Spruch:
Art. 2 EMRK - Tötung eines Demonstranten während des G8-Gipfels in Genua.
Keine Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich der Angemessenheit der Gewaltanwendung (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich der positiven Verpflichtung, das Leben von Carlo Giuliani zu schützen (5:2 Stimmen).
Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich der sich aus dieser Bestimmung ergebenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen (4:3 Stimmen).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 38 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Je € 15.000,- an die Bf. Giuliano Giuliani und Adelaide Gaggio und € 10.000,- an die Bf. Elena Giuliani für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Bei den drei Bf. handelt es sich um die Eltern und die Schwester von Carlo Giuliani, der während des G8-Gipfels in Genua 2001 ums Leben kam.
1. Der Hintergrund des G8-Gipfels in Genua:
Von 19.-21.7.2001 fand in Genua der Gipfel der G8 statt, der von zahlreichen Demonstrationen und umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen begleitet war. Das Stadtzentrum Genuas, wo die Vertreter der G8 zusammentraten, wurde zur „roten Zone" erklärt. Nach der am 19.7. vom Einsatzleiter erlassenen Anordnung bestand die Aufgabe der Sicherheitskräfte primär darin, das Eindringen von Demonstranten in die „rote Zone" zu verhindern. Mit dieser Anordnung wurden die bestehenden Pläne für den Polizeieinsatz am kommenden Tag kurzfristig geändert, weil ein Protestmarsch der „Tute bianche" („Weiße Overalls") angekündigt und genehmigt worden war.
Für die Koordinierung der Einsatzkräfte wurde eine Kommandozentrale eingerichtet, die über Funk mit den Einheiten verbunden war. Eine direkte Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Einheiten war nicht möglich.
Am 20.7. setzte sich der Marsch der „Tute bianche" gegen 13:30 Uhr in Bewegung. Die beteiligten Organisationen hatten sich in bewusster Abgrenzung zu gewaltbereiten Gruppen dem zivilen Widerstand verschrieben. Allerdings war das strategische Ziel des Marsches, in die „rote Zone" einzudringen und den Gipfel zu verhindern.
Nachdem die bis dahin friedlich verlaufene Demonstration kurz vor 15:00 Uhr von einer Kompanie der Carabinieri mit Tränengas und Schlagstöcken angegriffen wurde, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen.
Gegen 17:00 Uhr wurde eine äußerst aggressiv erscheinende Gruppe von Demonstranten nahe der Piazza Alimonda gesichtet. Auf Befehl der Einsatzzentrale gingen die Carabinieri gegen diese vor, wobei sie von zwei Jeeps begleitet wurden. Als es den Demonstranten kurz darauf gelang, die Polizeikräfte zurückzudrängen, blieben die beiden Fahrzeuge auf der Piazza Alimonda zurück.
2. Der Tod von Carlo Giuliani:
Als einer der beiden Jeeps durch einen Müllcontainer blockiert steckenblieb, näherte sich sofort eine Gruppe von Demonstranten, die mit Steinen, Eisenstangen und Stöcken bewaffnet waren. Sie bewarfen das Fahrzeug mit Steinen und schlugen die Heckscheibe sowie die beiden hinteren Fenster ein. Im Fahrzeug befanden sich drei Carabinieri. Einer von ihnen, Mario Placanica (im Folgenden: M. P.), war kurz zuvor eingestiegen, um den Einsatzort zu verlassen, da er an den Folgen des Tränengases litt. Er lag verletzt und in Panik zusammengekauert auf dem Rücksitz und versuchte, sich mit einem Schild zu schützen. Schließlich rief er den Demonstranten zu: „Verschwindet, oder ich töte euch!" und zog seine Pistole. Er hielt sie in Richtung der zerstörten Heckscheibe und gab schließlich zwei Schüsse ab.
Der erste Schuss traf Carlo Giuliani, der nur wenige Meter hinter dem Auto stand und gerade einen leeren Feuerlöscher aufgehoben hatte, ins Gesicht. Er stürzte hinter dem linken Hinterrad zu Boden.
