EGMR Bsw2615/10

EGMRBsw2615/1021.6.2011

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Polednov gg. Tschechien, Zulässigkeitsentscheidung vom 21.6.2011, Bsw. 2615/10.

 

Spruch:

Art. 6 EMRK, Art. 7 EMRK - Verurteilung wegen Mitwirkung an einem Prozess, der für die Beschuldigten mit der Todesstrafe endete.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 7 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Hintergrund des Falles

Nach dem kommunistischen Umsturz im Februar 1948 fanden in der damaligen Tschechoslowakei mehrere politisch motivierte Verfahren statt, um Gegner des neuen totalitären Regimes zu eliminieren. Zu diesem Zweck wurden durch ein Sondergesetz auch ein spezielles Gericht und eine spezielle Strafverfolgungsbehörde eingerichtet, die der direkten politischen Kontrolle durch die Partei unterlagen. Der bedeutendste Prozess wurde 1950 gegen Milada Horkov und andere Gegner des kommunistischen Regimes wegen Hochverrat und Spionage geführt. Die Bf. war für den Fall als Staatsanwältin vorgesehen. Später wurde bekannt, dass das Verfahren insofern manipuliert worden war, als die Fragen von Schuld und Strafe bereits vor Prozessbeginn von der politischen Führung entschieden und die Beschuldigten unter Zuhilfenahme unmenschlicher Verhörmethoden gezwungen worden waren, Taten zu gestehen, die sie nicht begangen hatten. Vier von ihnen wurden schließlich zum Tod verurteilt, andere erhielten schwere Gefängnisstrafen. Am 27.6.1950 wurden die zum Tode Verurteilten exekutiert.

1968 wurden die Urteile in einer Phase politischer Entspannung vom Obersten Gerichtshof aufgehoben, da im Verfahren eine Vielzahl von Bestimmungen verletzt worden war. Die Fälle sollten neu untersucht werden, doch etablierte sich in den 70er-Jahren neuerlich ein kommunistisches Regime, womit das Interesse an der Sache verloren ging. Erst im Juni 1990, nach dem Fall des kommunistischen Regimes, wurden die Verfahren gegen die Beschuldigten endgültig eingestellt, da diese zu Unrecht und aus politischen Gründen verurteilt worden waren.

Das Strafverfahren gegen die Bf.

Im Oktober 2005 wurde ein Strafverfahren gegen die Bf. eingeleitet, da ihr vorgeworfen wurde, durch ihre Beteiligung als Staatsanwältin im Verfahren gegen Milada Horkov und andere zum Mord an den vier zum Tode verurteilten Beschuldigten beigetragen zu haben.

Am 1.11.2007 wurde die Bf. vom Prager Stadtgericht des Mordes für schuldig befunden und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Ihr wurde insbesondere zur Last gelegt, dass ihr bewusst gewesen sei, dass Schuld und Strafe bereits vor dem Verfahren von der politischen Führung entschieden worden waren und der Prozess lediglich dazu diente, der Liquidierung der Beschuldigten einen legalen Anschein zu verschaffen. Da das zur Zeit des Verfahrens in Kraft stehende Strafgesetzbuch von 1852 für Mord Todesstrafe vorsah und das Strafgesetzbuch aus 1961 deshalb günstiger für die Bf. war, wurde die Strafe nach Letzterem festgesetzt. Das Strafgesetzbuch aus 1961 sah zwar eine Verjährung nach 20 Jahren vor, doch musste ein Gesetz von 1993 beachtet werden, das die Verjährungsfrist für die Zeit von 1948 bis 1989 für Verurteilungen aus politischen Motiven unterbrach. Deshalb war die Tat der Bf. noch nicht verjährt.

