Normen
§ 75 AO
Tatbestand:
I.
Der Ehemann (E) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erwarb 1988 als Gesamtgutsverwalter zum Gesamtgut der ehelichen Gütergemeinschaft ein zur Zeit des Verkaufs unter Zwangsverwaltung stehendes Grundstück mit einem an T vermieteten Supermarkt. Der Kaufpreis betrug nach zwei Erhöhungen 2,33 Mio. DM zuzüglich 326 000 DM Umsatzsteuer. Bei Besitzübergang traten E und die Klägerin mit Zustimmung des Zwangsverwalters in die Verpflichtungen aus dem Mietvertrag mit T ein. Da der Verkäufer die gegen ihn unter Berücksichtigung der Mieteinnahmen und des Grundstücksverkaufspreises festgesetzte Umsatzsteuer (1988) in Höhe von 344 470 DM nicht vollständig entrichtete, nahm das beklagte und revisionsbeklagte Finanzamt gemäß § 75 der Abgabenordnung (AO 1977) neben E die Klägerin als Erwerberin für den Restbetrag von 319 392, 74 DM in Haftung.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit der in seinem gegen E als Haftungsschuldner ergangenen Urteil (vom 13. November 1990 II 211/89, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1991, 710) enthaltenen Begründung ab. Dabei ging es davon aus, daß - auch - die Klägerin das Grundstück unmittelbar oder durch E als Gesamtgutsverwalter gemäß § 1416 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) erworben habe. Den gegen das Urteil in EFG 1991, 710 im Schrifttum (Brune, Deutsche Steuer-Zeitung - DStZ - 1992, 135) erhobenen Bedenken sei nicht zu folgen.
Die Revision der Klägerin rügt im wesentlichen, das FG habe den Unternehmensbegriff in § 75 Abs. 1 AO 1977 unzulässig weit ausgelegt. Wenn schon umstritten sei, ob der Unternehmensbegriff auch eine freiberufliche Tätigkeit erfasse, so könne der Kauf eines vermieteten Grundstücks im Rahmen privater Vermögensanlage in keinem Falle als Erwerb eines Unternehmens angesehen werden. § 75 Abs. 1 AO 1977 begründe keine Haftung für den Übergang einer bloßen Vermögenssubstanz. Die rein private Vermögensanlage sei auch kein Unternehmen i. S. von § 2 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG). Ein solches liege noch nicht in der bloßen Vermögensnutzung durch Vermietung oder Verpachtung, wenn eine entsprechende Organisation fehle. Wäre auf den Mehrwertsteuerausweis verzichtet worden, so hätte eine Berichtigung gemäß § 15 a UStG erfolgen müssen. In diesem Falle wäre eine volle Erwerberhaftung nicht in Betracht gekommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das FG hat die Haftung der Klägerin rechtsfehlerfrei bestätigt. Aufgrund der getroffenen Feststellungen, die den Senat binden (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), ist davon auszugehen, daß die Haftungsvoraussetzungen nach § 75 Abs. 1 AO 1977 vorliegen.
1. Die Klägerin hat das Grundstück, wie für die Anwendung von § 75 Abs. 1 AO 1977 erforderlich (vgl. zu der insoweit gleichlautenden früheren Haftungsvorschrift in § 116 der Reichsabgabenordnung - AO - Senat, Urteil vom 6. August 1985 VII R 189/82, BFHE 144, 204, 206, BStBl II 1985, 651), unmittelbar von dem früheren Eigentümer erworben. Dies ergibt sich daraus, daß das Grundstück durch E "zum Gesamtgut", damit auch für die Klägerin, erworben worden ist (§ 1416 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BGB; hierzu Bundesgerichtshof, Beschluß vom 10. Dezember 1981 V ZB 12/81, BGHZ 82, 346, 353 ; zur früheren Errungenschaftsgemeinschaft Reichsgericht, Beschluß vom 24. Januar 1914 V 1/14, RGZ 84, 326). Die Frage, ob ein Durchgangserwerb bei E anzunehmen wäre (zum Streitstand BGHZ 82, 346, 348) , hätte sich nur gestellt, wenn E für sich allein gehandelt hätte. Selbst bei Annahme eines Durchgangserwerbs ("für eine logische Sekunde") beständen aber gegen die Unmittelbarkeit der Übereignung keine Bedenken.