Kurz darauf gelang es dem Fahrer des Jeeps, Filippo Cavataio (im Folgenden: F. C.), den Motor wieder zu starten. Um das Fahrzeug aus der Gefahrenzone zu bringen, setzte er zurück, wobei er den Körper von Carlo Giuliani überrollte. Dann legte er den ersten Gang ein und fuhr erneut über den am Boden Liegenden, als er den Platz verließ.
Auf der anderen Seite der Piazza Alimonda stationierte Polizeieinheiten griffen schließlich ein und vertrieben die Demonstranten. Um 17:27 Uhr forderte einer der Polizisten einen Krankenwagen an. Der wenig später eintreffende Arzt konnte nur noch den Tod von Carlo Giuliani feststellen.
3. Die Ermittlungen der italienischen Behörden:
Im Zuge der noch am 20.7. eröffneten Ermittlungen gegen M. P. und F. C. wurden die für den Einsatz verantwortlichen Beamten, zahlreiche weitere Polizisten sowie einige Demonstranten als Zeugen befragt. Am folgenden Tag wurde eine Autopsie durchgeführt. Nach deren Abschluss wurde der Leichnam freigegeben und am 23.7. auf Wunsch der Familie eingeäschert. Das gerichtsmedizinische Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass Carlo Giuliani durch den Schuss getötet wurde. Das Überfahrenwerden hatte hingegen nur unerhebliche Verletzungen nach sich gezogen.
Einem von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen ballistischen Gutachten zufolge wies die Autopsie schwere Mängel auf. Die Gutachter bedauerten, dass der Leichnam bereits eingeäschert worden war. Sie stellten fest, dass ein auf den angefertigten Röntgenbildern erkennbarer Metallgegenstand im Schädel des Verstorbenen bei der Autopsie nicht untersucht worden war. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es sich dabei um ein Fragment der Kugel handle, die von einem harten Gegenstand abgelenkt worden sein müsse, bevor sie Carlo Giuliani traf. Die wahrscheinlichste Hypothese sei, dass sie einen der gegen das Auto geworfenen Steine in der Luft getroffen hatte und dadurch nach unten abgelenkt worden war.
Aufgrund dieser Rekonstruktion des Tathergangs ordnete die Untersuchungsrichterin am 5.5.2003 die Einstellung des Strafverfahrens an. Sie nahm an, dass M. P. in die Luft geschossen hätte, um die Angriffe der Demonstranten abzuwehren. Carlo Giuliani hätte er dabei nicht gesehen. Die Gefahr, jemanden zu töten, habe er in Kauf genommen. Seine strafrechtliche Verantwortlichkeit sei dennoch ausgeschlossen: erstens weil der Waffengebrauch angesichts der Situation extremer, gegen die öffentliche Ordnung gerichteter Gewalt nach Art. 53 StGB gerechtfertigt war, (Anm.: Nach Art. 53 des italienischen Strafgesetzbuchs macht sich ein staatliches Organ durch den Gebrauch einer Waffe nicht strafbar, wenn dieser dazu dient, eine Gewalttat abzuwehren oder den Versuch zu vereiteln, sich der Staatsgewalt zu widersetzen.) zweitens weil er als Akt der Selbstverteidigung anzusehen sei. M. P. sei zu Recht von einer Bedrohung ausgegangen und habe mit dem Schusswaffengebrauch angemessen reagiert.
Die Anträge der Bf. auf weitere Ermittlungen wurden abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen Behandlung), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 38 EMRK (Mitwirkungspflicht des belangten Staats).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK:
Die Bf. bringen vor, dass Carlo Giuliani durch Sicherheitsorgane getötet worden sei. Die Behörden hätten sein Leben nicht geschützt und auch keine wirksame Untersuchung durchgeführt.
1. Allgemeine Grundsätze:
Art. 2 EMRK umfasst nicht nur absichtliche Tötungen, sondern auch Situationen, in denen eine Gewaltanwendung erlaubt ist, die als unbeabsichtigte Folge zu einer Tötung führt. Jede Gewaltanwendung muss in Hinblick auf die in Art. 2 Abs. 2 EMRK genannten Ausnahmen unbedingt erforderlich sein.
