Normen
§ 163 AO 1977
Tatbestand:
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war gemeinsam mit seiner Ehefrau Eigentümer eines bebauten Grundstücks, aus dem er Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielte. Wegen einer Wertminderung dieses Grundstücks durch einen in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Flughafen führten die Eheleute einen Zivilprozeß gegen die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik). Das in diesem Prozeß ergangene Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) ... vom ... 1981 sprach ihnen eine Entschädigung wegen eines enteignenden Eingriffs in ihr Eigentum und eines damit verbundenen endgültigen Wertverlustes nebst Zinsen vom 28. Juni 1973 bis 8./9. Dezember 1980 zu. Die Zinsen auf die Entschädigung betrugen 47 316 DM und wurden in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1981 bei den Einkünften aus Kapitalvermögen angegeben.
Noch während des Veranlagungsverfahrens stellte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. September 1981 VIII R 39/79 (BFHE 134, 281, BStBl II 1982, 113) folgenden Antrag:
"Ich bitte um Teilerlaß der Einkommensteuer 1981 in der Weise, daß im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung 1981 § 34 EStG bzw. ein Zwischensteuersatz angewendet wird (Antrag gemäß § 227 Abs. 1 Satz 1 AO)".
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) folgte diesem Antrag nicht und setzte die Einkommensteuer 1981 ohne Berücksichtigung von Billigkeitsgesichtspunkten in Höhe von 34 860 DM fest. In der Anlage zum Steuerbescheid erläuterte das FA die Ablehnung des Antrags wie folgt:
"Nachdem im anhängigen Gerichtsverfahren der Berufungsverhandlung der Anspruch auf eine Nutzungsausfallentschädigung vom Kläger aufgegeben wurde und die Entschädigung nur für den Wertverlust des Gebäudes zugesprochen wurde, kann § 34 EStG leider keine Anwendung finden. Die Zinsen sind in voller Höhe im Jahr des Zuflusses zu versteuern. Auf das BFH-Urteil vom 20. Mai 1980 (BStBl II 1981, 6) wird in diesem Zusammenhang hingewiesen. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse rechtfertigen keinen Erlaß aus Billigkeitsgründen nach § 227 der Abgabenordnung ...".
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger rechtzeitig Einspruch eingelegt. Zur Begründung nahm er im wesentlichen Bezug auf seinen im Veranlagungsverfahren gestellten Antrag. Das FA teilte ihm daraufhin folgendes mit:
"Gegen die Festsetzung der Besteuerungsgrundlagen, u. a. Anwendung des § 34 EStG, ist der Einspruch (§ 348 AO) und gegen die im Rahmen des § 163 AO abgelehnte Billigkeitsmaßnahme die Beschwerde (§ 349 i. V. m. § 348 AO) gegeben ... Das Amt bittet Sie deshalb, in anhängiger Sache eindeutig zu erklären, ob Ihr Schriftsatz vom 11. April 1983 als Einspruch oder als Beschwerde behandelt werden soll.
Da nach Sach- und Rechtslage aus den in der Anlage zum Einkommensteuerbescheid aufgeführten Gründen weder ein Einspruch noch eine Beschwerde Aussicht auf Erfolg verspricht, kann Ihrem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ... leider nicht entsprochen werden."
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers erklärte hierauf, daß der Rechtsbehelf als Beschwerde behandelt werden solle.
Die Beschwerde blieb erfolglos. Dagegen hatte die Klage, mit der der Kläger hinsichtlich der Kapitaleinkünfte die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) im Wege einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) beantragte, Erfolg.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen und formellen Rechts.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen und das FA zu verpflichten, die aus der Enteignungsentschädigung bezogenen Zinsen im Billigkeitsweg (§ 163 AO 1977) nach dem ermäßigten Steuersatz des § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 EStG zu besteuern.
Entscheidungsgründe
1. Der Kläger hat im finanzgerichtlichen Verfahren einen Verpflichtungsantrag gestellt. Das Finanzgericht (FG) hat jedoch nur ein Bescheidungsurteil nach § 101 Satz 2 FGO erlassen. Im Revisionsverfahren beantragt der Kläger nicht nur die Zurückweisung der Revision, sondern wiederholt auch seinen Verpflichtungsantrag. Er will also mehr als nur den in der Vorinstanz erzielten Teilerfolg erreichen.
