Normen
§ 33 Abs. 1 EStG
§ 33 Abs. 2 S. 1 EStG
§ 12 Nr. 1 EStG
§ 32a Abs. 1 EStG
Gründe
I.
Mit ihrer Einkommensteuererklärung für das Jahr 1998 machten die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) Aufwendungen für die Unterbringung ihres im Jahr 1982 geborenen Sohnes in einer sozialtherapeutischen Wohngruppe als außergewöhnliche Belastung geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte diese Aufwendungen nicht.
Im Einspruchsverfahren legten die Kläger eine "fachärztliche Kurzstellungnahme" der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Dr. L. vor. Auf der Rückseite des Schreibens hatte die Amtsärztin der Kreisverwaltung des Gesundheitsamtes W., Frau Dr. K., vermerkt: "Die umseitigen Angaben werden amtsärztlicherseits bestätigt." Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück, weil ein ordnungsgemäßes, vor der Behandlung ausgestelltes amtsärztliches Attest nicht vorgelegt worden sei.
Im Verfahren vor dem Finanzgericht (FG) legten die Kläger eine weitere fachärztliche Stellungnahme der Frau Dr. L. vor, zu der die Amtsärztin dem FG auf Anfrage mitteilte, sie könne nur unter Vorbehalt zur Krankheit im Jahre 1998 Stellung nehmen, da sie das Kind 2002 erstmals gesprochen habe. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die fachärztliche Stellungnahme von Frau Dr. L. zutreffe.
Das FG gab der Klage statt. Es sah die Zwangsläufigkeit der Behandlungsmaßnahme durch die nachträgliche amtsärztliche Bescheinigung als nachgewiesen an. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2003, 1244 veröffentlicht.
Mit seiner Revision beantragt das FA,
unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat zu Unrecht den Nachweis der krankheitsbedingten Unterbringung des Sohnes der Kläger in der sozialtherapeutischen Wohngruppe durch ein vor der Unterbringung erstelltes amtsärztliches Zeugnis als verzichtbar angesehen.
1.
Nach § 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen erwachsen nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen.
a)
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) entstehen Krankheitskosten --ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung-- dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig. Dabei sind alle Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung typisierend als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit dem Grunde und der Höhe nach bedarf. Zu berücksichtigen sind aber nur solche Kosten, die zum Zwecke der Heilung oder mit dem Ziel aufgewendet werden, die Krankheit erträglich zu machen. Auch Kosten der Unterbringung in einem Heim, die regelmäßig gemäߧ 12 Nr. 1 EStG zu den nicht abziehbaren Kosten der Lebenshaltung rechnen, können zu den Krankheitskosten gehören, wenn es sich um eine behinderungs- oder krankheitsbedingte Unterbringung handelt (vgl. Senatsurteil vom 23. Mai 2002 III R 24/01, BFHE 199, 296, BStBl II 2002, 567, m.w.N.). In diesen Fällen entstehen aufgrund der Erkrankung oder Behinderung zwangsläufig höhere Lebenshaltungskosten als im Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 EStG berücksichtigt oder mit dem Kindergeld/Kinderfreibetrag abgegolten sind.
b)
Da die medizinische Erforderlichkeit von Maßnahmen, die ihrer Art nach nicht eindeutig nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen können, schwer zu beurteilen ist, verlangt der BFH seit der Entscheidung vom 14. Februar 1980 VI R 218/77 (BFHE 130, 54, BStBl II 1980, 295) grundsätzlich ein vor der Behandlung ausgestelltes amts- oder vertrauensärztliches Gutachten, aus dem sich die Krankheit und die medizinische Notwendigkeit der den Aufwendungen zugrunde liegenden Behandlung zweifelsfrei ergibt (BFH-Urteil vom 1. Februar 2001 III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543, m.w.N.).
Unter bestimmten Voraussetzungen hat der Senat allerdings die Vorlage eines erst nachträglich ausgestellten amtsärztlichen Attestes als ausreichend angesehen. Dies betraf Fälle, in denen von dem Steuerpflichtigen nicht erwartet werden konnte, dass er die Notwendigkeit einer vorherigen amtsärztlichen Begutachtung erkennt, weil ein derartiges Erfordernis für bestimmte Aufwendungen erstmals höchstrichterlich aufgestellt worden war (Senatsurteil in BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543), der Senat erstmals strengere, besondere Anforderungen an den Nachweis der Zwangsläufigkeit gestellt hatte oder aufgrund der besonderen Verhältnisse in den neuen Bundesländern in einer Übergangsphase ein unverschuldeter Beweisnotstand zuzubilligen war (Senatsurteil vom 2. April 1998 III R 67/97, BFHE 186, 79, BStBl II 1998, 613, m.w.N.).