Art. 2 Abs. 1 1. Satz EMRK verpflichtet den Staat nicht nur, von absichtlichen und unrechtmäßigen Tötungen abzusehen, sondern auch dazu, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens zu treffen. So müssen etwa Polizeieinsätze ausreichend gesetzlich geregelt sein und angemessene und effektive Vorkehrungen gegen Willkür und Machtmissbrauch bestehen. Bei der Beurteilung von Tötungen muss der GH nicht nur die Handlungen der staatlichen Organe berücksichtigen, sondern auch die Begleitumstände, wie deren Planung und Kontrolle.
Die Verpflichtung zum Schutz des Lebens verlangt auch, dass eine effektive amtliche Untersuchung durchgeführt wird, wenn eine Person durch Gewaltanwendung getötet wurde.
2. Anwendung im vorliegenden Fall:
a) Zur Angemessenheit der Gewaltanwendung:
Die innerstaatliche Untersuchung ergab, dass Carlo Giuliani durch eine von M. P. abgefeuerte Kugel getötet wurde. Die Einstellung des Verfahrens beruhte nicht auf dem Fehlen eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Schuss und dem Tod Carlo Giulianis. Die Untersuchungsrichterin ging jedoch nach einer sorgfältigen Beurteilung der Umstände von einem gerechtfertigten Schusswaffengebrauch und von Notwehr aus.
Angesichts der Feststellungen der Untersuchungsrichterin und in Ermangelung von Hinweisen, die ihn zu einer anderen Schlussfolgerung führen würden, sieht der GH keinen Grund zu bezweifeln, dass sich M. P. redlich in Lebensgefahr wähnte und dass er seine Waffe als Mittel zur Verteidigung gegen die auf die Insassen des Jeeps gerichteten Angriffe einsetzte, die er als direkte Bedrohung seiner Person empfand. Dies ist einer der in Art. 2 Abs. 2 EMRK aufgezählten Fälle, in denen der Einsatz tödlicher Gewalt legitim sein kann. Selbstverständlich muss aber ein Gleichgewicht zwischen dem Ziel und den Mitteln bestehen. In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob die Anwendung tödlicher Gewalt legitim war. Dabei kann der GH seine eigene Einschätzung der Situation nicht an die Stelle jener des Beamten setzen, der in der Hitze des Moments reagieren musste, um eine redlich empfundene Gefahr für sein Leben abzuwehren.
Bevor er die Schüsse abgab, schrie M. P. und hielt die Waffe so in seiner Hand, dass sie von außen sichtbar war. M. P. war mit einer Gruppe von Demonstranten konfrontiert, die das Fahrzeug, in dem er sich befand, gewaltsam angriffen und seine Warnungen missachteten. Unter diesen Umständen überschritt die Anwendung tödlicher Gewalt, obwohl höchst bedauerlich, nicht die Grenzen dessen, was unbedingt erforderlich war um abzuwehren, was M. P. redlich als wirkliche und unmittelbare Gefahr für sein Leben und jenes seiner Kollegen empfand.
M. P. befand sich, als er den Schuss abgab, in einem panischen Zustand und handelte aus eigenem Antrieb. Es ist daher nicht erforderlich, die Vereinbarkeit der anwendbaren Vorschriften über den polizeilichen Waffengebrauch mit Art. 2 EMRK in abstracto zu prüfen, da die Situation die Verteidigung eines Mitglieds der Sicherheitskräfte betrifft, das außer Dienst gestellt worden war und sich in einem ungepanzerten Fahrzeug befand, und in den Anwendungsbereich von Art. 53 StGB fällt.
Angesichts dieser Feststellungen stellt der GH fest, dass keine unverhältnismäßige Gewaltanwendung und somit keine Verletzung des substantiellen Aspekts von Art. 2 EMRK vorliegt (einstimmig).
b) Zur positiven Verpflichtung, das Leben von Carlo Giuliani zu schützen:
Als nächstes ist zu prüfen, ob die Polizeioperation so geplant, organisiert und durchgeführt wurde, dass die Anwendung tödlicher Gewalt so weit wie möglich minimiert wurde.