Am 4.2.2008 hob das für die Berufung zuständige Prager Obergericht das Urteil des Stadtgerichts auf und verfügte die Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung der Tat. Laut dem Berufungsgericht hatte das Stadtgericht die Tat der Bf. rechtlich nicht korrekt eingeordnet. Die Bf. konnte aufgrund ihrer untergeordneten Rolle nicht als Mittäterin am Mord angesehen werden, sondern konnte ihr höchstens kriminelle Beteiligung daran zur Last gelegt werden. Dies war nach dem Strafgesetzbuch aus 1852 lediglich als entfernte Beteiligung am Mord zu qualifizieren, die mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis zu bestrafen war und einer fünfjährigen Verjährungsfrist unterlag. Somit war die Tat auch unter Berücksichtigung des Gesetzes von 1993 bereits seit 1994 verjährt. Das Strafgesetzbuch aus 1961 war in diesem Fall hingegen nicht günstiger für die Bf. und kam deshalb auch nicht zur Anwendung.

Gegen diese Entscheidung berief der Oberstaatsanwalt beim Obersten Gerichtshof. Dieser hob die Entscheidung vom 4.2.2008 auf und verwies die Sache an das Obergericht zurück, das dabei die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofes zu berücksichtigen hatte. Danach waren die Erfordernisse der von einem Staatsanwalt im Rahmen seiner Tätigkeit zu beachtenden zeitlosen ethischen Standards mit dem tatsächlichen Handeln der Bf. im Verfahren zu vergleichen. Aus den Umständen des Falles ergab sich, dass die Bf. somit als Mittäterin zu betrachten und deshalb keine Verjährung gegeben war.

Das Prager Obergericht hob in der Folge das Urteil des Stadtgerichts vom 1.11.2007 auf und entschied, dass die Bf. als direkte Beteiligte des Mordes schuldig war. Sie wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Die Tat unterlag nach dem Strafgesetzbuch 1852 keiner Verjährung und nach jenem aus 1961 einer solchen von zwanzig Jahren, womit sie im Jahr 2005 keinesfalls verjährt war. Da das Gesetz aus 1852 für Taten, die mit Todesstrafe bedroht waren, aber sich mehr als zwanzig Jahre vor Eröffnung des Strafverfahrens zugetragen hatten, eine Maximalstrafe von zwanzig Jahren vorsah, war es günstiger als das Strafgesetzbuch aus 1961 und daher heranzuziehen.

Am 19.3.2009 verwarf der Oberste Gerichtshof eine Berufung der Bf. als unbegründet. Noch im März trat die Bf. ihre Haftstrafe an.

Am 27.4.2009 brachte die Bf. eine Verfassungsbeschwerde ein, die der Verfassungsgerichtshof allerdings am 16.7.2009 als offensichtlich unbegründet zurückwies, da die Bf. keine Verletzung ihrer Grundrechte dargetan hatte.

Im März 2010 wurden der Bf. aufgrund von Amnestien aus 1953 bzw. 1990 drei Jahre von ihrer Strafe erlassen. Am 21.12.2010 erließ der Präsident der Bf. den Rest ihrer Strafe. Sie wurde am selben Tag aus dem Gefängnis entlassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege), da das Verfahren gegen Milada Horkov und andere nach den damals in Kraft stehenden Gesetzen abgewickelt wurde und die mit dem Fall der Bf. befassten Gerichte nicht dargetan hätten, welche Bestimmungen sie verletzt habe, um einen Mord zu begehen. Die Bf. rügt weiters eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da das Prager Obergericht ihr eine Anhörung verweigert bzw. der Verfassungsgerichtshof eine solche einfach unterlassen habe. Die Bf. rügt daneben noch verschiedene weitere Konventionsverletzungen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK

Der GH ist der Ansicht, dass er sich im vorliegenden Fall auf die Frage beschränken kann, ob das Verhalten der Bf. im Prozess gegen Milada Horkov und andere nach dem nationalen, damals auf tschechischem Gebiet in Geltung befindlichen Recht strafbar war und ob das der Bf. auch bewusst sein musste.

