BFH V R 5/91

BFHV R 5/9118.5.1993

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH in Liquidation, ist seit dem 12. Oktober 1989 Gesamtrechtsnachfolgerin der X-KG.

Die KG lieferte im Jahr 1979 der Z-GmbH Waren mit Bestimmungsorten in Holland. Da sie diese Lieferungen als umsatzsteuerfrei ansah, stellte sie der GmbH Umsatzsteuer nicht in Rechnung.

Aufgrund der im Rahmen einer Umsatzsteuersonderprüfung erteilten Hinweise stellte die KG der GmbH mit Schreiben vom 14. Mai 1982 für die bezeichneten Lieferungen nachträglich Umsatzsteuer in Höhe von ... DM in Rechnung. Die GmbH erkannte die geltend gemachte Forderung nicht an und zahlte nicht die nachgeforderte Umsatzsteuer, erhielt aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Vorsteuerabzug aus der Abrechnung vom 14. Mai 1982. Mit Schreiben vom 15. Februar 1985 an die GmbH hob die KG die Umsatzsteuernachbelastung auf.

Das Finanzamt unterwarf die bezeichneten Lieferungen in dem gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Umsatzsteuerbescheid für 1979 vom 30. November 1983 der Besteuerung.

Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolgslosem Einspruch erhobenen Klage auf Herabsetzung der Umsatzsteuer für 1979 statt. Zur Begründung führte es in dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1991, 423 abgedruckten Urteil aus: Die Beteiligten seien sich einig, daß die streitbefangenen Lieferungen aufgrund einer unmittelbaren Geltung der Sechsten Richtlinie des Rates (77/388/EWG) zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage - vom 17. Mai 1977 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1977 Nr. L 145, S. 1, im folgenden: 6. EG-Richtlinie) steuerfrei seien. Eine Umsatzsteuerschuld aus § 14 Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1973/1980 auf der Grundlage der Nachberechnung von Umsatzsteuer vom 14. Mai 1982 sei erst im Zeitpunkt der Begebung dieser Abrechnung entstanden.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung von § 14 Abs. 2, § 13 Abs. 1 Nr. 3 UStG 1980. Aufgrund der Nachberechnung vom 14. Mai 1982 werde - so bringt es vor - Umsatzsteuer für das Jahr 1979 gemäß diesen Vorschriften geschuldet. Zudem könne sich die Klägerin auf Umsatzsteuerfreiheit nach der 6. EG-Richtlinie wegen des nachträglichen offenen Ausweises von Umsatzsteuer nicht berufen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Die Klägerin kann sich gegenüber dem im Jahr 1979 geltenden deutschen Umsatzsteuerrecht auf die für sie günstigere Regelung in Art. 15 der 6. EG-Richtlinie berufen. Der gesonderte Ausweis von Umsatzsteuer im Schreiben vom 14. Mai 1982 führt nicht zur rückwirkenden Entstehung von Umsatzsteuer im Jahr 1979.

1.

Die Lieferungen sind nicht steuerfrei gemäß § 4 Nr. 1 i.V.m. § 6 UStG 1973.

Nach diesen Vorschriften liegt eine steuerfreie Ausfuhrlieferung nur vor, wenn u.a. der Unternehmer die Lieferung an einen ausländischen Abnehmer i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 1 dieses Gesetzes bewirkt hat.

Da die GmbH als Abnehmer die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG 1973 nicht erfüllt, ist eine steuerfreie Ausfuhrlieferung nach dem UStG 1973 nicht gegeben.

2.

Abweichend hiervon setzt die Umsatzsteuerfreiheit von Ausfuhrumsätzen gemäß Art. 15 der 6. EG-Richtlinie nicht die Lieferung an einen ausländischen Abnehmer voraus.

a)

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) kann sich ein Unternehmer unter bestimmten Voraussetzungen bereits für das Jahr 1979 gegenüber dem deutschen Umsatzsteuerrecht auf die für ihn günstigeren Bestimmungen der 6. EG-Richtlinie berufen; denn die Bundesrepublik Deutschland ist ihrer Verpflichtung, spätestens vom 1. Januar 1979 an das UStG an diese Richtlinie anzupassen, nicht nachgekommen (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 14. Juli 1988 Rs. 207/87, EuGHE 1988, 4433, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1989, 118).