Wenn ein Staat ein internationales Treffen beherbergt, das ein sehr hohes Risiko mit sich bringt, muss er angemessene Sicherheitsmaßnahmen treffen und alle Anstrengungen unternehmen, um die Aufrechterhaltung der Ordnung sicherzustellen. Daher ist er verpflichtet, Störungen zu vermeiden, die zu gewaltsamen Zwischenfällen führen könnten. Sollten derartige Zwischenfälle dennoch auftreten, müssen die Behörden bei ihrer Reaktion auf die Gewalt Sorgfalt walten lassen, um die Gefahr der Anwendung tödlicher Gewalt möglichst gering zu halten.
Der GH muss versuchen festzustellen, ob ein direkter Zusammenhang zwischen dem Tod Carlo Giulianis und möglichen Versäumnissen bei der Vorbereitung und Durchführung der Operation bestand.
Was die Ereignisse auf der Piazza Alimonda betrifft, müssen sicher einige Fragen gestellt werden: Hätte M. P., der durch Stress und Panik gezeichnet war, eine solche Handlung gesetzt, wenn er erfahren und angemessen ausgebildet gewesen wäre? Hätte der Angriff auf den Jeep im Fall einer besseren Koordinierung der Einsatzkräfte abgewehrt werden können, ohne Opfer zu fordern? Hätte die Tragödie vermieden werden können, wäre darauf geachtet worden, den Jeep nicht ungeschützt mitten im Geschehen zurückzulassen? Die Antworten auf diese Fragen gehen weder aus der innerstaatlichen Untersuchung hervor noch aus den sonstigen vorliegenden Dokumenten. Unter diesen Umständen muss sich der GH davor hüten, die Ereignisse im Nachhinein neu zu bewerten.
Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Operation der Sicherheitskräfte nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet war, da das Risiko von Ausschreitungen unvorhersehbar war. Der Einsatz war daher sehr breit angelegt und in gewisser Weise unklar definiert. Zudem handelten die Sicherheitskräfte an diesem Tag unter enormem Druck. Der Befehl, gegen die Demonstranten auf der Piazza Alimonda vorzugehen, beruhte auf einer gerechtfertigten taktischen Entscheidung anhand der Entwicklung der Situation. Die folgenden Ereignisse konnten daher nicht vorhergesehen werden. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass der Zwischenfall, der zum Tod Carlo Giulianis führte, von relativ kurzer Dauer war.
Angesichts dessen und der Tatsache, dass in dieser Hinsicht keine innerstaatliche Untersuchung durchgeführt wurde (was der GH missbilligt), ist der GH nicht in der Lage, das Bestehen eines direkten und unmittelbaren Zusammenhangs zwischen etwaigen Versäumnissen bei der Vorbereitung und Durchführung der Operation und dem Tod Carlo Giulianis festzustellen.
Da somit nicht erwiesen ist, dass die italienischen Behörden ihre Pflicht verletzt hätten, das Leben von Carlo Giuliani zu schützen, liegt in dieser Hinsicht keine Verletzung des substantiellen Aspekts von Art. 2 EMRK vor (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richter Bratza, gefolgt von Richter Sikuta).
c) Zu den verfahrensrechtlichen Verpflichtungen:
Der GH misst den folgenden Aspekten besondere Bedeutung zu: Erstens teilt er die von der Staatsanwaltschaft geäußerten Zweifel hinsichtlich der Oberflächlichkeit der ersten gerichtsmedizinischen Untersuchung. Die Autopsie und die Feststellungen in dem auf ihr beruhenden Bericht waren kein geeigneter Ausgangspunkt für eine effektive Untersuchung. Sie ließen zu viele Fragen unbeantwortet und entsprachen nicht den Mindestanforderungen, die an Ermittlungen in einem eindeutigen Tötungsfall gestellt werden. Diese Versäumnisse wiegen besonders schwer angesichts der vom Staatsanwalt bereits am 23.7. erteilten Freigabe des Leichnams zur Einäscherung. Der GH erachtet diese Freigabe, die noch vor Vorliegen der Ergebnisse der Autopsie erteilt wurde, als höchst bedauerlich, da die Einäscherung die weiteren Ermittlungen wesentlich behinderte.
