsstrafe besser verwirklicht werden könne.
Am 2.3.2012 entschied das Bundesgericht, das Strafverfahren gegen den Bf. wiederaufzunehmen, da neue Tatsachen vorliegen würden, die dem Gericht 1993 nicht bekannt gewesen sein konnten. Dabei stützte es sich auf ein psychiatrisches Gutachten, das mit neuartigen Methoden zum Ergebnis gelangt war, dass der Bf. an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung und Psychopathie litt. Diese Störungen könnten nicht behandelt werden und würden ein sehr hohes Risiko der Begehung weiterer Gewaltstraftaten mit sich bringen.
Im wiederaufgenommenen Verfahren ordnete das Bezirksgericht Zürich am 15.8.2013 die nachträgliche Verwahrung des Bf. an. Das Gericht stellte anhand eines neuen Gutachtens sowie der Befunde von 1993 fest, dass die Voraussetzungen für eine Verwahrung schon damals gegeben gewesen wären und nach wie vor erfüllt seien. Es bestünde ein sehr hohes Risiko der Begehung weiterer schwerer Gewaltstraftaten und eine psychiatrische Behandlung hätte wenig Erfolgsaussichten.
Nachdem das Obergericht Zürich die Berufung des Bf. abgewiesen hatte, bestätigte auch das Bundesgericht am 16.7.2014 die Anordnung der Verwahrung. Nach Ansicht des Bundesgerichts bedeutete diese keine rückwirkende Bestrafung, da die Verwahrung schon 1993 angeordnet hätte werden können und die Wiederaufnahme des Verfahrens durch neue Tatsachen gerechtfertigt gewesen wäre, die dem Gericht 1993 nicht bekannt waren und auch nicht bekannt sein hätten können. Da das ursprüngliche Urteil aufgehoben worden sei, läge auch keine Doppelbestrafung vor.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 7 Abs. 1 EMRK (Nulla poena sine lege) und von Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot).
1. Zulässigkeit
Der GH stellt [im Hinblick auf alle geltend gemachten Verletzungen] fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art. 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
(28) Der Bf. brachte vor, dass durch seine nachträgliche Sicherungsverwahrung sein Recht auf persönliche Freiheit [...] verletzt worden sei. [...]
1. Relevante Grundsätze
(32) [...] Der Ausdruck »Verurteilung« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK [...] meint einerseits die Feststellung der Schuld, nachdem [...] festgestellt wurde, dass eine Straftat begangen wurde, und andererseits die Verhängung einer Strafe oder anderen Maßnahme, die einen Entzug der Freiheit mit sich bringt.
(33) [...] Das Wort »nach« in lit. a bedeutet nicht einfach, dass die Freiheitsentziehung der »Verurteilung« zeitlich folgen muss: Überdies muss die »Freiheitsentziehung« auf die »Verurteilung« zurückzuführen sein bzw. dieser »nachfolgen und von ihr abhängen« [...]. Kurz gesagt braucht es einen hinreichenden kausalen Zusammenhang [...].
(34) In Fällen der Sicherungsverwahrung, die nach deutschem Recht nachträglich verfügt wurde, hat der GH klargestellt, dass nur die richterliche Entscheidung eines verurteilenden Gerichtes, die eine Person einer Straftat schuldig spricht, die Erfordernisse der »Verurteilung« [...] erfüllt. Im Gegensatz dazu genügt ein Urteil, das anknüpfend an eine vorhergehende Straftat, für die eine Person bereits verurteilt wurde, eine Sicherungsverwahrung nachträglich anordnet, den Erfordernissen der »Verurteilung« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK nicht, da es keine Feststellung beinhaltet, dass die Person schuldig ist, eine (neue) Straftat begangen zu haben. Wenn im Urteil des verurteilenden Gerichts keine Anordnung der Sicherungsverwahrung des Straftäters enthalten war, deckte dieses Urteil somit keine später angeordnete Sicherungsverwahrung [...].
(36) [...] Einer Person kann nicht seine Freiheit als »psychisch kranke Person« entzogen werden, wenn nicht die folgenden drei Mindesterfordernisse erfüllt sind: Erstens muss verlässlich gezeigt werden, dass sie psychisch krank ist, d.h. es muss vor einer zuständigen Behörde anhand objektiver ärztlicher Expertise eine echte geistige Störung nachgewiesen werden; diese muss zweitens ihrer Art oder ihrem Grad nach eine zwangsweise Unterbringung erfordern; drittens hängt die Gültigkeit der fortgesetzten Anhaltung vom Fortbestehen einer solchen Störung ab.