Der Kläger hat weder ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er eine - unselbständige - Anschlußrevision einlegen wolle, noch ist seine Revisionserwiderung innerhalb der Frist von einem Monat nach Zustellung der Revisionsbegründung beim BFH eingegangen. Der Kläger kann also mangels zulässiger Anschlußrevision (zur Frist vgl. § 556 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO - und BFH-Urteil vom 8. April 1981 II R 4/78, BFHE 133, 155, BStBl II 1981, 534) mit seinem weitergehenden Antrag keinen Erfolg haben.
2. Der Kläger erstrebt eine niedrigere Festsetzung der Einkommensteuer aus sachlichen Billigkeitsgründen (§ 163 AO 1977). Sachliche Billigkeitsgründe sind gegeben, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist, wenn also ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 25. November 1980 VII R 17/78, BFHE 132, 159, BStBl II 1981, 204; vom 8. März 1984 I R 44/80, BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415, m. w. N.; vom 12. Januar 1989 IV R 67/87, BFHE 155, 484, BStBl II 1990, 259). Sie sind aber vor allem gegeben, wenn der Steuerbescheid auf einem offensichtlichen und eindeutigen, anderweitig nicht behebbaren Irrtum des FA über die bereits aus dem Gesetz ersichtlichen Wertungen des Gesetzgebers beruht (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 3. März 1970 II 135/64, BFHE 99, 8, BStBl II 1970, 503, m. w. N.; vom 10. Juni 1975 VIII R 50/72, BFHE 116, 103, BStBl II 1975, 789; vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611; vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612; vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512, und vom 14. April 1989 III B 5/89, BFHE 156, 376, BStBl II 1990, 351). In diesem Fall ist das Ermessen der Finanzbehörden auf eine mögliche Entscheidung eingeschränkt (Ermessensreduzierung auf Null, vgl. zu dieser zuletzt BFH-Urteil vom 26. Februar 1991 IX R 95/88, BFHE 163, 562, BStBl II 1991, 572, m. w. N.).
Die Korrektur einer offensichtlich fehlerhaften Steuerfestsetzung im Billigkeitsverfahren ist aus verfahrensrechtlichen Gründen unzulässig,
- wenn sie noch im Rahmen einer offenen oder änderbaren Steuerfestsetzung vorgenommen werden kann (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 227 AO 1977 Tz. 21 und 22, m. w. N.), oder
- wenn es dem Steuerpflichtigen möglich und zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zur Wehr zu setzen (vgl. die o. a. Rechtsprechung sowie BFH-Urteile vom 11. März 1988 III R 236/84, BFH/NV 1989, 432; vom 24. Oktober 1988 X B 54/88, BFH/NV 1989, 285; vom 14. Februar 1989 VII R 189/85, BFH/NV 1989, 551; vom 18. April 1989 VIII R 319/84, BFH/NV 1989, 756; vom 20. Februar 1990 IV B 94/89, BFH/NV 1991, 16).
3. Nach diesen Grundsätzen steht dem Kläger ein Erlaß anspruch des Inhalts zu, daß die ihm im Jahre 1981 zugeflossenen Zinsen aus der Enteignungsentschädigung nach dem ermäßigten Steuersatz des § 34 Abs. 1 EStG zu besteuern sind. Das ergibt sich unmittelbar aus § 34 Abs. 2 Nr. 3 EStG.
a) Die Steuerfestsetzung war danach unzutreffend.
aa) Die Zinszahlungen sind Einkünfte (aus Kapitalvermögen) i. S. des § 24 Nr. 3 EStG. Die Vorschrift stellt klar, daß zu den Einkünften auch "Zinsen ... auf Entschädigungen, die mit der Inanspruchnahme von Grundstücken für öffentliche Zwecke zusammenhängen" gehören. Das gilt für alle Zinsen, die aufgrund eines durch hoheitlichen Eingriff begründeten Anspruchs auf Enteignungsentschädigung gezahlt werden; sie gehören zu den Zinsen aus sonstigen Kapitalforderungen jeder Art (§ 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979; vgl. BFH-Urteil vom 12. September 1985 VIII R 306/81, BFHE 145, 320, BStBl II 1986, 252, m. w. N.). Denn sie werden als Ausgleich dafür bezahlt, daß die im Zeitpunkt des Enteignungsaktes an die Stelle des entzogenen Vermögenswerts tretende (Geld-)Entschädigung erst später ausgezahlt wird.