Es überrascht angesichts dieser Versäumnisse nicht, dass das Strafverfahren eingestellt wurde. Die Umstände des Todes von Carlo Giuliani wurden somit von den Behörden nicht angemessen untersucht.
Zweitens ist festzuhalten, dass sich die innerstaatliche Untersuchung auf die Feststellung einer etwaigen Verantwortlichkeit der beiden Carabinieri beschränkte. Ein solcher Zugang entspricht nicht den Vorgaben von Art. 2 EMRK, der umfassende, unparteiische und strenge Ermittlungen verlangt, die sich auch auf die Umstände des Todes beziehen.
Es wurde nie ein Versuch unternommen, den Gesamtzusammenhang zu untersuchen und zu entscheiden, ob die Behörden die Operation in einer Art und Weise geplant und geleitet hatten, die geeignet war, Vorfälle wie jenen, der zum Tod Carlo Giulianis geführt hatte, zu vermeiden. Insbesondere wurde nicht versucht festzustellen, warum M. P. nicht direkt in ein Krankenhaus gebracht, sondern mit einer geladenen Pistole bewaffnet in einen ungeschützten Jeep gesetzt worden war.
Die Untersuchung war insofern nicht angemessen, als nicht versucht wurde zu ermitteln, wer für die Situation verantwortlich war, in der sich M. P. und F. C. wiederfanden. Daher liegt eine Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts von Art. 2 EMRK vor (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richter Casadevall und Garlicki, Sondervotum von Richter Zagrebelsky).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:
Die Bf. bringen vor, das Fehlen sofortiger Hilfe nachdem Carlo Giuliani zu Boden gestürzt war und das Überfahren seines Körpers durch den Jeep hätten zu seinem Tod beigetragen und eine unmenschliche Behandlung dargestellt.
Aus dem Verhalten der Beamten kann keine Absicht abgeleitet werden, Carlo Giuliani Schmerzen oder Leid zuzufügen. Der Sachverhalt ist daher unter Art. 2 EMRK zu prüfen. Eine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK ist nicht notwendig (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 und Art. 13 EMRK:
Die Bf. beschweren sich darüber, nicht in den Genuss von Ermittlungen gekommen zu sein, die den Anforderungen von Art. 6 und Art. 13 EMRK entsprochen hätten.
Angesichts der Umstände des Falles und der Gründe, die den GH zur Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK bewegten, erachtet er eine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6 und Art. 13 EMRK nicht für notwendig (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 38 EMRK:
Die Bf. bringen vor, die Regierung hätte nicht alle erforderlichen Informationen bereit gestellt und damit ihre Pflicht verletzt, alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren.
Obwohl die von der Regierung vorgelegten Informationen nicht alle von den Bf. angesprochenen Punkte betrafen, wurde der GH durch diese Unvollständigkeit der Informationen nicht daran gehindert, die Beschwerde zu prüfen. Daher ist keine Verletzung von Art. 38 EMRK festzustellen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Je € 15.000,- an die Bf. Giuliano Giuliani und Adelaide Gaggio und € 10.000,- an die Bf. Elena Giuliani für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
McCann u.a./GB v. 27.9.1995, A/324, NL 1995, 219; ÖJZ 1996, 233.
Andronicou und Constantinou/CYP v. 9.10.1997, NL 1997, 264; ÖJZ 1998, 674.
Cakici/TR v. 8.7.1999 (GK), NL 1999, 128; ÖJZ 2000, 475.
Makaratzis/GR v. 20.12.2004 (GK), NL 2005, 6.
Bubbins/GB v. 17.3.2005, NL 2005, 71.
Ramsahai u.a./NL v. 15.5.2007 (GK), NL 2007, 128.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.8.2009, Bsw. 23458/02, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 233) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_4/Giuliani.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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