(37) [...] Grundsätzlich ist die »Haft« einer Person wegen ihrer psychischen Erkrankung nur »rechtmäßig« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder in einer anderen angemessenen Institution [...] erfolgt. [...] Dieses Prinzip gilt auch, wenn die Krankheit oder der Zustand nicht heilbar ist oder wenn die betroffene Person einer Behandlung nicht zugänglich ist […].
2. Anwendung der Grundsätze im vorliegenden Fall
(39) Der GH ist zunächst berufen [...] zu bestimmen, ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Bf. gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gerechtfertigt war […]. Er stellt anfangs fest, dass nur das Urteil des Geschworenengerichts Zürich von 1993/1995 […], in dem es [...] den Bf. zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt hatte, eine Grundlage für die Sicherungsverwahrung des Bf. iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK darstellen hätte können. Im Gegensatz dazu stellt die Anordnung der nachträglichen Verwahrung des Bf. durch das Bezirksgericht Zürich vom 15.8.2013 selbst keine »Verurteilung« dar, wie von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK gefordert, weil sie keine Feststellung einer (neuen) Straftat und einer Schuld für diese beinhaltete.
(40) Der GH stellt weiters fest, dass die Verurteilung von 1993/1995 und die richterliche Anordnung der nachträglichen Verwahrung von 2013 aufgrund der Anwendung der Regeln über die Wiederaufnahme von Verfahren (Art. 65 Abs. 2 StGB) miteinander verbunden sind. Laut dem Bundesgericht führte die Anwendung dieser Regeln dazu, dass die Anordnung der nachträglichen Verwahrung zu einem Teil des ursprünglichen Urteils des verurteilenden Gerichts wurde.
(41) Im Kontext der Entscheidung darüber, ob unter diesen Umständen ein ausreichender kausaler Zusammenhang zwischen der »Verurteilung« des Bf. durch das Geschworenengericht Zürich 1993/1995 und seiner nachträglichen Verwahrung bestand, erinnert der GH daran, dass er im Fall Kadusic/CH [...] bereit war anzuerkennen, dass die Tatsache, dass eine Maßnahme im Kontext von Verfahren zur Überprüfung einer in einem früheren Urteil verhängten Strafe angeordnet wurde, eine kausale Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und der strittigen Maßnahme darstellen kann.
(42) [...] Das Konventionssystem anerkennt, dass die Rechtskraft eines strafgerichtlichen Urteils entsprechend dem innerstaatlichen Recht eines Mitgliedstaats ausnahmsweise beseitigt und das Urteil zum Nachteil der verurteilten Person geändert werden kann, insbesondere wenn Beweise für neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen, die den Ausgang des Verfahrens beeinflussen können (vgl. Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK). Wenn sich ein Staat auf eine solche Vorgangsweise stützt, um eine kausale Verbindung zwischen einer ursprünglichen rechtskräftigen Verurteilung einer Person durch ein Urteil, durch das die fragliche Freiheitsentziehung nicht verhängt wurde, und der nachfolgenden Verhängung einer neuen, zusätzlichen Freiheitsentziehung zu schaffen, kann der GH jedoch das Bestehen einer solchen kausalen Verbindung nur dann anerkennen, wenn das ursprüngliche Strafverfahren wirklich »wiederaufgenommen« wird, nachdem neue Tatsachen oder Beweise entdeckt wurden, die von ausreichender Bedeutung sind, um sich
potentiell auf den »Ausgang des Verfahrens« auszuwirken. Eine »Wiederaufnahme« bedeutet üblicherweise, dass das ursprüngliche Urteil des Strafgerichts aufgehoben und über die Anklage erneut in einer neuen Entscheidung entschieden wird.
(43) [...] Im vorliegenden Fall wurde die Begehung der Straftaten, aufgrund derer der Bf. 1993/1995 für schuldig befunden wurde, durch ihn in dem hier zur Debatte stehenden wiederaufgenommenen Verfahren nicht erneut beurteilt oder erneut festgestellt. Auch wurde die 1993/1995 verhängte Freiheitsstrafe von 20 Jahren – die der Bf. vollständig verbüßt hat – nicht erneut geprüft. Im Sinne der Erfordernisse des Art. 65 Abs. 2 StGB haben die innerstaatlichen Gerichte nur geprüft, ob die Voraussetzungen für eine zusätzliche Sicherungsverwahrung des Bf. erfüllt waren und schon zur Zeit seiner Verurteilung erfüllt gewesen waren, ohne dass dies dem verurteilenden Gericht bekannt gewesen wäre.