Daraus ist nicht zu schließen, ein nachträglich erstelltes Gutachten reiche immer dann aus, wenn der BFH zu einer bestimmten Behandlungsmethode noch nicht Stellung genommen habe. Vielmehr gilt das Erfordernis einer vorherigen Begutachtung stets, wenn der Steuerpflichtige deren Notwendigkeit erkennen konnte; es kann nur dann davon abgesehen werden, wenn er dazu nicht in der Lage war (Senatsbeschluss vom 20. November 2003 III B 44/03, BFH/NV 2004, 335).
c)
Im Urteil in BFHE 199, 296, BStBl II 2002, 567 hat der Senat ein amtsärztliches Attest bei Unterbringung eines seit seiner Geburt körperlich und mental Behinderten in einer betreuten Wohngruppe, die der vollstationären Unterbringung volljähriger Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen diente und ein Heim i.S. des § 1 des Heimgesetzes war, wegen der besonderen Umstände ausnahmsweise als entbehrlich angesehen. In diesem Falle hielt er es durch den Schwerbehindertenausweis, die ärztliche Bescheinigung, den Folgebericht des Heimträgers und vor allem durch die teilweise Übernahme der Unterbringungskosten als Eingliederungshilfe gemäߧ 39 des Bundessozialhilfegesetzes für hinreichend nachgewiesen, dass der Behinderte aufgrund seiner Behinderung im Heim wohnte.
2.
Entgegen der Auffassung des FG reicht das nachträglich erstellte amtsärztliche Attest nicht als Nachweis dafür aus, dass die Unterbringung des Sohnes der Kläger in der sozialtherapeutischen Wohngruppe aus medizinischen Gründen erforderlich war.
Der Senat hält an der Notwendigkeit einer amtsärztlichen Begutachtung vor Beginn der therapeutischen Maßnahme auch im Streitfall fest. Denn die Unterbringung in einer betreuten Wohngruppe kann verschiedene Ursachen haben. Sie muss nicht in jedem Fall auf einer Krankheit i.S. der zu § 33 EStG ergangenen Rechtsprechung des Senats beruhen. Ob es sich im Einzelfall um eine pädagogisch oder weltanschaulich veranlasste oder um eine krankheitsbedingte Unterbringung handelt, muss vor der Unterbringung festgestellt sein. Nur so kann beurteilt werden, ob die anfallenden Kosten noch zu den der Lebensführung zuzurechnenden Aufwendungen für die Erziehung und Fortbildung des Kindes gehören oder zur Behandlung einer Krankheit objektiv und subjektiv für den Steuerpflichtigen unausweichlich und unvermeidbar und damit als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen sind.
Es ist deshalb gerechtfertigt, den Beteiligten im Rahmen ihrer Pflicht zur Mitwirkung bei der Erforschung des Sachverhalts durch das Gericht gemäߧ 76 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 FGO aufzuerlegen, vor Entstehung der Unterbringungsaufwendungen die von der Rechtsprechung geforderten Nachweise über die Erkrankung und die medizinische Notwendigkeit dieser Maßnahme zu beschaffen (Senatsurteil vom 8. Juli 1994 III R 48/93, BFH/NV 1995, 24, m.w.N.).
Im Streitfall besteht auch keine Veranlassung, das nachträglich erstellte Attest ausnahmsweise zu berücksichtigen oder ganz auf ein amtsärztliches Zeugnis zu verzichten. Denn im Jahr 1998 war die vorherige Einholung eines Attests gerade im Hinblick auf therapeutische Maßnahmen, die mit der Erziehung und Fortbildung der Kinder zusammenhängen, generell notwendig (ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteile vom 10. Oktober 1996 III R 118/95, BFH/NV 1997, 337, zu den Kosten für eine logopädische Therapie, und vom 26. Juni 1992 III R 83/91, BFHE 169, 43, BStBl II 1993, 212, zu den Kosten für den Besuch eines Internats auf einer Insel wegen Asthmas).
Der Sachverhalt ist auch nicht mit dem vergleichbar, der der Entscheidung in BFHE 199, 296, BStBl II 2002, 567 zugrunde lag. Weder ist die Verhaltensauffälligkeit des Sohnes der Kläger zweifelsfrei einem Krankheitsbild zuzuordnen und damit "augenfällig" noch lagen dem FG sonstige Unterlagen vor, aus denen sich einerseits die Krankheit des Kindes, andererseits die medizinische Notwendigkeit der Unterbringung eindeutig und aus vergleichbar fachkompetenter und neutraler Quelle wie ein amtsärztliches Attest ergab.
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