Um Zinsen aus einer Enteignungsentschädigung handelt es sich auch hier. Das Zivilurteil führt hierzu aus, daß sich der Zinsanspruch aus dem in dem unmittelbaren Fluglärm liegenden enteignenden Eingriff ergebe, der den - verzinslichen - Entschädigungsanspruch zur Folge habe.
bb) Der ermäßigte Steuersatz nach § 34 Abs. 1 EStG ist auf den gesamten, im Jahre 1981 zugeflossenen Zinsbetrag anzuwenden. Dem steht nicht entgegen, daß die Zinsen für mehr als drei Jahre nachgezahlt worden sind. Der ermäßigte Steuersatz ist auch zu gewähren, soweit der Vergütungszeitraum drei Jahre überschreitet (BFH-Urteile vom 14. März 1985 IV R 143/82, BFHE 143, 457, BStBl II 1985, 463, und in BFHE 145, 320, BStBl II 1986, 252, a. E.).
b) Die Steuerfestsetzung war auch offensichtlich unzutreffend. Sowohl § 34 Abs. 2 Nr. 3 EStG als auch § 24 Nr. 3 EStG wurden durch Art. 1 Ziff. 11 und Ziff. 13b des Steueränderungsgesetzes vom 14. Mai 1965 - StÄndG 1965 - (BStBl I 1965, 217) in das EStG eingefügt. Die Regelung sollte vor allem auch der Klarstellung dienen, daß von der öffentlichen Hand nachgezahlte Zinsen wie Entschädigungen für entgangene oder entgehende Einnahmen i. S. des § 24 Nr. 1a EStG behandelt werden und damit nach dem ermäßigten Steuersatz zu versteuern sind (vgl. BFH-Urteil vom 21. April 1966 VI 366/65, BFHE 85, 448, BStBl III 1966, 460, m. w. N.). Diese gesetzliche Regelung ist in der Folgezeit nicht in Frage gestellt und großzügig ausgelegt worden (vgl. z. B. BFHE 145, 320, BStBl II 1986, 252; G'rard in Lademann/Söffing/Brockhoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 24 Anm. 78; Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 10. Aufl., § 24 Anm. 9; Zimmermann in Frotscher, Einkommensteuergesetz, § 24 Anm. 153). Dafür spricht bereits der Wortlaut des § 24 Nr. 3 EStG, wonach es genügt, daß die Zinszahlungen mit der Inanspruchnahme von Grundstücken für öffentliche Zwecke zusammenhängen.
4. Der Korrektur der Steuerfestsetzung im Wege eines Erlasses aus Billigkeitsgründen stehen im Streitfall keine verfahrensrechtlichen Hindernisse entgegen.
a) Sie kann nicht mehr im Steuerfestsetzungsverfahren durchgeführt werden. Denn der Einkommensteuerbescheid ist bestandskräftig geworden.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat auf eine entsprechende Anfrage des FA hin erklärt, daß sein als Einspruch bezeichnetes Schreiben, mit dem er sich gegen die "Nichtanwendung des § 227 AO 1977" wandte, als Beschwerde zu behandeln sei.