Der GH stellt fest, dass es ihm nicht zusteht, über die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bf. zu befinden, da dies in erster Linie den nationalen Rechtsprechungsorganen obliegt. Er untersucht nur, ob die Handlung der Bf. zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gesetzt wurde, im Lichte des Art. 7 Abs. 1 EMRK einen Straftatbestand erfüllt hat, der insbesondere durch das damalige Recht der ehemaligen Tschechoslowakei ausreichend zugänglich und vorhersehbar festgelegt war.

Der GH ist der Meinung, dass die Anwendung und Auslegung der zur betreffenden Zeit in Geltung stehenden strafrechtlichen Bestimmungen durch die nationalen Gerichte keine willkürlichen Züge aufweist und dass die strenge Auslegung dieser tschechoslowakischen Gesetzgebung Art. 7 Abs. 1 EMRK entsprach. Die Praxis der Liquidierung von politischen Gegnern über Todesstrafen, die am Ende von Prozessen verhängt werden, die auf krasse Weise das Recht auf ein faires Verfahren und vor allem das Recht auf Leben verkennen, wird nicht durch Art. 7 Abs. 1 EMRK geschützt. Im vorliegenden Fall hat diese Praxis die Verfassung und die Gesetzgebung zu jener Zeit, auf die sie sich eigentlich stützen sollte, ihrer Substanz entleert und kann daher nicht als »Recht« iSd. Art. 7 EMRK qualifiziert werden.

Auch das Argument der Bf., sie habe lediglich die Anordnungen ihrer Vorgesetzten befolgt, kann der GH nicht akzeptieren. Er bemerkt zunächst, dass die Bf. nicht behauptet, dass ihr die Verfassung und die relevanten Gesetze nicht zugänglich gewesen seien, womit die Aussage »Unwissenheit schützt vor Strafe nicht« auch für sie gilt. Außerdem hat der GH bereits festgestellt, dass sogar ein einfacher Soldat nicht vollständig und blind auf Befehle verweisen kann, die auf krasse Weise nicht nur die Grundsätze der nationalen Gesetzgebung, sondern auch die internationalen Menschenrechte und insbesondere das Recht auf Leben verletzen. Daher kommt der GH zum Schluss, dass diese Aussage auch im Fall der Bf. in vollem Umfang gültig sein muss, da diese als Staatsanwältin tätig war, nachdem sie vorbereitende rechtliche Studien absolviert sowie eine gewisse praktische Prozesserfahrung erworben hatte. Aus dem vorhandenen Beweismaterial hatten die nationalen Gerichte zudem geschlossen, dass die Bf. sich der Tatsache bewusst sein musste, dass die Fragen von Schuld und Strafe bereits vor dem Verfahren von der politischen Führung entschieden worden waren und dadurch die Grundsätze der Justiz lächerlich gemacht wurden.

Unter diesen Umständen kommt der GH zu dem Schluss, dass die Bf., die als Staatsanwältin dazu beigetragen hatte, dem politischen Prozess gegen Milada Horkov und andere einen legalen Anschein zu verschaffen und die sich mit dieser nicht tragbaren Praxis identifiziert hatte, sich nicht den Schutz des Art. 7 EMRK zunutze machen konnte. Eine andere Schlussfolgerung würde Inhalt und Ziel dieser Bestimmung verkennen, die darauf abzielt, dass niemand Verfolgungen, Verurteilungen oder Sanktionen unterworfen wird, die willkürlich sind. Im Übrigen bedeutet die Tatsache, dass die Bf. nicht schon in der ehemaligen kommunistischen Tschechoslowakei, sondern erst nach der Wiederbegründung der Demokratie von den tschechischen Behörden verfolgt und verurteilt wurde, in keiner Weise, dass ihre Handlungen nicht bereits einen Straftatbestand nach dem zum betreffenden Zeitpunkt in Geltung stehenden tschechoslowakischen Recht erfüllten.

Insgesamt kommt der GH zum Ergebnis, dass die Tat der Bf. zum Zeitpunkt, als sie begangen wurde, einen Straftatbestand erfüllte, der im damaligen Recht ausreichend zugänglich und vorhersehbar festgelegt war.

