BFH X R 2/93

BFHX R 2/9331.8.1994

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und wurden für das Streitjahr 1989 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. In der Einkommensteuer-Erklärung 1989 beantragten sie eine Steuerermäßigung in Höhe von ... DM für ein Darlehen in Höhe von ... DM gemäß §§ 16, 17 des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG). Als Beleg reichten sie dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -- FA --) die Ablichtung einer Bescheinigung einer Berliner Bank vom 31. Dezember 1989 ein. Mit Schreiben vom 9. Januar 1991 bat das FA den Prozeßvertreter der Kläger "zur Gewährung der Berlinvergünstigung ... um Vorlage der Originalbescheinigung der Berliner Bank". Dieser Aufforderung kamen die Kläger nicht nach. Im Einkommensteuerbescheid vom 27. März 1991 berücksichtigte das FA die Steuer ermäßigung nicht. Der Einkommensteuerbescheid wurde am 27. März 1991 durch Aufgabe zur Post versandt. Die Kläger legten am 2. Mai 1991 Einspruch ein, den das FA wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig verwarf.

Das Finanzgericht (FG) hat der auf Feststellung der Nichtigkeit gerichteten Klage insoweit stattgegeben, als das FA die Steuer ermäßigung nach dem BerlinFG versagt hat; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Feststellungsklage i. S. des § 41 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei zulässig; die Kläger hätten ihre Rechte nicht durch eine Anfechtungsklage wahren können, denn der Einspruch sei verspätet bei dem FA eingegangen. Die Feststellungsklage sei auch teilweise begründet. Nach § 17 Abs. 7 BerlinFG genüge es, wenn eine Ablichtung der Originalbescheinigung vorgelegt werde. Weder besage die genannte Vorschrift etwas anderes, noch ergäbe sich eine Verpflichtung zur Vorlage einer Originalbescheinigung aus anderen gesetzlichen Vorschriften. Eine Ablichtung müsse ausreichen, wenn wie vorliegend eine Fälschung oder ein Mißbrauch ausgeschlossen sei. Die Verfügung der Oberfinanzdirektion (OFD) Hannover vom 10. Februar 1989 (Einkommensteuer-Kartei BerlinFG Karte 3.3), auf die sich das FA berufe und derzufolge eine Originalbescheinigung eingereicht werden müsse, habe keine gesetzliche Grundlage. Der Mangel der Rechtsgrund lage für die Aufforderung, eine Originalbescheinigung vorzulegen, wiege so schwer, daß er zur Teilnichtigkeit des Steuerbescheids (§ 125 Abs. 4 der Abgabenordnung -- AO 1977 --) führe.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 125 AO 1977 und des § 17 Abs. 5 und 7 BerlinFG. Letztere Vorschrift setze für Zwecke des Nachweises die Vorlage einer Originalbescheinigung voraus. Auch der bundeseinheitliche Vordruck "Anlage B (90)", der bei Inanspruchnahme von Berlinvergünstigungen beizufügen sei, verlange die Vorlage des Originals. Die Möglichkeit eines Mißbrauchs durch Verwendung von Fotokopien sei hier möglicherweise nicht konkret, aber generell -- unter Berücksichtigung der modernen Vervielfältigungs- und Computertechnik -- nicht von der Hand zu weisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt, soweit das FG der Klage stattgegeben hat, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage.

1.

Ein Verwaltungsakt ist nichtig i. S. von § 125 Abs. 1 AO 1977, wenn er an einem besonders schweren Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben. In der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts wird als Ausnahme von dem Grundsatz angesehen, daß ein Akt der staatlichen Gewalt die Vermutung seiner Gültigkeit in sich trage (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 1. Oktober 1981 IV B 13/81, BFHE 134, 223, BStBl II 1982, 133). Ein Verwaltungsakt ist nicht allein deswegen nichtig, weil er der gesetzlichen Grundlage entbehrt oder weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften -- auch diejenigen des formellen Rechts (Verfahrensrechts) -- unrichtig angewendet worden sind. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, hat die Rechtsprechung einen besonders schweren Fehler nur dann angenommen, wenn er die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, daß von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen (BFH-Urteil vom 1. Oktober 1992 IV R 34/90, BFHE 169, 503, 506, BStBl II 1993, 259, m. w. N. der Rechtsprechung). Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muß von Fall zu Fall anhand der einschlägigen materiell-rechtlichen oder verwaltungsverfahrensrechtlichen Rechtsvorschriften beurteilt werden.