Das Schreiben ist in dem Sinne auszulegen, daß der Kläger seinen neben der Beschwerde eingelegten Einspruch nicht mehr aufrechterhalten wollte - s. dazu unter b), aa) -.
b) Die Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides steht einer Billigkeitsmaßnahme im Streitfall nicht entgegen. Es liegen besondere Gründe vor, die es rechtfertigen, daß von dem gegebenen Rechtsbehelf des Einspruches kein Gebrauch mehr gemacht wurde (vgl. dazu näher BFH-Urteil in BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512).
aa) Der Kläger hat zunächst sowohl Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid eingelegt als auch Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf niedrigere Festsetzung der Einkommensteuer gemäß § 163 AO 1977 erhoben. Beantragt ein Steuerpflichtiger gleichzeitig mit seinem Einspruch, aus Billigkeitsgründen die Steuer abweichend vom gesetzlichen Besteuerungstatbestand festzusetzen, so liegt darin auch eine Beschwerde, die bei einer den Erlaßantrag ablehnenden Entscheidung des FA neben dem Einspruch erforderlich ist (zur sog. Zweigleisigkeit des Verfahrens vgl. z. B. BFH-Urteile vom 21. Dezember 1977 I R 247/74, BFHE 124, 199, BStBl II 1978, 305; vom 4. Februar 1987 I R 252/83, BFHE 149, 50, BStBl II 1987, 682; vom 13. April 1989 IV R 196/85, BFHE 156, 489, BStBl II 1989, 614, und vom 12. Januar 1989 IV R 87/87, BFHE 155, 487, BStBl II 1990, 261). Davon war bei der gebotenen Auslegung im Sinne eines erfolgversprechenden Rechtsbehelfs (vgl. etwa BFH-Urteil vom 11. September 1986 IV R 11/83, BFHE 147, 403, BStBl II 1987, 5), der äußeren Verbindung der Steuerfestsetzung mit der Ablehnung des Billigkeitsantrages in dem angefochtenen Bescheid (zur Zulässigkeit dieser Verbindung s. Tipke/Kruse, a. a. O., § 163 AO 1977 Tz. 7c) und der Möglichkeit, das Einspruchs- und das Beschwerdeverfahren nebeneinander zu führen (vgl. etwa BFH-Urteil vom 2. Februar 1966 II 55/62, BFHE 84, 483, BStBl III 1966, 175; Tipke/Kruse, a. a. O., § 227 AO 1977 Tz. 74, m. w. N.), auszugehen.
bb) Der Senat läßt offen, ob unter diesen Umständen die Anfrage des FA, welchen Rechtsbehelf der Kläger (alternativ) eingelegt habe, nicht irreführend mit der Folge war, daß dadurch bedingte Versäumnisse im Rechtsbehelfsverfahren dem Kläger nicht zur Last gelegt werden können (BFH-Urteil in BFHE 84, 483, BStBl III 1966, 175). Denn jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Festsetzung einer niedrigeren Steuer vor Bestandskraft des Steuerbescheides gestellt wurde, schließt diese die spätere Berücksichtigung der Billigkeitsmaßnahme im Rahmen der Steuerfestsetzung nach Bestandskraft des Steuerbescheides nicht aus. Der Steuerpflichtige kann sich darauf verlassen, daß ihm in einem solchen Fall bei Nichtfortführung des Einspruchsverfahrens kein Rechtsnachteil droht. Der die Billigkeitsmaßnahme aussprechende Verwaltungsakt ist ein Grundlagenbescheid i. S. von § 171 Abs. 10 AO 1977. Dementsprechend kann der betroffene Steuerbescheid gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geändert werden (BFH-Beschluß vom 4. Dezember 1987 V S 9/85, BFH/NV 1988, 466, BStBl II 1988, 702, unter II.2.a, bb, sowie Urteile in BFHE 163, 562, BStBl II 1991, 572; vom 13. September 1990 IV R 69/90, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz 1975, § 13a, Sondergew., Rechtsspruch 13, und vom 26. Februar 1991 IX R 267/87, nicht veröffentlicht; Tipke/Kruse, a. a. O., § 163 AO 1977 Tz. 7).
Anders als bei einem nach Bestandskraft eines Steuerbescheides beantragten (sachlichen) Erlaß aus Billigkeitsgründen sind deshalb bei einem vor Bestandskraft eines Steuerbescheides nach § 163 AO 1977 gestellten Antrag auf Festsetzung einer niedrigeren Steuer verfahrensrechtliche Beschränkungen der Korrektur offensichtlich fehlerhafter Steuerbescheide nicht zu beachten.