(44) Der GH ist der Ansicht, dass unter diesen Umständen im hier zur Debatte stehenden wiederaufgenommenen Verfahren keine neue Feststellung einer Straftat in einer neuen Entscheidung erfolgte. Das Verfahren lief de facto auf die Auferlegung einer zusätzlichen, dem Schutz der Gesellschaft dienenden, Sanktion wegen einer Straftat hinaus, für die der Bf. bereits verurteilt wurde, ohne dass neue Elemente, die das Wesen dieser Straftat oder das Ausmaß der Schuld des Bf. betrafen, vorhanden gewesen wären.
(45) Unter diesen Umständen war die Sicherungsverwahrung mit dem Zweck der ursprünglichen Verurteilung des Bf. unvereinbar. Der GH kann daher nicht akzeptieren, dass das fragliche wiederaufgenommene Verfahren einen Kausalzusammenhang zwischen der ursprünglichen Verurteilung und der nachträglichen Sicherungsverwahrung herstellte. Da die »Verurteilung« des Bf. 1993/1995 keine Anordnung der Sicherungsverwahrung beinhaltete, gab es folglich keinen Kausalzusammenhang zwischen dieser Verurteilung und der nachträglichen Sicherungsverwahrung des Bf. iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK und seine Haft war somit nicht nach dieser Bestimmung gerechtfertigt.
(46) Betreffend die Frage, ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Bf. nach Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt sein könnte, stimmt der GH der Regierung zu, dass der Bf. im Sinne dieser Bestimmung eine »psychisch kranke« Person war. Er merkt im Besonderen an, dass in den zur Debatte stehenden Verfahren die inländischen Gerichte feststellten, dass der Bf. an einer schweren Persönlichkeitsstörung und Psychopathie litt und dass aufgrund seines Zustands ein großes Risiko bestand, dass er – wenn er freigelassen worden wäre – weitere ernstzunehmende gewalttätige Straftaten begangen hätte. Allerdings wird Sicherungsverwahrung normalerweise in einer ähnlichen Art vollstreckt wie eine Freiheitsstrafe und der Bf. wurde tatsächlich in einem gewöhnlichen Gefängnis angehalten. Demzufolge wurde der Bf. nicht in einer Einrichtung festgehalten, die für psychisch kranke Personen geeignet ist. [...] Die Freiheitsentziehung des Bf. war folglich nicht »rechtmäßig« iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK.
(47) Der GH vertritt weiters den Standpunkt […], dass keiner der anderen Unterabsätze des Art. 5 Abs. 1 EMRK als Rechtfertigung für die umstrittene Verwahrung des Bf. dienen kann.
(48) Dementsprechend gab es eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Zünd).
3. Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK
(49) Der Bf. behauptete, die Anordnung seiner nachträglichen Sicherungsverwahrung hätte das [...] Verbot der rückwirkenden Strafe verletzt […].
(51) Der Bf. brachte vor, [...] zum Zeitpunkt des Urteils des Geschworenengerichts wäre die nachträgliche Verhängung von Sicherungsverwahrung noch nicht möglich gewesen. Nach dem klaren Wortlaut von Art. 443 der Zürcher Strafprozessordnung [...] wäre eine Abänderung eines Urteils zum Nachteil des Beschuldigten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweise nur gegen eine freigesprochene Person möglich [...].
1. Relevante Grundsätze
(55) Was die Verhängung einer »schwereren Strafe« als der »zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung angedrohten« betrifft, hat der GH im Fall K./D im Hinblick auf eine rückwirkende oder nachträgliche Sicherungsverwahrung nach deutschem Recht festgestellt, dass es sich um eine rückwirkende »schwerere Strafe« handelte. Er stellte fest, dass es zur Zeit der Straftaten des Bf. nicht möglich war, den Bf. durch eine rückwirkende Anordnung in Sicherungsverwahrung zu nehmen, die erging, nachdem seine Verurteilung durch das entscheidende Gericht – das seine Sicherungsverwahrung jedenfalls nicht angeordnet hatte – rechtskräftig geworden war. Die Bestimmung, auf welche die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Bf. gestützt wurde, war erst nach den Straftaten des Bf. in das StGB aufgenommen worden.
2. Anwendung der Grundsätze im vorliegenden Fall
(57) Der GH stimmt zu, dass die Sicherungsverwahrung des Bf. angesichts insbesondere ihrer Anordnung durch die Strafgerichte unter Verweis auf eine Verurteilung wegen einer Straftat, ihrer einer Strafe ähnlichen Charakterisierung im innerstaatlichen Recht und der Tatsache, dass sie eine im Gefängnis [...] vollstreckte Freiheitsentziehung von unbestimmter Dauer mit sich bringt, als »Strafe« iSv. Art. 7 Abs. 1 EMRK einzuordnen ist.