Entgegen der Auffassung des FG war das FA grundsätzlich berechtigt, sich von den Klägern das Original der Bescheinigung vorlegen zu lassen. Rechtsgrundlage hierfür ist § 17 Abs. 7 BerlinFG. Hiernach ist zum Nachweis bestimmter die Steuer begünstigung begründenden Voraussetzungen "eine Bescheinigung der Senatsver waltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin, oder der von ihr bestimmten Stelle vorzulegen". Nach § 97 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 kann die Finanzbehörde von den Beteiligten die Vorlage von Büchern, Aufzeichnungen, Geschäftspapieren "und anderen Urkunden zur Einsicht und Prüfung verlangen". Diese Vorschrift, die in allen der Sachaufklärung dienenden Verfahren gilt, gibt der Behörde das Recht, nach ihrem Ermessen zusätzlich zu Fotokopien auch Urkunden im Original anzufordern. Im allgemeinen sind -- im Rahmen des Zumutbaren und Erforderlichen -- Urkunden im Original vorzulegen. Denn nur die Originalurkunde hat den vollständigen Beweiswert (zutreffend Beschluß des Hessischen FG vom 16. September 1982 X 74/82, Entscheidungen der Finanzgerichte 1983, 217; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, § 97 AO 1977 Tz. 2; Söhn in Hübschmann/Hepp-Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 97 AO 1977 Rdnr. 15). Die Behörde muß eine angebotene Kopie akzeptieren, wenn für die Erbringung des Beweises unerheblich ist, ob das Original oder eine Fotokopie vorgelegt wird (Söhn, a.a.O.).

Für die Ausübung des Ermessens ist von Bedeutung, daß speziell die Bescheinigung nach § 17 Abs. 7 BerlinFG von der hierfür zuständigen Stelle bestimmungs gemäß zur Vorlage beim Finanzamt ausgestellt wird und vom Steuerpflichtigen für andere Zwecke nicht verwendet werden kann. Ferner kann die Behörde in Erwägung ziehen, daß es bei der Ermäßigung nach §§ 16, 17 BerlinFG im Regelfall um betragsmäßig nicht unerhebliche Steuervergünstigungen geht. Deswegen ist generell der Fotokopie die strafrechtliche Urkundenqualität abgesprochen worden, weil ihr die -- einer Urkunde grundsätzlich eigene -- Garantiefunktion für die Richtigkeit des Inhalts nicht schlechthin zuerkannt werden kann (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 11. Mai 1971 1 StR 387/70, BGHSt 24, 140; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 14. Aufl. 1991, § 267 Rdnr. 42). Die Rechtsprechung verlangt zum Nachweis einer Prozeßvollmacht die Vorlage einer Vollmacht im Original aufgrund der Erwägung, daß hier der Nachweis eines tatsächlichen Geschehens mittels Schriftstücken verlangt werde, die ihrer Funktion, Beweis zu erbringen, auch gerecht werden können (BFH-Beschluß vom 30. Juli 1991 VIII B 88/89, BFHE 165, 22 , BStBl II 1991, 848; BGH-Urteil vom 23. Juni 1994 I ZR 106/92, Betriebs- Berater 1994, 1525).

Es ist nicht ersichtlich, daß das FA mit der Anforderung der Original-Bescheinigung die gesetzlichen Grenzen des ihm zustehenden Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hätte (§ 102 FGO). Selbst wenn solches anzunehmen wäre, könnte, wie dargelegt, nur ein besonders schwerer Fehler zur Nichtigkeit führen. Ein solcher ist hier nicht erkennbar.

2.

Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist und sich seine Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 126 Abs. 4 FGO), war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die spruchreife Klage ist abzuweisen.

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