2. Wie sich aus den Feststellungen des FG ergibt, diente das übereignete Grundstück dem früheren Eigentümer zur (umsatzsteuerpflichtigen) Vermietung. Die - hier umsatzsteuerpflichtig erfolgte - Vermietung des Grundstücks stellt sich, wie auch die Klägerin in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, als unternehmerische Tätigkeit, "Unternehmen" i. S. von § 2 Abs. 1 UStG dar (auch arg. § 9 i. V. m. § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG; vgl. im übrigen Bundesfinanzhof - BFH -, Urteil vom 14. Mai 1970 V R 117/66, BFHE 99, 425 f., BStBl II 1970, 676 - Verpachtung; Plückebaum/Malitzky, Umsatzsteuergesetz, 10. Aufl., § 9 Rz. 11). Unerheblich ist, ob die Einkünfte des Vermieters einkommensteuerlich als Gewinn aus Gewerbebetrieb oder als Einkünfte aus Vermietung/Verpachtung zu werten sind. Besondere Einrichtungen muß ein Unternehmen im umsatzsteuerlichen Sinne nicht aufweisen (vgl. BFH, Urteil vom 21. Mai 1987 V R 109/77, BFHE 150, 368, 372, BStBl II 1987, 735).
3. Die Übereignung eines Unternehmens im ganzen - § 75 Abs. 1 AO 1977 - besteht in dem Übergang des gesamten lebenden Unternehmens, d. h. der durch das Unternehmen repräsentierten organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen, die dem Unternehmen dienen oder zumindest seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so daß der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann (ständige Rechtsprechung; z. B. Senat, Urteile vom 27. Mai 1986 VII R 183/83, BFHE 146, 505, BStBl II 1986, 654, und vom 19. Januar 1988 VII R 74/85, BFH/NV 1988, 479). Der Haftungstatbestand orientiert sich an dem Unternehmensbegriff in § 2 Abs. 1 UStG (BFHE 99, 425 f. zur Vorgängervorschrift - § 116 AO - unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien; ebenso von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 9. Aufl., § 75 Anm. 5 a; Tipke/Kruse, AO/FGO, 14. Aufl., § 75 Tz. 2; Mösbauer, Betriebs-Berater 1990/Beilage 3, S. 3; Goutier, Die Haftung im Steuerrecht, 1. Aufl., 1978, S. 68; Rader in Gröger/Schöll, AO, § 75 Anm. 3). Auch die historische Entwicklung (vgl. Brune, DStZ 1992, 135, 137) belegt eine begriffliche Verbundenheit des Unternehmens als "Steuergegenstand" i. S. des UStG und des "Sicherungsgegenstandes" i. S. von § 75 AO 1977.
Allerdings wird im Schrifttum auch die Auffassung vertreten, daß der Unternehmensbegriff i. S. von § 75 Abs. 1 AO 1977 enger sei oder enger sein könne als der entsprechende umsatzsteuerliche Begriff. So wird bezweifelt, daß beruflich selbständig ausgeübte, im wesentlichen auf persönliche Fähigkeiten und Arbeitsleistung gestützte Tätigkeiten unter den haftungsrechtlichen Unternehmensbegriff fallen (Kühn/Kutter/Hofmann, AO/FGO, 16. Aufl., 1990, AO § 75 Bem. 2 a; vgl. auch Mösbauer, a. a. O.). Verschiedentlich wird, auch bei Vermögensnutzung durch Vermietung oder Verpachtung, für die Annahme eines Unternehmens im haftungsrechtlichen Sinne eine "entsprechende Organisation" gefordert (Commandeur, Betriebs-, Firmen- und Vermögensübernahme, 1990, S. 236; Halaczinsky in Koch, AO 1977, 3. Aufl., 1986, § 75 Rdziff. 3, 4 - betriebliche Organisation -; allgemein Schwarz, AO, 1976, § 75 Anm. 5; vgl. auch Brune, DStZ 1992, 135, 138) , wobei jedoch nicht deutlich wird, welche Anforderungen insoweit gelten sollen.
Der Streitfall erfordert keine abschließende begriffliche Klärung. Die hier vorliegende Übereignung eines steuerpflichtig (an den Betreiber eines Supermarkts) vermieteten Grundstücks unter mit Zustimmung des Zwangsverwalters vollzogenem Eintritt der Klägerin in den Mietvertrag ist jedenfalls als Erwerb eines Unternehmens i. S. von § 75 Abs. 1 AO 1977 anzusehen. Maßgebend ist insoweit, daß die Gegenstände auf die Klägerin übergegangen sind, die die wesentlichen Grundlagen der Vermietung waren, in die die Klägerin eingetreten ist, und daß diese Gegenstände geeignet sind, auch die wesentlichen Grundlagen für die Fortsetzung der Vermietung durch die Klägerin zu bilden (vgl. Senat, Urteil vom 9. Juli 1985 VII R 126/80, BFH/NV 1986, 65, 66).