Nach dieser Entscheidung kann sich ein Kreditvermittler für seine zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 1978 und ab 1. Januar 1979 ausgeführten Umsätze auf die Bestimmung über die Steuerfreiheit gemäß Art. 13 Teil B Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie berufen, wenn er die Steuer nicht in der Weise auf seinen Leistungsempfänger abgewälzt hat, daß dieser zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Durch die eben angeführte Einschränkung des Berufungsrechts soll ausgeschlossen werden, daß die nachträgliche Geltendmachung der in der Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung durch einen Wirtschaftsteilnehmer zur Benachteiligung für andere Wirtschaftsteilnehmer führt, die die betreffenden, als Vorsteuer gezahlten Umsatzsteuerbeträge bereits abgezogen haben. Eine solche Folge kann, wie der EuGH weiter ausführte, nur eintreten, wenn der Wirtschaftsteilnehmer, der die Steuerbefreiung geltend macht, die Steuer unter Einhaltung der in der Richtlinie vorgeschriebenen Förmlichkeiten auf den Leistungsempfänger abgewälzt hat und wenn dieser selbst mehrwertsteuerpflichtig ist.

b)

Dieses Berufungsrecht nach der EuGH-Rechtsprechung gilt auch für Fälle der gemäß Art. 15 der 6. EG-Richtlinie steuerfreien Ausfuhrumsätze; denn das Gemeinschaftsrecht hat insoweit Vorrang vor dem nationalen deutschen Recht (Art. 24 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -; vgl. dazu Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 8. April 1987 2 BvR 687/85, UR 1987, 355). Gründe, die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 13 Teil B Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie nicht auch im Streitfall heranzuziehen, bestehen nicht.

Die Berufung der Klägerin auf Art. 15 der 6. EG-Richtlinie wird nicht durch die nachträgliche Inrechnungstellung von Umsatzsteuer ausgeschlossen. Eine Abwälzung der Steuer auf die GmbH im Sinne der bezeichneten Rechtsprechung des EuGH liegt nicht vor; denn die GmbH hat den nachgeforderten Betrag der Klägerin nicht bezahlt. Die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs aus der Abrechnung vom 14. Mai 1982 ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Die Interessen des Fiskus werden durch die Entstehung von Umsatzsteuer im Jahr 1982 aufgrund dieser Abrechnung gewahrt (vgl. dazu unten 3.).

3.

Die aufgrund der Inrechnungstellung von Umsatzsteuer mit Schreiben vom 14. Mai 1982 gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 UStG 1980 geschuldete Umsatzsteuer ist nicht im Jahr 1979, sondern erst im Jahr 1982 entstanden.

Nach der zitierten Vorschrift schuldet der Unternehmer, der in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag gesondert ausgewiesen hat, als er nach dem UStG für den Umsatz schuldet, auch den Mehrbetrag.

Wie bereits § 14 Abs. 2 Satz 1 UStG 1973 umfaßt diese Vorschrift (und nicht § 14 Abs. 3 UStG 1980) die Fälle, in denen ein Unternehmer in einer Rechnung Umsatzsteuer für steuerfreie Umsätze gesondert ausgewiesen hat (Senatsurteil vom 29. Oktober 1992 V R 48/90, BFHE 169, 559, BStBl II 1993, 251).

Gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 3 UStG 1980 entsteht im Fall des § 14 Abs. 2 UStG 1980 die Steuer in dem Zeitpunkt, in dem die Steuer für die Lieferung oder sonstige Leistung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a oder Buchst. b Satz 1 UStG 1980 entsteht. Das UStG 1973 regelte demgegenüber nicht das Entstehen der aufgrund § 14 Abs. 2 UStG 1973 geschuldeten Steuer. Ab Inkrafttreten der AO 1977 war deren § 38 für das Entstehen des Anspruches aus § 14 Abs. 2 UStG 1973 maßgeblich. Nach § 38 AO 1977 entstehen die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Tatbestand im Fall des § 14 Abs. 2 UStG 1973 ist die Begebung der Rechnung mit gesondertem Steuerausweis. Eine sich auf Besteuerungszeiträume vor dem Jahr 1980 erstreckende Rückwirkung nimmt die Vorschrift des § 13 Abs. 1 Nr. 3 UStG 1980 nicht für sich in Anspruch. Im übrigen wäre eine solche Rückwirkung mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes kaum vereinbar.

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