Nach Meinung des GH wurde der Grundsatz der Gesetzlichkeit von Straftatbeständen und Strafen wie von Art. 7 Abs. 1 EMRK garantiert daher eingehalten. Daraus folgt, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet iSd. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und daher zurückzuweisen ist (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Der GH erinnert an seine Rechtsprechung, wonach das Recht auf ein faires Verfahren erfordert, dass alle Parteien die angemessene Möglichkeit erhalten, ihren Fall nicht unter ungünstigeren Umständen vortragen zu müssen als ihr Gegner, Kenntnis von den von der anderen Partei vorgelegten Beweisen zu erlangen und sich zu diesen auch zu äußern.

Im vorliegenden Fall haben sich die nationalen Gerichte auf jene Beweise gestützt, die im Rahmen des Vorverfahrens gesammelt und in der Verhandlung vor dem Prager Stadtgericht im Oktober 2007 beigebracht wurden. Die Verteidigung, die Zugang zur Ermittlungsakte hatte, hatte die Möglichkeit, von diesen Beweisen Kenntnis zu erlangen, bevor die Sache dem Gericht übertragen wurde. Es muss festgestellt werden, dass die Bf. sich nie gegen die Verwendung dieser Beweise gewehrt und auch nicht behauptet hat, dass sie unter Missachtung ihrer Konventionsrechte erlangt worden waren. In der Verhandlung hat keine der Parteien vorgeschlagen, die genannten Beweise zu ergänzen und wurde kein Zeuge gehört. Auch wenn die Bf. freiwillig auf ihre Teilnahme an der Verhandlung verzichtet hat, so konnte ihr doch ihr Verteidiger in ihrer Gesamtheit folgen und ein Schlussplädoyer halten. Nach Ansicht des GH hinderte den Anwalt der Bf. nichts daran, sich bei dieser Gelegenheit zu den verschiedenen Beweisen zu äußern.

Es muss auch erwähnt werden, dass die Bf. anlässlich der Verhandlung vom 9.9.2008 persönlich vor dem Obergericht erschienen ist und dort ihr Plädoyer gehalten hat, in dem sie alle ihre Argumente, Einwände und Anmerkungen vorbringen konnte. Sie kann daher nicht behaupten, dass die Berufungsinstanz ihr eine Anhörung verweigert habe.

Was das Nichtabhalten einer Verhandlung vor dem Verfassungsgericht anbelangt, bemerkt der GH, dass öffentliche Verhandlungen vor den davor angerufenen Gerichten abgehalten wurden, wo auch die faktischen und rechtlichen Gesichtspunkte untersucht wurden. Das Verfahren vor dem Verfassungsgericht, das auf die Untersuchung von Fragen der Verfassungsmäßigkeit beschränkt ist, umfasst hingegen keine direkte und vollständige Beurteilung der Begründetheit der Anklage der Bf. Deshalb schließt der GH, dass die Nichtabhaltung einer Verhandlung vor dem Verfassungsgericht durch die öffentlichen Verhandlungen im maßgeblichen Stadium des Verfahrens ausreichend kompensiert wurde.

Nach Ansicht des GH kann man somit nicht sagen, dass die Verteidigung keine Möglichkeit hatte, sich zu den Anschuldigungen und den Beweisen, die den nationalen Gerichten als Grundlage für ihre Entscheidungen dienten, zu äußern. Die Beschwerde ist deshalb offensichtlich unbegründet iSd. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und damit unzulässig (einstimmig).

Zu den übrigen behaupteten Verletzungen

Hinsichtlich der übrigen von der Bf. behaupteten Verletzungen der Konvention bemerkt der GH, dass diesbezüglich nicht einmal der Anschein einer Konventionsverletzung gegeben und die Beschwerde deswegen auch dahingehend als unzulässig einzustufen ist (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK) = NL 2001, 59 = EuGRZ 2001, 210 = ÖJZ 2002, 274

K.-H. W./D v. 22.3.2001 (GK) = NL 2001, 59 = EuGRZ 2001, 219

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 21.6.2011, Bsw. 2615/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 203) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_4/Polednova.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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