Die hierin liegende Übereignung begründet die Haftung gemäß § 75 AO 1977. Im Streitfall ist auf Grund des Verzichts auf die Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG Umsatzsteuer angefallen, für die der Erwerber haftet. Dieses Ergebnis ist die zwangsläufige Folge der hier erklärten Besteuerungsoption (§ 9 UStG). Daß die Steuer ohne Besteuerungsoption nicht entstanden wäre, ist auch im Hinblick auf den Umfang der Haftung, ohne Bedeutung; maßgebend ist die hier gewählte Gestaltung.
Von der Auffassung, daß die gewerbliche Vermietung eines Grundstücks als "Unternehmen" in Betracht kommt, war der Senat bereits - wenn auch ohne Erörterung und ohne Auswirkung auf das Ergebnis - in seinem Urteil vom 13. Januar 1987 VII R 47/85 (BFH/NV 1988, 1) ausgegangen, mit dem er die Vorentscheidung (FG Bremen, Urteil vom 25. Januar 1985 II K 180/83 K, EFG 1985, 426) bestätigt hatte, zwar darin, daß aus fallbezogenen Gründen keine Übereignung im ganzen vorliege, indessen unter stillschweigender Billigung des rechtlichen Ausgangspunkts der Vorinstanz - Annahme eines (Vermietungs-)"Unternehmens" -. An dieser Auffassung ist auch unter Berücksichtigung der Stimmen festzuhalten, die für eine Eingrenzung des haftungsrechtlichen Unternehmensbegriffs eintreten. Erforderlich, aber auch ausreichend ist für die Haftung der Übergang einer "organischen Zusammenfassung von Einrichtungen ..." (nur dies besagt auch das von Schwarz, a. a. O., offenbar anders verstandene BFH-Urteil vom 28. November 1973 I R 129/71, BFHE 111, 17, 20, BStBl II 1974, 145). Was als solche anzusehen ist, hängt von der Eigenart des Geschäfts ab und läßt sich nicht - allgemein - für alle Fälle bestimmen (vgl. in diesem Zusammenhang auch Senat, Urteil vom 10. Dezember 1991 VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712, 714). Ebenso wie im Umsatzsteuerrecht (vorstehend Nr. 2) gilt auch hier, daß besondere Einrichtungen, die eine betriebliche Organisation im Sinne der Verkehrsauffassung kennzeichnen mögen, nicht zwingend vorauszusetzen sind.
Handelt es sich um die steuerpflichtige Vermietung oder Verpachtung eines Grundstücks, so können etwa die hierauf bezogenen Unterlagen und Belege (Vermietungs- und Steuerakten) genügen, sofern sich in deren Zusammenfassung die dem Vermietungs- oder Verpachtungsgeschäft gewidmeten Einrichtungen und Maßnahmen erschöpfen. Auch in diesen Fällen liegt der Übergang eines Unternehmens vor (auch eines "Betriebs" als notwendiger kleinerer Einheit; vgl. Halaczinsky, a. a. O.), nicht nur der einer bloßen Vermögenssubstanz.
Auf die mit dem Erwerb verfolgte Absicht kommt es nicht an (BFHE 111, 17, 20). Zweck der Haftungsvorschrift ist es, die in dem Unternehmen als solchem liegende Sicherung für die sich auf seinen Betrieb gründenden Steuerschulden durch den Übergang des Unternehmens nicht verlorengehen zu lassen (z. B. Senat, Urteil in BFH/NV 1986, 65, 67).
Ob eine "Warnfunktion" des Haftungstatbestands, wie sie Brune (a. a. O.) annimmt - vgl. das von ihm gebildete Beispiel des Erwerbs einer Eigentumswohnung, deren gewerbliche Zwischenvermietung dem Erwerber unbekannt ist -, in Sonderfällen zu einer einschränkenden Auslegung führen kann, braucht nicht entschieden zu werden. Im Streitfall war, wie sich aus den Feststellungen der Vorinstanz (Zahlung der Umsatzsteuer an den Veräußerer) ergibt, der Klägerin die steuerpflichtige Vermietung an T bekannt. Wie schon das FG ausgeführt hat, hätte die Klägerin zu ihrem Schutz einen Sicherheitseinbehalt in Höhe der Umsatzsteuer vereinbaren können.
4. Auch die übrigen Voraussetzungen der Haftung, die sich auf die Umsatzsteuer erstreckt, welche durch den mit der Unternehmensveräußerung bewirkten Umsatz entstanden ist (BFH, Beschluß vom 28. Januar 1982 V S 13/81, BFHE 135, 394, BStBl II 1982, 490), hat das FG rechtsfehlerfrei bejaht ...