(58) Bei der Entscheidung, ob die zur Debatte stehende nachträgliche Sicherungsverwahrung des Bf. eine »schwerere« Strafe »als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte« darstellt, bemerkt der GH eingangs, dass es zur Zeit der Straftaten des Bf. nicht möglich war, ihn durch eine rückwirkende Anordnung in Sicherungsverwahrung zu nehmen, nachdem seine 1993/1995 erfolgte Verurteilung durch das entscheidende Gericht – das jedenfalls seine Sicherungsverwahrung nicht angeordnet hatte – rechtskräftig geworden war. Art. 65 Abs. 2 iVm. Art. 64 Abs. 1 lit. b StGB, auf welche die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Bf. gestützt wurde, wurde erst mit 1.1.2007 und somit nach den 1983 und 1990 begangenen Straftaten des Bf. in das StGB aufgenommen. Wie der GH zudem feststellt, wurde zur Zeit der Begehung der Straftaten des Bf. eine Sicherungsverwahrung [...] vor einer mit demselben Urteil verhängten Freiheitsstrafe vollstreckt [...]. Sobald die Verwahrung beendet wurde [...], wurde die Vollstreckung der zusätzlichen Freiheitsstrafe entweder ebenfalls beendet oder die Dauer der Verwahrung wurde zumindest auf die noch zu verbüßende Freiheitsstrafe angerechnet. Im Gegensatz dazu wurde eine Freiheitsstrafe nach der neuen, geänderten Fassung des StGB vor einer angeordneten Verwahrung vollstreckt, womit der betroffenen Person eine längere Freiheitsentziehung drohte.
(59) Diese Feststellungen bringen den GH zu dem Schluss, dass auf den Bf. rückwirkend eine »schwerere« Strafe verhängt wurde.
(60) Folglich lief die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung des Bf. auf eine rückwirkende Verhängung einer schwereren Strafe hinaus. Demzufolge hat eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).
4. Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK
(61) Der Bf. brachte vor, dass durch die Anordnung seiner nachträglichen Verwahrung auch Art. 4 7. Prot. EMRK verletzt wurde [...].
(70) [...] Der Bf. war vor dem hier zur Debatte stehenden Verfahren, in dem die schweizerischen Strafgerichte wegen derselben Straftaten eine weitere Strafe – nämlich eine nachträgliche Sicherungsverwahrung – verhängten, vom Züricher Geschworenengericht 1993/1995 [...] iSv. Art. 4 Abs. 1 7. Prot. EMRK rechtskräftig verurteilt worden.
(71) […] Der GH stellt fest, dass Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK die »Wiederaufnahme« des Falls aufgrund neuer oder neu bekannt gewordener Tatsachen erlaubt, welche so bedeutsam sind, dass sie potentiell den »Ausgang des Verfahrens« berühren. Eine »Wiederaufnahme« iSv. Art. 4 Abs. 2 7. Prot. EMRK führt üblicherweise dazu, dass das ursprüngliche Urteil [...] aufgehoben und [...] erneut über die Anklage entschieden wird. Die umstrittene Wiederaufnahme im vorliegenden Fall setzte jedoch keine neuen Elemente voraus, die die Art der vom Bf. begangen Straftaten oder das Ausmaß seiner Schuld betrafen und eine neue Entscheidung über die strafrechtliche Anklage [...] ist nicht ergangen und sollte auch nicht ergehen. Dementsprechend kommt der GH zu dem Schluss, dass der Fall des Bf. nicht iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK wiederaufgenommen wurde.
(72) Folglich hat eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK stattgefunden (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Zünd).
5. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 40.000,– für immateriellen Schaden; € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Winterwerp/NL v. 24.10.1979 = EuGRZ 1979, 650
M./D v. 17.12.2009 = NL 2009, 371 = EuGRZ 2010, 25
Stanev/BG v. 17.1.2012 (GK) = NLMR 2012, 23
K./D v. 7.6.2012
Kadusic/CH v. 9.1.2018 = NLMR 2018, 23
Ilnseher/D v. 4.12.2018 (GK) = NLMR 2018, 526
Rooman/B v. 31.1.2019 (GK) = NLMR 2019, 28
Denis und Irvine/B v. 1.6.2021 (GK) = NLMR 2021, 234
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.11.2021, Bsw. 38958/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2021, 514) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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